Kapitel 13

»Man hat mich missunterschätzt.«

George W. Bush

Bentonville, Arkansas, 6. November 2000

Opa Jah und ich waren mit Lieutenant Chompu im Northeastern Seaside Restaurant mit Blick auf das Schlachtschiff aus Beton verabredet. Arny wollte mit dem Pick-up zum Sport fahren und schmollte dermaßen, dass ich schließlich nachgab. Er wollte mir nicht mal erzählen, wieso er ihn so dringend brauchte, aber er hatte sich fein herausgeputzt: langärmliges Hemd, Jeans mit Bügelfalte, richtige Schuhe. Ich wollte einen Scherz machen, dass er wohl ein Date hatte, und er nahm die Farbe einer reifen Chilischote an.

Damit bekam ich ein neues Problem. Ich musste das Moped nehmen, hatte aber Opa Jah dabei, und der war von der alten Schule, wenn es um Sexismus ging. Nie im Leben würde er mich fahren lassen. Er versuchte sogar, mich zu zwingen, dass ich im Damensitz saß, weil es femininer war. Diese Auseinandersetzung gewann ich, aber auf dem Moped war Opa Jah die personifizierte Verkehrssicherheit. Wir brauchten eine halbe Stunde, um den Ersatzhelm in den Umzugskisten zu finden, bevor er einwilligte loszufahren. Er fuhr hundertprozentig nach Vorschrift, hyperkorrekt, mit Handzeichen und weitem Bogen beim Abbiegen, da aber alle anderen keine Ahnung hatten, dass es überhaupt Vorschriften gab, machten sie alles falsch, genau wie ihre Vorfahren es eh und je getan hatten. Das machte uns zu den gefährlichsten Leuten auf der Straße. Und Gott bewahre, dass man es vielleicht eilig haben könnte. Er praktizierte etwas, das er als »defensives Fahren« bezeichnete, was mit sich brachte, dass wir mehrmals von Kriegsveteranen auf Dreirädern überholt wurden.

Erst waren wir zum wat Feuang Fa gefahren, weil ich ihm den Tatort zeigen und ihn mit Abt Kem ins Gespräch bringen wollte. Wir brauchten so lange dorthin, dass ich spürte, wie ich alterte. Ich wünschte, ich hätte ein paar Stickereien mitgebracht, um mir die Fahrt zu vertreiben, doch stattdessen schrie ich die Details des Falles durch seinen dicken Helm. Nur die Fotos in der Kamera sparte ich aus. Ich fürchtete, wenn ich ihm davon erzählte, würde er sich moralisch verpflichtet fühlen, die Information an die Polizei weiterzureichen. Er war schwer zu durchschauen.

Am Tempel sollten wir enttäuscht werden. Dort fanden wir nur einen jungen Novizen vor, dessen Aufgabe es war, die Hunde zu füttern, und einen Mönch, der so alt aussah, als hätte man ihn bei Ausgrabungen gefunden. Er schien halb blind zu sein, starrte mit trüben, blassblauen Augen vor sich hin und massierte die eine zitternde Hand mit der anderen. Ich gesellte mich im Büro zu ihm. Opa Jah blieb lieber draußen. Es schien ihn nicht zu interessieren.

»Wir sind gekommen, um Abt Kem zu besuchen«, erklärte ich. Halbwegs erwartete ich schon, dass sein Innenleben ebenso verrostet war wie seine Hülle, doch die Stimme klang erstaunlich jung, und sein Verstand sprudelte nur so.

»Verschwunden, puff, spurlos«, sagte er. »Hab ihn nicht mehr gesehen, seit sie das Mädchen mitgenommen haben.«

»Das Mädchen?«

»Die Nonne. Weiß nicht mehr, wie sie hieß, aber wir hatten nur die eine.«

»Wer hat sie mitgenommen?«

»Diese barschen Polizisten aus Bangkok, der Große und sein dicklicher Gefährte.«

»Wurde sie offiziell verhaftet?«

»Ich schätze, die müssen wohl einen Haftbefehl gehabt haben. Nicht mal die Kripo aus Bangkok darf eine Nonne kidnappen, oder?«

»Glauben Sie, der Abt ist ihr gefolgt?«

»Wissen Sie, ich lese manchmal aus der Hand, aber ich kann nicht gerade behaupten, dass meine übersinnlichen Fähigkeiten besonders ausgeprägt wären. Ich weiß nur, dass sie weg ist und ich hier die Stellung halten soll. Kann nur hoffen, dass ich so lange durchhalte, bis er wiederkommt. Einen so großen Laden möchte man nicht ganz allein schmeißen.«

Ich bedankte mich bei dem alten Knaben und ging raus zu meinem Opa. Mich überraschte, dass noch beide Sandalen auf mich warteten, obwohl ich ein schwarzes Auge sah, das mich aus den Büschen beobachtete. Wir liefen über den betonierten Weg zum Tatort. Opa stand ein paar Sekunden etwas abseits und schüttelte den Kopf.

»Als wollte der Mörder gefasst werden«, sagte er.

»Völlig offen einzusehen.«

»Sieh es dir an. Oben am Hang. Unten eine befahrene Straße. Blühende Büsche am Ort der Tat. Gut vom Tempel aus zu sehen. Und du sagst, die Hunde haben ihn angegriffen?«

»Abt Kem meinte, das Gebell hätte ihn überhaupt erst aufgescheucht.«

»Also hätte in dem Moment jeder herübersehen können, als die Hunde loslegten.«

»Dann war es Zufall?«

»Das würde ich sagen. Aber wohin ist der Täter gerannt? Ein Mann mit einer Hundemeute im Nacken. Er wird kaum bergab ins offene Gelände gelaufen sein. Er müsste hier durch …«

Opa Jah schob sich durch die wuchernden Bougainvilleen, und mangels eines besseren Plans folgte ich ihm. Wir kamen auf der anderen Seite heraus, wo sich die Grenzpfosten des Tempels vor einem Wäldchen aneinanderreihten. Nach links reichten die Pfosten bis zur Straße. Nach rechts hin sah ich ein kleines grünes Dach.

»Irgendeine Ahnung, was das ist?«, fragte er.

»Ja.«

Er wartete.

»Würdest du es mir sagen?«

»Da wohnt die Nonne.«

»Na dann.«

Ich hatte die Möglichkeit angedeutet, dass die Nonne unter Verdacht stand, mir aber alle Mühe gegeben, es unwahrscheinlich klingen zu lassen. Der betonierte Weg schlängelte sich über den Hügel und näherte sich den Unterkünften von Süden her. Es war ein offener Weg. Doch wenn ich an den Grenzpfosten entlang direkt zur Hütte blickte, sah ich ein, dass sich vielleicht jemand in den Büschen versteckt haben mochte und über den ahnungslosen Abt hergefallen war. Da beschloss ich, ihm von den Fotos zu erzählen. Nicht, dass ich sie heruntergeladen hatte, nur dass Arny und ich sie uns angesehen hatten. Wir saßen im Schatten eines besonders hohen Buschs, und ich hoffte, meine Beschreibung des Verbrechens würde die Aufmerksamkeit von meiner süßen, verliebten Nonne ablenken.

»Glaubst du immer noch, dass sie es war?«, fragte ich.

»Nun, wäre ich einer von diesen modernen Hightech-Yuppie-Superpolizisten aus Bangkok, würde ich diese Informationen wahrscheinlich zusammenzählen und sagen: ›Ja, sie ist der gemeinsame Nenner‹«, meinte er. »Und ich würde aufhören zu suchen. Aber als alter, pensionierter Verkehrspolizist ohne Auszeichnung und Dienstorden würde ich wahrscheinlich Folgendes tun …«

Mit diesen Worten hielt er direkt auf den überwucherten Wald zu, der vor uns lag. Für sein Alter war er richtig fit. Ich kam kaum hinterher. Die Äste, die er beiseitestrich, peitschten mir ins Gesicht, und der Boden war voller Wurzeln und fieser Brennnesseln, die mir in die Knöchel stachen. Ich bezweifelte, dass seit den Dinosauriern irgendein Lebewesen diesen Dschungel betreten hatte. Doch etwa dreißig Meter hinter der Grenzlinie nahmen Opas Vorwärtsbewegung und die Vegetation ein abruptes Ende. Ich rempelte ihn von hinten an. Vor uns lag ein Waldweg, der durch das Unterholz schnitt. So etwas war hier unten nicht ungewöhnlich, denn die Einheimischen bauten landwirtschaftliche Erzeugnisse an, wo sie nur konnten, und schlugen Schneisen durch den Dschungel, um dorthin zu gelangen. Tiefe Spuren von Auto- und Motorradreifen hatten sich in den Boden gegraben. Opa Jah sah nach links und rechts, trat aber nicht auf den Weg hinaus.

»Gut«, sagte er. »Der Weg ist schmal. Müsste ich, egal, warum, hier mit einem Auto anhalten, würde ich bedenken, dass vielleicht einer der Bauern an mir vorbeimüsste, um Palmen zu pflanzen oder Beeren zu sammeln, also würde ich so nah wie möglich an den Rand fahren. Ungefähr … hier.«

Er deutete auf einen Grasstreifen zehn Meter voraus. Wir arbeiteten uns am Waldrand entlang, achteten darauf, dass wir nicht auf den Weg traten, und blieben an dem von Unkraut überwucherten Flecken stehen.

»Was ist, wenn er mit dem Moped gekommen ist?«, fragte ich.

Er bedachte diese Möglichkeit.

»Dann stehen wir dumm da«, sagte er. »Aber gehen wir erst mal von der Theorie mit dem schwarzen Benz aus, um zu sehen, wie weit sie uns führt. Fertig?«

»Okay. Er parkt hier«, sagte ich. »Er schleicht durch den Dschungel, tötet den Abt, warum auch immer, dann geht er wieder zum … Moment! Guck mal!«

Ich ging in die Hocke, um besser zu sehen. Der Stummel einer Zigarette lag im Gras. Sie hatte einen Filter und war importiert – nichts, was die Einheimischen von Maprao rauchen würden. Opa Jah hockte sich neben mich und fand noch einen Stummel, dann noch einen. Wir rührten sie nicht an.

»Drei Zigarettenstummel«, sagte er. »Also, das ist entweder völlig irrelevant oder absolut bedeutsam. Wenn Letzteres, dann stellt es die Theorie völlig auf den Kopf.«

»Ach ja?«

»Klar. Es bedeutet entweder, unser Mörder war so abgebrüht, dass er meinte, er könnte entspannt die eine oder andere rauchen, entweder vor oder nach dem Mord …«

»… oder er hatte einen Komplizen, der im Auto wartete«, fügte ich hinzu.

»Manchmal, Jimm«, sagte er und lächelte beinah, »denke ich, dass du als Mädchen glatt verschwendet bist.«

Ich hütete meine Zunge. Für ihn mochte es sogar ein Kompliment gewesen sein.

»Das fandest du gut?«, sagte ich. »Wie wär’s hiermit? Du hast einen dicken, fetten Benz auf einem schmalen Waldweg, und irgendwie musst du den Wagen wieder rausbringen. Statt den ganzen Weg bis zur Straße zurückzusetzen, fährst du weiter, bis du eine Stelle findest, an der du wenden kannst, damit du für den Rückweg schon in der richtigen Richtung stehst.«

Diesmal lächelte er wirklich und drückte meine Hand. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er mich seit der Grundschule irgendwann mal angefasst hatte.

»Und da«, sagte er zuversichtlich, »finden wir die richtigen Reifenspuren. Schlaues Mädchen.«

Eilig liefen wir am Waldweg entlang. Es gab eine Lücke in den Bäumen, doch der Graben hätte es unmöglich gemacht, dort hineinzufahren. Dann, hinter der nächsten Kurve, waren wir im siebten forensischen Himmel. Sand und ein makelloses M aus Reifenspuren, rein und raus. Kurz vergaß ich mich und hob die Hand, damit Opa Jah mich abklatschte. Er hatte keine Ahnung, was ich da machte, und sah mich nur düster an, bis ich meine Hand sinken ließ.

So weit unser morgendliches Werk. Jetzt saßen wir im menschenleeren Northeastern Seaside Restaurant und warteten auf Lieutenant Chompu. Gegenüber zahlten Touristen dreißig Baht, um Böller zu Ehren des Prinzen von Chumphon, des Vaters der thailändischen Marine und Hobby-Zauberers, zu zünden. Danach kletterte man auf das Deck eines fünfzig Meter langen Betonschlachtschiffs, das zu seinen Ehren errichtet worden war. Pak Nams berühmteste Sehenswürdigkeit, inklusive Betonsoldaten und springenden Delfinen. Was soll man sagen?

Chompu kam zu Fuß. Das überraschte mich. Das Polizeirevier von Pak Nam lag nur sechshundert Meter entfernt, aber Polizisten gingen so gut wie nie zu Fuß. Es machte sie gewöhnlich. Ich gebe zu, ich war gespannt, wie Opa Jah auf den blumigen Polizisten reagieren mochte. Allerdings hatte er kaum Grund, sich zu beklagen. Indirekt hatte er einen Enkel in die Welt gesetzt, der zur Miss Pattaya World 1992 gekrönt worden war, und einen zweiten, der sich rundweg weigerte, eine sexuelle Beziehung einzugehen, sofern sie nicht auf ehrlicher Liebe fußte, und ergo mit zweiunddreißig noch Jungfrau war. Angesichts dieser Tatsache müssten einem Mann doch ernstliche Zweifel an seinem eigenen Genpool kommen.

Zu meiner Überraschung stand Opa Jah auf und salutierte, als Chompu kam. Es wirkte keineswegs sarkastisch. Großmütig erwiderte der Lieutenant den Salut und nahm seine Mütze ab. Wir saßen draußen unter dem hölzernen Vordach, und Opa und Chompu tauschten kurz ihren jeweiligen beruflichen Werdegang aus. Ich nahm die weibliche Rolle ein und bestellte eine Auswahl von laotischen Delikatessen sowie kaltes Bier und Coca-Cola für den Lieutenant. Chompu war ausgesprochen respektvoll, und ich hatte das Gefühl, dass Opa ihn vom ersten Moment an mochte. Er erzählte dem Polizisten von dem Waldweg, den wir neben dem wat Feuang Fa gefunden hatten, und ich lächelte über Opas erstaunte Miene, als der Lieutenant sofort sein Handy zückte und die Information ans Revier weitergab. Er erzählte die Geschichte genauso, wie man sie ihm berichtet hatte. Er fragte Opa sogar nach seinem vollen Namen, damit man ihn als Zeugen zitieren konnte. Seit die Detectives mit ihrer Tatverdächtigen wieder in Bangkok waren, lag die Verantwortung für etwaige Entwicklungen des Falles nun wieder bei den lokalen Polizeistationen. Als Chompu sein Handy abstellte, grinsten er und Opa sich an.

»Na, wenn das kein glücklicher Major war«, sagte Chompu. »Sollte hier irgendwas rauskommen, haben Sie einen Freund fürs Leben.«

Er hob sein Glas, und wir stießen miteinander an.

»Gibt es bei Ihnen was Neues?«, fragte ich.

»Leider waren keine Fingerabdrücke auf dem Feuerzeug, das Sie uns gegeben haben«, sagte Chompu. »Aber wir haben Antwort wegen der Kamera bekommen. Das Modell ist nicht frei verkäuflich.«

»Man muss es stehlen?«

»Entweder das, oder man muss professioneller Fotograf sein. Nikon bittet Profis, ihre Prototypen auszuprobieren. Die Typennummer gehört zu einem solchen Prototyp. Ungefähr hundert Exemplare werden jeweils hergestellt und zu Testzwecken an Profis verteilt.«

»Dann müsste es also eine Liste von Leuten geben, die man gebeten hat, diese Kamera zu testen«, sagte ich.

»Theoretisch. Aber dazu wäre es nötig, den Hauptsitz von Nikon in Japan zu kontaktieren. Das würde etwas Zeit in Anspruch nehmen angesichts …«

»Angesichts des Schwachsinns, der in Bangkok vor sich geht«, sagte ich. »Irgendwelche Neuigkeiten über den Mercedes-Fahrer?«

»Keine unserer mobilen Einheiten hat ihn irgendwo auf einem Highway gesehen, weder in die eine noch in die andere Richtung«, sagte er. »Und wie Sie beide wissen, darf ich keine Informationen zu laufenden Ermittlungen herausgeben et cetera pp. bla, bla, aber – im Vertrauen gesagt – die Tochter des Besitzers vom 69 Resort konnte sich an das Kennzeichen des Wagens erinnern.«

»Schön für sie«, sagte ich.

»Noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass sie erst vier ist.«

»Also sollten wir uns keine allzu große Hoffnung machen.«

»Nein. Aber angeblich ist sie ein wahres Wunderkind, was Nummernschilder angeht. Jedenfalls wird das Kennzeichen überprüft. Außerdem hat sich etwas hinsichtlich des Überfalls auf Phoom ergeben, das ich Ihnen leider nicht verraten darf. Die Person, die den Unfall per Handy gemeldet hat, blieb nicht am Unfallort, als der Krankenwagen unterwegs war. Das ist so üblich. Die Leute wollen helfen, aber nichts mit Berichten und Befragungen zu tun haben.«

»Immer noch besser, als wenn sie sich gar nicht erst die Mühe machen«, sagte Opa Jah.

»Das sehe ich ganz genauso«, sagte Chompu. »Aber da war etwas. Wir haben über den lokalen Radiosender 106,5 nach Zeugen gesucht, und eine Frau rief an und meinte, sie sei auf der Straße an einem Unfall vorbeigekommen. Da standen schon zwei Autos, und deshalb hatte sie nicht angehalten. Aber sie hat gesehen, wie sich ein Mann und eine Frau über das Opfer beugten.«

»Zwei Autos?«, sagte ich. »Wirklich? Hat sie gesagt, was für Autos es waren?«

»Sie konnte sich nur an einen Pick-up und einen Pkw erinnern. Keine Marke, keine Farbe.«

»Gibt es eine Möglichkeit, den Anruf des barmherzigen Samariters zurückzuverfolgen?«, fragte ich.

»Das ist nicht einfach. Wir bräuchten einen Gerichtsbeschluss.«

»Aber es wäre machbar.«

»Ich gehe davon aus, dass der Major den Papierkram schon angeschoben hat. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Nun, angenommen der Mörder rammt Sergeant Phooms Motorrad, fürchtet, der Sergeant könnte ihn identifizieren, und beschließt, anzuhalten und ihm den Rest zu geben. Er beugt sich mit einem Montiereisen über ihn, als diese Frau im Pick-up um die Ecke biegt und anhält, um ihm zu helfen. Unser Mörder tut so, als sei er gerade eben auf den Unfall gestoßen und würde dem Opfer helfen. Die Frau ruft im Krankenhaus an, während unser Mörder flieht. Aus Gründen, die wir nicht kennen, verschwindet auch die Frau, sobald sie sicher ist, dass der Notarzt kommt.«

»In diesem Fall hätte die Frau direkten Kontakt zum Mörder gehabt«, sagte Opa Jah. »Sie könnte ihn identifizieren.« So aufgeregt hatte ich Opa seit der großen Diarrhö-Attacke 2005 nicht mehr gesehen. Ich mochte ihn, wenn er so war – natürlich ohne die Diarrhö.

»Gut«, sagte Chompu. »Ich mache dem Major noch mal Druck wegen der Anruflisten.«

»Erinnern Sie ihn daran, wie sehr es seiner Karriere dienen würde«, schlug ich vor. »Der Mann brodelt vor Ehrgeiz, wie ein Vulkan.«

»Es gäbe da noch eine Möglichkeit«, sagte Opa.

»Welche denn?«, fragte ich.

»Die, der du zielstrebig aus dem Weg gehst«, sagte er. »Jemand sollte im Krankenhaus nachfragen, ob der Unfall von einem Mann oder einer Frau gemeldet wurde.«

Ich begriff sofort. Ich wollte mir nicht vorstellen müssen, dass meine Nonne ein geheimes Leben außerhalb des Tempels führte, mit Perücken und schnellen Autos und spitzen Dolchen. Opa Jah hatte recht. Ich wollte unbedingt, dass der Mörder männlich war.

»Darum kümmere ich mich gleich heute Nachmittag als Allererstes«, sagte der Lieutenant.

»Was uns zu der Sache mit dem VW-Bus führt«, sagte ich.

»Da kommt noch mehr?« Chompu spielte sein Entsetzen. »Sollte ich meine Pediküre absagen?«

»Jedenfalls sollten Sie uns was zu trinken bestellen«, erklärte ich ihm. »Es könnte sein, dass Sie noch eine Weile hier sind.«

Wieder überließ ich es Opa Jah, von seinem Besuch beim degradierten Captain Waew in Surat zu berichten. Dauernd wartete ich darauf, dass Chompu sagte: »Natürlich, das wusste ich bereits.« Aber es war offensichtlich, dass er es nicht wusste. Sein Notizblock lag offen auf dem Tisch, und er schrieb mit. Opa entschuldigte sich irgendwann, um seiner notleidenden Blase Erleichterung zu verschaffen, und ich nutzte die Gelegenheit, Chompu zu fragen, was er wegen der Fotos unternommen hatte.

»Das ist problematisch«, räumte er ein. »Ich habe überlegt, ob ich sie auf den Tresen legen und weglaufen sollte, aber mir wurde bewusst, dass es auf Sie zurückfallen würde, weil Sie die Kamera gefunden haben. Ich kann sie nicht einfach irgendwo liegen lassen, und um sie jetzt noch am Tatort zu finden, ist es zu spät. Also, ich muss zugeben, dass ich nicht mehr weiterweiß. Ich hoffe, dass sich bald irgendwas ergibt, dass die Bilder nicht mehr gebraucht werden. Bis dahin stecken sie unter meiner Matratze.«

»Vielen Dank, dass Sie das für mich tun.«

»Schließlich sind wir Komplizen.«

Ich blickte auf, um nachzusehen, ob Opa seine sanitären Aktivitäten beendet hatte.

»Da fällt mir ein …«, sagte ich mit tiefer, verschwörerischer Stimme, »haben Sie heute schon was gehört von … irgendwelchen Schwerverbrechen?«

»Wie schwer?«

»Ach, ich weiß nicht. Mord?«

Er lachte. »Sie sind unersättlich.«

»Und haben Sie?«

»Nein.«

»Keine Vermissten? Potenziell tödliche Verletzungen? Verdacht auf Vergiftungen?«

»Immer mit der Ruhe. Das wird alles schon noch kommen.«

Tief in meinem Herzen hoffte ich das Gegenteil, aber anscheinend war Mair vorerst in Sicherheit.

»Oh, eins habe ich ganz vergessen«, sagte der Lieutenant. »Wir haben Ihren Dr. Jiradet, diesen sogenannten Berater im Pak Nam Hospital, aufgespürt. Anscheinend hatte er in der Ferienanlage ein Rendezvous mit einer minderjährigen Hure. Sie wohnten in getrennten Zimmern, aber davon ließ sich niemand täuschen, vor allem nicht seine Frau. Und als der Doktor abfuhr, blieb die fragliche junge Dame als Touristin zurück. Die Dreistigkeit ist doch fast bewundernswert, nicht?«

Wieder zwei Verdächtige im Eimer. Langsam gingen mir die Möglichkeiten aus. Opa kam zurück. Ich hatte daran gedacht, Chompu meinen Besuch beim Exminister Sugit zu verschweigen. Ich vermutete, es würde Streit geben, weil ich mich in Polizeiarbeit einmischte und einen potenziellen Tatverdächtigen in einem Doppelmordfall über Gebühr aufschreckte. In Chiang Mai hätte man mich dafür verhaftet. Aber hier waren wir in Pak Nam, und Chompu und ich steckten schon bis zum Hals drin, weil wir Beweismittel verfälscht hatten, also dachte ich mir: Was soll’s? Als ich fertig war, klappte er den Mund wieder zu.

»Unfassbar«, sagte er. »Man glaubt gar nicht, wie langweilig das Leben in Pak Nam war, bis ihr Leutchen hierhergezogen seid.«

In diesem Moment fragte ich mich, ob wir in seinen Augen eigentlich verdächtig waren. Eine merkwürdige Familie taucht auf, und schon finden sich überall Leichen. Aber ich hatte so den Eindruck, als wäre ihm das eigentlich auch egal.

»Sie sind uns also nicht böse?«, fragte ich.

»Böse? Ich bin völlig aus dem Häuschen. Batman und Robin sind da! Was werden sie wohl als Nächstes machen?«

Ich war nicht sonderlich begeistert, was die Analogie anging, vor allem wenn ich Robin darstellen sollte. Aber Opa Jah strahlte noch immer, sowohl vom Bier als auch von der Beweihräucherung. Allerdings verdarb er die gute Stimmung, als die Rechnung beglichen war und er mir mitteilte, wir hätten beide zu viel getrunken, als dass unsere Fahrsicherheit gewährleistet sei, und darauf bestand, dass wir den halben Kilometer zum 7-Eleven laufen sollten, um uns von Motorrad-Taxis nach Hause fahren zu lassen. Er ignorierte mein Flehen, dass die meisten Fahrer drogensüchtig oder geisteskrank waren und wir sogar in betrunkenem Zustand sicherer fahren würden. Dann vergeudete er weitere zwanzig Minuten damit, auf die Freaks einzureden, dass niemand irgendwohin fuhr, ohne einen Helm aufzusetzen. In den neun Monaten, die wir hier wohnten, hatte ich noch keinen einzigen Motorradhelm gesehen.

Schließlich kamen wir zu Hause an, mit laotischen Resten für Mair und Arny und einer Extratüte für Gogo. Als wir parkten, sah ich, dass Mair vor dem Laden stand und sich mit der älteren Frau unterhielt, die ich in der Plastikmarkisen-Detektei gesehen hatte. Sie war, wie ich mich erinnerte, die Mutter des dorfbekannten Verbrechers von Maprao – eine Verbindung, die mir ein gewisses Unwohlsein bereitete. Ich blieb einen Moment in der Nähe stehen, doch die beiden Frauen waren ins Gespräch vertieft und schienen mich gar nicht zu bemerken. Ich machte mich auf die Suche nach Arny, um ihm sein Mittagessen zu bringen, aber er war nirgends aufzufinden. Eine vierköpfige Familie, junge Eltern mit zwei kleinen Kindern, saß vor einer der Cabanas. Die Tür stand offen, aber ihre Taschen stapelten sich vor dem Eingang. Ich hatte einen Suzuki Caribbean auf dem Parkplatz gesehen, aber angenommen, der Besitzer mache einen Strandspaziergang.

»Entschuldigen Sie, arbeiten Sie hier?«, rief mir der Vater zu.

»Mehr oder weniger.«

»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus«, sagte er, »aber wir haben niemanden gefunden, den man fragen konnte, und die Tür stand offen.«

»Bleiben Sie eine Nacht?«, fragte ich.

»Zwei.«

»Kein Problem. Ich hole Ihnen den Schlüssel.«

»Wir könnten etwas zu essen brauchen.«

Ich schaffte es, sie davon zu überzeugen, dass unsere plat du jour aus köstlich gewürzten, nordöstlichen Speisen bestand, und machte mich auf den Weg, unser Mitgebrachtes aufzuwärmen. Ich ignorierte Gogos Jaulen, als ich ihre Reste hinzufügte, und war am Ende mit dem Ergebnis ganz zufrieden. Auch die Gäste beklagten sich nicht.

Ich rief Sissi an.

»iFurn, telefonische VIP-Betreuung«, sagte sie. »Ich bin Dr. Monique Dubois. Was kann ich für Sie tun?«

Manchmal nutzte sie diese Nummer für ihre IKEA-II-Kunden. Sie hatte eine Web Company namens iFurn. Offenbar waren kleine i und e im Onlinehandel schwer angesagt. Es gab eine iFurn-Website mit Fotos ihrer exklusiven Möbellinie, die in Wahrheit von der IKEA-Seite kopiert und neu zusammengesetzt waren. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie den dreifachen Preis verlangte. Ihr Slogan lautete IKEA-Look mit iFurn-Qualität. Sie behauptete, sie sei oberste IKEA-Liga, das Zeug, das die Schweden produziert hatten, bevor sie zu billigeren Materialien übergingen, weil sie sparen mussten. Und die Leute fielen darauf rein. Wenn eine Bestellung kam, steckte sie das Geld in die eigene Tasche, schrieb den Auftrag um, schickte ihn an IKEA und bezahlte den Katalogpreis. IKEA lieferte direkt an den Kunden. Der Telefonanschluss war eine Absicherung für den Fall, dass jemand sein Paket bekam und Widersprüchlichkeiten auf der Rechnung bemerkte. Es kam kaum vor, aber wenn doch, erklärte sie, auf dieses Weise reduziere die Firma den Steueranteil und senke damit die Gesamtkosten für den Kunden. Ihre Geschäftsidee bestand darin, dass manche Leute unbedingt zu viel für etwas zahlen wollten, das sie für qualitativ hochwertig hielten, und sich allerhöchstwahrscheinlich nicht beklagen würden. Diese Nummer zog sie schon zwei Jahre ab. Der Telefonanschluss ließ sich nicht zurückverfolgen, und die Website war gesichert. Sie würde es merken, falls jemand versuchen sollte, die Seite zu sperren. Sie war unschlag-
bar.

»Hallo«, sagte ich. »Ich bin auf der Suche nach einem Kartentisch, der zusammenbricht, sobald man seinen Arm darauf legt.«

»Schwesterherz.«

»Bist du beschäftigt?«

»Die Welt schläft nie.«

»Kommst du denn auch mal vor die Tür, um dir die Welt anzusehen, Sis? Atmest du die Luft da draußen? Stößt du an der nächsten Straßenecke mit deinen Weltbürgern zusammen?«

»Wir haben einen Dachgarten. Um drei oder vier Uhr nachts gibt es da frische Luft.«

»Restaurants? Bars? Wartende Kunden in der Bank? Überfüllte Einkaufszentren? Menschliche Gesellschaft?«

»Bist du jetzt Mutters Sprachrohr?«

»Ich mache mir Sorgen um dich. Was war das noch für ein Film über die Frau, die nicht mehr vor die Tür ging und aß und aß und immer dicker wurde, bis sie das ganze Zimmer ausfüllte und dann explodierte?«

»Ja. Ich erinnere mich. Es war einer von Audrey Hepburns besten Filmen.«

»Sissi. Ich glaube, Mair hat was Schlimmes angestellt. Ich habe Angst.«

Es blieb still in der iFurn-Leitung, dann sagte sie: »Na, gut. Lass hören.«

Ich erzählte ihr alles: von John und dem Markisendetektiv, vom Gift und Mairs frühmorgendlicher Ninja-Show.

»Ich habe die schreckliche Befürchtung, dass sie jeden in Maprao ausrottet, der eine bestimmte Sorte Insektenkiller gekauft hat. Und wir reden hier von Hunderten potenzieller Opfer.«

»Hm. Völkermord im Dschungel. Ist denn schon jemand tot aufgefunden worden?«

»Nein.«

»Na, dann viel Glück. Sie wird damit durchkommen. Sie ist ausgebufft genug, ihre Spuren zu verwischen, und wir haben ihr schon immer gesagt, dass sie sich ein Hobby suchen soll.«

»Du hältst mich für paranoid, oder?«

»Nein. Ich halte dich für total bescheuert. Mair ist ein bisschen seltsam. Aber man ist nicht gerade eben noch schrullig und löscht im nächsten Moment ein halbes Dorf mit Rattengift aus. Ich glaube eher, du bist jetzt lange genug da unten in Uga-Buga-Land. Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst. Ich habe hier ein Gästezimmer und ein ganzes Regal voller Filme, die du noch nicht gesehen hast. Wir können Absolut-Wodka trinken, uns auf uTorrent alte Folgen von Wagon Train ansehen und mit Schokolade vollstopfen.«

Ich seufzte. Es klang vielversprechend. Eine echte Versuchung. Aber ich hatte noch einiges zu erledigen.

»Na gut«, sagte ich. »Das klingt nach einer Option. Aber lass mich erst mal diese Morde klären. Ist dir irgendwas zu meinem toten Abt eingefallen?«

»Ich hatte einen Geistesblitz«, sagte sie. »Ich bin bei einer Website namens Police Beat angemeldet. Das ist wie Facebook, aber für alle, die was mit der Polizei am Hut haben. Größtenteils alte Bullen, im Ruhestand oder im Dienst – unattraktive Polizisten auf der Suche nach Frauen, die auf Uniformen stehen. Deshalb bin ich jedenfalls dabei. Aber da gibt es auch eine interessant gemischte Klientel. Ein paar Polizistinnen, Staatsanwälte, Krimiautoren, die Hinweise aufschnappen wollen, hin und wieder eine Nutte, die ihre Werbung diskret als Chat verpackt. Am faszinierendsten finde ich allerdings, dass die Seite international ist. In grausamem Englisch wird über Recht und Ordnung diskutiert und sich über Polizeitechniken ausgetauscht. Ich schätze, da draußen gibt es eine Menge Leute, denen überhaupt nicht klar ist, worum es bei dieser Seite eigentlich geht. – Mein Name bei Police Beat ist Elena. Ich bin eine russische Kripobeamtin, die im Bandenkrieg ein Bein verloren hat. Aber ich bin hinreißend schön, und die edlen Polizisten sind gern bereit, über meinen Stumpf hinwegzusehen. Du wärst überrascht, was für Informationen die einbeinige Elena hervorkitzeln kann. Jedenfalls gibt es da diesen Chatroom, in dem offene Fälle diskutiert werden. Also habe ich unseren Tempelmord und die komische Sache mit dem Hut erwähnt und gefragt, ob jemand irgendwelche ähnlich gelagerten Hass/Hut-Geschichten kennt.«

»Du meinst, für den Fall, dass es einen weltweit agierenden Serienmörder gibt, der seinen Opfern Hüte aufsetzt, bevor er sie erdolcht? Sis?«

»Du hast gesagt, ich soll querdenken.«

»Nicht kreuz und quer.«

»Schön. Wenn du meine Hilfe nicht möchtest, dann kann ich ja …«

»Entschuldige. Tut mir leid. Du hast recht. Ich meine, du hast absolut recht. Also? Irgendwas gefunden?«

»Noch nicht. Ich habe mir von einem versoffenen Exdetective in Südkalifornien detailliert von einer Performance-Künstlerin erzählen lassen, die überfahrenen Tieren Partyhütchen aufgesetzt hat, um sie zu fotografieren. Es gab sogar eine Ausstellung. Näher bin ich dem Thema noch nicht gekommen. Aber das Netzwerk ist riesig. Es wird etwas dauern.«

»Ich vertraue dir.«

»Solltest du auch.«

»Was macht dein Job als Web-Idol?«

»Wir haben Streit.«

»Schon?«

»Sie wollen, dass ich ein Bild von mir poste – vor dem Make-up. Ich unverhüllt.«

»Nackt?«

»So etwas würde mir meine Webcam nicht verzeihen. Nein, sie wollen mein wahres, verwittertes Gesicht zeigen. Sie meinen, es würde die Jugend inspirieren.«

»Kennen sie deinen richtigen Namen?«

»Nein.«

»Dann mach es doch.«

»Bist du verrückt? Was ist, wenn mich jemand erkennt?«

»Die schicken dir eine E-Mail und fragen, wie es dir geht, du antwortest und hörst nie wieder von ihnen. Internet-Bekanntschaften sind flüchtig und erlahmen schnell. Das ist mein Ernst. Tu es.«

»Eher sterbe ich.«