Kapitel 16

»Seit nunmehr anderthalb Jahrhunderten bilden Amerika und Japan eines der großen, verlässlichen Bündnisse moderner Zeiten.«

George W. Bush

Tokio, 18. Februar 2002

Mika Mikata.«

»Das ist aber kein typisch südkalifornischer Name, oder?«, sagte ich. »Mexiko vielleicht?«

»Japan.«

Ich merkte, dass Sissi gestresst war, wenn sie keine Lust hatte, auf meine Scherze einzugehen. An solchen Tagen blieb man lieber ernst.

»Und was hat sie in den Staaten gemacht?«

»Sie bekam ein Kunststipendium vom East-West Center. Sie hatte ein Jahr, ihren künstlerischen Neigungen nachzugehen.«

»Die darin bestanden, überfahrene Tiere zu fotografieren?«

»Verkleidete, überfahrene Tiere. Sonnenbrille. Bermudashorts. Kleine Schürzen.«

»Und Hüte?«

»Und Partyhütchen – bunte.«

»Hätte hübsche Postkarten gegeben: Tote Tiere tanzen nicht

»Ihre Bilder wurden ausgestellt.«

»Und so kam dein versoffener Detektiv zu dem Fall?«

»Nein. Offenbar haben überfahrene Tiere in den Staaten keine Rechte. Man darf sie verkleiden, wie man möchte. Sie hatte gegen kein Gesetz verstoßen. Die Leute waren außer sich, aber du weißt ja, wie es in der Kunst läuft: Je kontroverser du bist, desto berühmter wirst du. Ein Hochglanzmagazin bezeichnete sie als ›Caligula der grenzwertigen Fotografie‹.«

»Und wie kam der rotnasige Polizist dazu?«

»Er heißt Gerry Moore. Es gab Beschwerden, dass einige der überfahrenen Tiere noch nicht ganz tot waren, als sie sie verkleidet hat.«

»Igitt.«

»Eine Frau warf ihr sogar vor, sie hätte ihre Katze mit dem Motorrad überfahren. Als die Besitzerin raus auf die Straße lief, um nachzusehen, was da für ein Geschrei war, sah sie Mika, die der sterbenden Fluffy gerade ein pinkes Tutu umschnallte.«

»Hat sie dafür gesessen?«

»Wir reden hier von Los Angeles in den Achtzigern. Tierquälerei stand da noch nicht weit oben auf der Fahndungsliste. Sie hat ein paar Mal Geldstrafen bekommen, wurde aber mit ihren Diashows immer berühmter.«

»Und dann ist sie abgetaucht?«

»Nein. Im Gegenteil. Sie blühte auf. Sie wurde prominent. Sie gilt als Kult und hat nach wie vor eine riesige Fangemeinde. Ihre Website ist zweisprachig, und du rätst nie, wie die Seite heißt.«

»Wenn das Wort Orange oder Hut drin vorkommt, ist sie die Richtige.«

»Dressed to Kill.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Mein voller Ernst. Da gibt es Zitate von berühmten bildenden Künstlern, die sie als Genie und Guru bezeichnen. Andy Warhol sagte: ›Ihre visuelle Vorstellung vom Tod ist dermaßen lebendig, dass man sich fragt, ob sie schon mal da war.‹ Ihre Seite wird täglich zwölftausendmal angeklickt.«

»Du hast sie dir angesehen?«

»Es ist alles da: die frühe, nostalgische Periode, in der sie hinter ihren Objekten steht und das Peace-Zeichen macht, Elche mit allen vieren von sich gestreckt, gekrönte Krähen, die an Windschutzscheiben kleben, auf dem Rücken liegende Kojoten mit hellblauen Babyschühchen. Dann sind da Bilder von nicht ganz so offensichtlich toten Tieren. Guckt das Opossum etwa in die Kamera? Hat sich die Schlange da im Strumpf nicht eben bewegt? Ich muss zugeben, die Fotos sind spektakulär, aber es dreht sich einem der Magen um. Und dann kommen wir zu den Menschen.«

»Oha, behalt es lieber für dich.«

»Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat. Wirklich nicht. Aber sie hatte Zugang zu Leichenschauhäusern. Tote auf Tischen, mit Pudelmützen auf dem Kopf und Papiertröten im Mund.«

»Nein.«

»Geringelte Fußballsocken, Boxhandschuhe – Männer in Frauenkleidern.«

»Das ist doch bestimmt illegal.«

»Solange nicht jemand seinen Liebsten in Madonnas Kegel-BH wiedererkennt, könnte die Künstlerin immer noch behaupten, es sei gestellt, mit Schauspielern.«

»Aber das glaubst du nicht?«

»In Filmen sieht man ständig Schauspieler sterben. Ich habe einen Riecher für schlechte Darsteller. Das waren definitiv Leichen.«

Ich hatte alles gelesen, was es zum Thema Kriminologie auf Thai und Englisch zu lesen gab. Ich hatte alle Fälle studiert: die berühmten Morde, die notorischen Serienkiller, und immer wieder wurde deutlich, dass die Laufbahn der Mörder oft mit Übungen an Tieren begann. Mika Mikata war vor den Augen der Öffentlichkeit in die Lehre gegangen und ermutigt worden. Gefeiert und bewundert hatte sie sämtliche Stadien durchlebt, und ich wusste, dass nur noch eine Stufe übrig blieb. Ich wusste, dass Mika Mikata entweder eine potenzielle oder eine tatsächliche Mörderin war. Aber es gab keine Verbindung zwischen ihr und unserem ermordeten Abt, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wieso sie für ihr gewissenloses Treiben ausgerechnet in unser kleines Dorf im Nirgendwo gekommen sein sollte.

»So weit geht die Website?«, fragte ich. »Leichen?«

»Es gibt drei Galerien. Einmal die kostenlose White Gallery, die größtenteils aus schrägem, aber harmlosem Zeug besteht. Dann ist da die kostenpflichtige Black Gallery, in die man relativ einfach reinkommt. Da habe ich die überfahrenen Tiere und die Leichenschauhausbilder gesehen. Aber dann gibt es da noch die Orange Gallery, nur für Mitglieder.«

»Bingo. Kommst du da rein?«

»Ist nicht einfach.«

»Du bist doch die Net-Queen.«

»Jimm, ich habe schon streng geheime Videokonferenzen zwischen Mitgliedern des amerikanischen Sicherheitsrats belauscht. Ich habe über Skype zugesehen, wie die Queen im Pyjama an ihrem Becher Horlicks nippt. Wenn ich sage, dass etwas nicht einfach ist, dann ist es nicht einfach. Aber ich arbeite dran.«

»Okay, eine Frage noch. Wie sieht sie aus?«

»Mika? Auf ihrem Webfoto ist sie hinreißend, aber wir wissen ja beide, was das bedeutet. Wenn ich mir die früheren Fotos ansehe, war sie einigermaßen farblos, aber quirlig. Ich schätze, sie dürfte inzwischen wohl über fünfzig sein und immer noch ihren niedlichen Manga-Love-Doll-Look pflegen.«

»Hast du eine Ahnung, wie sie heute ohne Airbrush aussehen könnte?«

»Nong, je mehr Zeit ich mit den Leuten von Web Idol verbringe, desto sicherer bin ich, dass man aus Opa Jah mit drei einfachen Schritten Brad Pitt machen könnte. Möglicherweise ist Mika nur ein graues Mäuschen. Ich vermute, sie hat ein nichtssagendes, asiatisches Gesicht, mit dem man alles machen könnte. Hör zu, ich schick dir das Glamour-Foto und eins von den älteren auf dein Handy.«

»Danke, Sis. Irgendwas über die anderen Morde?«

»Du hast mich nach Zeugen für diesen Swimmingpool-Mord auf Guam gefragt. Der Typ, dem sie den Helm orangefarben bemalt haben. Als Toshi ankam, hatte die örtliche Polizei schon alle verhört, aber noch keinen Verdächtigen. Es gab einen möglichen Augenzeugen, den sie aber nicht aufspüren konnten. Einige Ingenieure sagten aus, am Tatort sei eine Reporterin gewesen, die Fotos machte. Sie hatte einen japanischen Presseausweis. Die Männer meinten, sie sei ungewöhnlich schnell vor Ort gewesen.«

»Hast du eine Beschreibung?«

»Widersprüchlich, meinte er. Einige hatten sie jung in Erinnerung, andere nicht mehr ganz so jung. Mittellanges Haar. Toshi hat bei der Einwanderungsbehörde nachgefragt. Zu dem Zeitpunkt waren keine japanischen Reporter registriert, und die Tatortfotos sind in keiner Zeitung aufgetaucht.«

»Was ist mit Taiwan? Du meintest, es könnte sein, dass es da eine Spur gibt.«

»Detective Wing Shu hat versprochen, in seinen Akten nach dem Vogelhaus-Mord zu suchen. In Badehose sieht er noch viel besser aus.«

»Tu alles, was nötig ist, Sis.«

»Jawohl, Ma’am.«

»Okay, die Bilder sind angekommen.«

Und da war sie, nett und adrett. In Gedanken ging ich die einzelnen Punkte durch. Mittellanges Haar. Jung oder nicht mehr ganz jung. Dieses nichtssagende, asiatische Gesicht. Man hätte es einem Zeichner unmöglich beschreiben können, weil sie auf dem Bild in der Zeitung wie eine x-beliebige Mutter oder Schwester oder Nachbarin aussah. Es war ein Gesicht, das man vergaß. Mit etwas Aufwand mochte es das leicht geschminkte Gesicht einer Reporterin auf Guam oder das schwer geschminkte Gesicht einer Vogelkundlerin aus Hongkong sein. Man würde sich eher an das schlechte Make-up und die Sonnenbrille erinnern als an den Menschen dahinter. Aber ich war mir sicher, dass ich dieses Gesicht schon einmal ungeschminkt gesehen hatte. Es war abgespannt und fleckig, und mit dem übertriebenen Puder sah es älter aus, als es war. Die graue Perücke hatte die Verkleidung perfekt gemacht, aber ich hatte sie durchschaut, und jetzt begriff ich. Die Augen verraten einen Menschen immer. Ich sah sie in ihrem echten Lacoste-Sportshirt, zwanzigmal so teuer wie eine Kopie aus Bangkok. Es steckte in engen Sporthosen, aus denen ihr Bauch quoll. Sie hatte gelächelt und mein haarsträubendes Koreanisch gelobt, obwohl sie es vermutlich selbst nicht fließend sprach. Deshalb musste sie ausziehen, als die koreanischen Ingenieure im 69 Resort einzogen. Die hätten gemerkt, dass sie keine von ihnen war. Ihre Tarnung wäre aufgeflogen. Ich weiß nicht, wie oder warum, aber meine Instinkte sagten mir laut und deutlich, dass ich Mika Mikata an diesem Tag begegnet war.

»Sind Sie sicher?«, fragte Chompu.

»Nein. Aber zählen Sie doch mal alles zusammen. Das 69 Resort liegt zehn Minuten Fußweg von der Kreuzung beim Krankenhaus, und noch mal zehn Minuten zum Tiwa, wo der Fahrer wohnte. Ihr Zimmer lag an der Straße, damit keiner sehen konnte, wie sie in ihrer Verkleidung ein und aus ging. Sie hatte das richtige Alter und die richtige Größe, und ich verwette meinen Hintern, dass sie keine Koreanerin war.«

»Eigentlich meinte ich: Sind Sie sicher, dass ich meinem impulsiven, unkooperativen Vorgesetzten mit so einer Geschichte kommen sollte?«

Ich verstand, was er meinte. Wir saßen auf einer Bank vor dem vier Meter hohen, weißen Buddha gegenüber vom Polizeirevier. Opa Jah lief auf und ab. Ich hatte keine greifbaren Beweise, die meinen abwegigen Verdacht untermauern konnten. Er basierte auf einer zweiminütigen Begegnung im 69 Resort und auf meiner Intuition.

»Sie haben recht«, sagte ich. »Eins nach dem anderen. Wie wäre es, wenn Sie es folgendermaßen angehen? Die Polizei erhält einen anonymen Anruf, der besagt, dass sich eine ausländische Frau im 69 Resort tagelang merkwürdig verhalten hat. Am Tag vor dem Mord hat sie eingecheckt und ist am Tag nach dem Überfall auf Sergeant Phoom abgereist. Ihre Leute überprüfen die Reisepassnummer, die sie angegeben hat, stellen fest, dass die nicht existiert …«

»Was, wenn doch?«

»Bleiben wir optimistisch, ja?«

»Okay.«

»Wir versuchen, Zeugen zu finden, die sie als Wu verkleidet gesehen haben, und dann bringen wir irgendwie Mika Mikata ins Spiel.«

»Bei Ihnen klingt es so einfach.«

War es auch. Die Gelegenheit bot sich früher als erwartet. Chompus Telefon unterbrach uns, und man bestellte ihn zu einer Besprechung nach Lang Suan. Die neue Entwicklung der Ereignisse zog die Rückkehr der Detectives aus Bangkok nach sich. Sie waren richtig eingeschnappt, als sie herausfanden, dass die örtliche Polizei Ermittlungen aufgenommen hatte, obwohl sie doch nur etwaige Vorfälle melden sollte. Bangkok hatte seine Tatverdächtige längst im Sack, und deshalb waren sie nicht eben begeistert, dass sie so bald schon wieder in den Süden kommen mussten. Als sie feststellten, dass der Benz-Chauffeur bereits verhört worden war und beim Anblick eines Fotos der Nonne kategorisch erklärt hatte, das sei nicht die Frau, die er chauffiert habe, spuckten sie buchstäblich Gift und Galle. Sie beriefen ein Notfall-Meeting aller an diesem Fall Beteiligten ein, inklusive des armen Sergeant Phoom, der an den Rollstuhl gefesselt war.

Niemandem gefiel ihr herablassender Ton, besonders nicht Major General Suvit, der einigermaßen stolz darauf war, wie er den Fall behandelte, seit Bangkok ihm diesen überlassen hatte. Chompu erzählte uns später, das Meeting sei zweimal in wildes Gebrüll ausgeartet. Einige beteuerten, irgendwann habe der Major General zu seiner Pistole gegriffen. Immer wieder war die Frage nach dem Motiv aufgekommen. Wer hatte ein besseres Motiv als die Nonne? Warum sollte eine fremde Frau ohne jegliche Verbindung zum Opfer plötzlich auftauchen und es erdolchen? Das war eine Frage, die niemand beantworten konnte. Bangkok argumentierte, Morde geschähen niemals zufällig. Ausnahmslos kannten die Mörder ihre Opfer oder hatten einen persönlichen Grund, ihnen den Tod zu wünschen. Das war der Moment, in dem meine kurze Unterbrechung ins Spiel kam.

Ein weiblicher Lieutenant trat ein, mit Kaffee, Kokoskeksen und einem Zettel mit einem heißen Tipp. Sie reichte dem Major General den Zettel und machte dann den Fehler, nicht hinauszugehen. Er teilte ihr mit, alle seien mit Kaffee versorgt, vielen Dank auch, und fragte, was sie hier noch wollte. Vermutlich hatte sie sich diese Frage während ihrer beruflichen Laufbahn hin und wieder selbst schon gestellt. Sie ging hinaus. Der Major General las den Zettel, dann verkündete er, jemand habe angerufen und behauptet, im 69 Resort hätte eine Frau gewohnt, auf welche die Beschreibung von Miss Wu aus Hongkong zutraf. Sie war mit einem teuren Fotoapparat gesehen worden und fuhr einen schwarzen Benz. Sekunden später war der Raum menschenleer, bis auf Sergeant Phoom, dessen Arme in angewinkelten Gipsverbänden steckten und der niemanden hatte, der seinen Rollstuhl schob. Er trank seinen Kaffee aus und genehmigte sich zwei Hände voll Kokoskekse.

Die Frau an der Rezeption des 69 Resort war doch ziemlich sprachlos, als plötzlich sieben Polizeifahrzeuge auf ihren Parkplatz einscherten. Sie meinte, sie hätte keine Ahnung, wer bei der Polizei angerufen haben mochte, sie sei es jedenfalls nicht gewesen. Sie hatte einen Gast gehabt, eine koreanische Dame namens Do Ik. Diese hatte für ihr Zimmer tageweise bezahlt und war am Mittwoch abgereist. Sie hatte allen ein großzügiges Trinkgeld gegeben und keinen Ärger gemacht. Ja, sie hatte einen Fotoapparat dabei, aber sie war Touristin. Da war das doch ganz normal. Angesichts der Wirtschaftslage konnte es nicht überraschen, dass ihr Zimmer seit ihrer Abreise nicht neu vermietet worden war, wohl auch, weil es zur Hauptstraße hinausging.

Der Deutsche salutierte, als die Polizeiparade an seinem Zimmer vorbeimarschierte, und seine neue Freundin rannte fluchtartig in die Hütte. Die Rezeptionistin schloss die Tür zum Zimmer der Koreanerin auf: B4.

»War irgendjemand in diesem Zimmer, seit sie ausgezogen ist?«, fragte einer der Detectives aus Bangkok.

»Ja, die Putzfrau«, antwortete sie.

»Sonst noch jemand?«

»Nein.«

Das Zimmer war etwas klein für eine achtzehnköpfige Suchmannschaft, doch weder Bangkok noch Lang Suan oder Pak Nam waren bereit, die Verantwortung den anderen zu überlassen. Man einigte sich auf eine Delegation von zwei Männern aus jeder Dienststelle, insgesamt sechs. Alle trugen vorschriftsmäßig Gummihandschuhe, hoben Laken und Handtücher aber trotzdem vorsichtig mit dem stumpfen Ende von Bleistiften an und öffneten damit auch die Schubladen. Es war ein Riesenzufall, dass ein Beamter vom Revier in Pak Nam die einzige Spur im ganzen Zimmer fand. Und was für eine Spur! Sie war von derart entscheidender Bedeutung, dass der Fall sich plötzlich weit öffnete. Ging es bisher um lokale Ermittlungen in einem unbedeutenden Mordfall, so waren diese plötzlich von weltweitem Interesse.

Es war Lieutenant Chompu, der den winzigen Zettel entdeckte, der offenbar unter das Sitzkissen eines der unbequemen Plastikstühle gerutscht war. Darauf war handschriftlich die Adresse einer Website notiert. Jeder, der Chompus lustige Bemerkungen am Mitteilungsbrett in Pak Nam gelesen hatte, mochte eine gewisse stilistische Nähe erkennen. Er hatte seine Handschrift so gut wie möglich verstellt, doch da die Detectives aus Bangkok den Zettel sofort an sich nahmen, wurde dieser Zusammenhang nie hergestellt. Und es fragte auch niemand, wieso die Verdächtige ihre eigene Internetadresse auf einen Zettel schreiben sollte. Vom kriminalistischen Standpunkt aus betrachtet, gab es über die mangelhafte Kooperationsbereitschaft innerhalb der Polizei so einiges zu sagen.

Wir drei – Opa Jah, Lieutenant Chompu und ich – saßen an einem unserer Strandtische. Ein Reigen regionaler Speisen, von überallher zusammengekauft, stand vor uns, zugedeckt mit Tellern und Klarsichtfolie. Wir hatten eine Flasche Whisky, 100 Pipers – für Opa Jah auf Eis, für Chompu und mich Mizuwari. Das ist Japanisch und heißt »im Wasser ertrunken«. Wir waren immer noch ganz aufgeregt, nach allem, was uns der Lieutenant erzählt hatte.

»Ich bin direkt auf den Stuhl zugesteuert«, sagte er. »Ich konnte den Zettel mit der Webadresse unterbringen, aber ich dachte, es geht bestimmt schief, wenn ich die Fotos auch noch unter die Matratze schiebe. Ich meine, wir waren zu sechst in einem zwei mal zwei Meter großen Zimmer.«

»Glauben Sie, es reicht?«, fragte ich.

»Um einen Zusammenhang zwischen der geisteskranken Mika und dem Mord an Abt Winai herzustellen? Das ist schwer zu sagen. Höchstwahrscheinlich wird man Videoaufnahmen finden, auf denen Dok Ik bei der Einreise zu sehen ist, diese mit dem Foto auf der Website vergleichen und sagen, dass es sich um eine völlig andere Person handelt.«

»Sie ist mit ihrem eigenen Pass ein- und wieder ausgereist«, sagte Opa.

Beide blickten wir auf.

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich.

»Sie hat sich solche Mühe gegeben, ihren Ausweis bei der Autovermietung nicht vorzeigen zu müssen. Indem sie einen Wagen mit Chauffeur gemietet hat, musste sie ihren Reisepass nicht hinterlegen. Und in der Ferienanlage hat man auch nicht nachgesehen. Sie kam in die richtige Gegend. Die Hotels brauchen hier so verzweifelt Gäste, dass sie sich im Grunde überhaupt nicht dafür interessieren, wer man ist.«

»Die Reisepass-Theorie würde uns das Leben bestimmt viel leichter machen, falls sie stimmt«, sagte Chompu. »Aber das stellt noch immer keinen Zusammenhang zwischen ihr und dem Mord her. Solange man weder dem Chauffeur noch der Rezeptionistin im 69 ein neueres Foto von Mika Mikata zeigen kann, gibt es keine Verbindung zu dem Mord. Einzig und allein Ihr Reporternäschen stellt einen Zusammenhang zwischen den beiden Frauen her. Es gibt keinen Beweis. Es gibt keine Zeugen. Es wurde keine Tatwaffe gefunden. Und unsere Freunde aus Bangkok würden sofort darauf hinweisen, dass es kein Motiv gibt.«

»Also könnte es immer noch sein, dass wir gezwungen wären, die Fotos herauszugeben?«, fragte ich.

»Die sind nicht belastend«, sagte er. »Man sieht nur eine Hand in einem Ofenhandschuh.«

»Verdammt«, sagte ich. »Das müsste jetzt doch eigentlich ganz einfach sein.«

»Vorsicht! Mutter bei sieben Uhr«, sagte Opa.

»Hallo, ihr Verschwörer«, sagte Mair. Sie hatte sich von der Strandseite her an uns herangeschlichen. Sie gesellte sich zu uns, schob mich mit ihrem Hintern über die Bank.

»Was für eine Verschwörung sollte das denn sein?«, fragte ich sie.

»Ich weiß ja nichts Genaues«, sagte sie. »Aber ich sehe die Geheimnisse, die euch umschweben. Die Aura des schlechten Gewissens, die euch umgibt. Wollt ihr mir nichts zu trinken anbieten?«

»Nein«, sagte Opa Jah. »Du weißt doch, was passiert, wenn du ein halbes Glas getrunken hast.«

»Sehen Sie, Lieutenant?« Mair lächelte den Polizeibeamten an. »Mädchen werden nie wirklich erwachsen. Ihre Väter rufen ihnen stets Sitte und Anstand in Erinnerung.«

Vor wenigen Tagen noch war sie unter den Tresen gekrochen, um ihm zu entkommen, und jetzt flirtete sie mit ihm. Mütter! Wir mixten ihr einen Drink, der so schwach war, dass den Kohlensäurebläschen auf der Suche nach Whisky-Atomen ganz schwindlig wurde. Wir verfielen in friedliches Schweigen, starrten zu den kleinen Lichtern auf dem Meer hinaus, die dort auf ihren Styroporflößen schaukelten. Nach ein paar Monaten des Fischens wurden die Dorfbewohner lethargisch. Sie bauten feinmaschige Fallen und ließen diese von kleinen Schaumstoffpontons herab, auf denen Gaslaternen brannten. Am nächsten Tag kamen die Fischer mit ihren Booten zurück, um nachzusehen, was sich in ihren verbotenen Netzen verfangen hatte. Sie fingen ebenso viele erwachsene Tintenfische wie Jungtiere und brachten damit das ganze Ökosystem durcheinander. Es ist illegal und unverantwortlich, aber sehr hübsch anzusehen. Überall war das Wasser von den Perlentränen der Laternen übersät.

»Heute Morgen habe ich mit Tante Summorn gesprochen«, meinte Mair.

Was habe ich gesagt? Ein Schluck nur, und schon will sie der Polizei alles gestehen.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich und stieß ihr meinen Ellbogen in die Seite.

»Es ging ihr sehr gut«, sagte sie. »Sie hat mir von ihrem Sohn erzählt. Sicher haben Sie schon von ihm gehört, General …«

Die Anrede ließ Chompu aufschrecken.

»Mair, ich …«

»Er heißt Daeng«, fuhr sie fort. »Er ist unser Dorfschurke.«

»Den kennen wir gut«, sagte Chompu und nickte. »Sehr gut sogar.«

»Dann wird es Sie vermutlich überraschen zu hören, dass er das Trinken aufgegeben und sich darum beworben hat, für einen Monat die Mönchskutte anzulegen.«

»Und ich überlege, ob ich mir das linke Bein amputieren soll, weil ich einen Strumpf verloren habe«, kam Chompus Antwort.

Mair gluckste. »Es ist offiziell«, sagte sie. »Er hat sich für eine Entgiftung im wat Ny Kow angemeldet.«

»Die Wunder wollen kein Ende nehmen«, sagte der Polizist. »Was ist in ihn gefahren?«

»Ach, ich denke, irgendwann kommt unweigerlich der Moment im Leben, in dem man keine Lust mehr hat, vor seinem Gewissen wegzulaufen. Alles, was man irgendwann mal angestellt hat, holt einen wieder ein, und … ich meine, das Gewissen und das, was man angestellt hat, kommen natürlich aus entgegengesetzten Richtungen, sonst würden sie sich ja gegenseitig behindern und alles nur noch verkomplizieren. Aber deshalb dreht und wendet sich das Leben wahrscheinlich … wegen der ewigen Rempelei.«

Mair konnte gut mit Redensarten umgehen. Chompu sah von mir zu Opa Jah, aber wir zuckten beide mit den Schultern.

»Na, dann auf den Schurken Daeng!«, sagte Chompu, hob sein Glas und trank aus. Ich stieß mit Mair an und schnupperte an ihrer Wange.

»Gut gemacht, Mair«, flüsterte ich ihr ins Ohr.

Sie trank ihr Glas halb leer, schmatzte mit den Lippen und klimperte mit ihren Wimpern. »General Chompu«, lallte sie, »habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich einen Polizisten gefesselt auf einem Bambusfloß den Kok runtergeschickt hab? Es war …«

»Okay, mein Mädchen. Du hast genug gehabt«, sagte Opa Jah und nahm ihr das halb volle Glas weg. »Sie denkt sich Geschichten aus, wenn sie betrunken ist.«

»Tu ich nicht. Er hieß Sergeant Major Grit Maleenon. Er war nackt, weil er …«

»Mair!«

Sie schnappte sich ihr Glas und lachte. Der Rest der Geschichte blieb uns durch die Ankunft unseres Pick-ups erspart. Ehrlich gesagt, wäre es vielleicht besser gewesen, sich Mairs Geschichte anzuhören. Insgeheim hatte ich diesen Moment mit einiger Sorge kommen sehen, und ich kann mir vorstellen, wie Mair sich gefühlt hat. Arny hatte sein Mädchen – und ich verwende den Begriff mit einiger Vorsicht – zum Essen eingeladen. Das Festmahl, das vor uns stand, war längst kalt geworden. Arny kam eine halbe Stunde zu spät.

»Ah! Das ist das Stichwort für den diskreten, attraktiven Polizisten, sich auf den Weg zu machen«, sagte Chompu.

Arny und eine kräftige Frau waren aus dem Pick-up gestiegen. Die beiden standen halb im Schatten, aber sie schien einen Fallschirm zu tragen. Zum Glück war dieser weiß und nicht tarnfarben, sonst hätten wir die Frau völlig aus den Augen verloren, als das ungleiche Pärchen Arm in Arm über den Parkplatz kam. Ich beugte mich über den Tisch.

»Kommt gar nicht infrage, Lieutenant. Entweder bleiben Sie sitzen und essen mit uns, oder ich petze dem Polizeiministerium, dass Sie im Dienst bei Mariah Carey mitsingen.«

»Biest.«

Ich spürte, dass Mair sich wieder auf die Bank gleiten ließ, zurück in den Schatten. Opa genehmigte sich noch einen ordentlichen Schluck vom Whisky. Das glückliche Paar hielt Händchen, als es an unseren Tisch trat. Im Schein der Lampe sah ich auf Arnys Gesicht ein breites Lächeln und eine rührend stolze Miene, als er auf seine Verlobte deutete. Diese Miene hatte ich noch nie gesehen. Mair bemerkte es offenbar auch. Sie beugte sich aus dem Schatten vor und lächelte.

»Wen haben wir denn da?«, fragte sie.

Arnys Begleiterin kam an den Tisch und legte die Hände zu einem besonders respektvollen wai zusammen. Diesen erwiderten wir alle, bis auf Opa Jah, der grunzte und stattdessen einen Schluck trank. Sie war eine wirklich attraktive Frau, braun gebrannt und mit einer Nase, wie ich sie schon oft bei indianischen Holzfiguren gesehen hatte. Ihre Haare waren so dick wie Asphalt und fielen über ihren Rücken wie ein dunkles Cape. Ja, ihr Kopf war gut. Ich würde ihm eine 8,2 geben, aber wegen des Fallschirms wusste ich gar nicht, wie ich ihren Körper einschätzen sollte. Es war irgendwie beunruhigend. Es war, als sei sie aus dem Flugzeug auf einen nahen Acker gesprungen und hätte noch keine Zeit gehabt, sich vor dem Abendessen zu entwirren.

»Tut mir leid, dass wir so spät kommen«, sagte Arny, der aus unerfindlichem Grunde beschlossen hatte, uns ebenfalls mit einem wai zu begrüßen. »Wir mussten per Armdrücken entscheiden, was wir zu einem so feinen Abendessen anziehen wollten.«

Er kicherte. Es war ein echter Arny-Scherz, der auch durch die Eisenstange nervöser Anspannung, die offenbar an seinem Rücken festgeschweißt war, nicht besser wurde. Auch Opa Jah bot keine Hilfe.

»Na, offenbar hat sie verloren«, sagte er.

Ich wandte mich meinem Opa zu, um ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, und trat versehentlich Chompu ans Schienbein. Er heulte auf. Und das war der Moment, in dem alles hätte schiefgehen können. Arnys Miene entgleiste, Mairs Lächeln sah aus wie aufgeklebt, und ich wühlte verzweifelt in meiner Trickkiste herum, auf der Suche nach etwas Diplomatischem, das ich versprühen konnte. Doch da lachte das Mädchen. Es war wie die Eröffnung einer Ausstellung strahlender Zähne. Irgendwo ganz hinten in ihrer Kehle klimperten Kronleuchter und kristallene Gläser. Es war so ein Lachen, in das man nur mit einstimmen konnte.

»Ich habe auch was Richtiges zum Anziehen dabei«, sagte sie. Ihr südlicher Akzent klang melodisch und erdig wie ein Saloon. »Drüben im Pick-up … es sei denn, Sie möchten gern darüber abstimmen.«

Mair sprang auf und nahm die Frau bei der Hand und lächelte. »Ich zeige Ihnen, wo Sie sich umziehen können«, sagte sie, und wir anderen applaudierten. Alle bis auf Arny, der mit bebenden Lippen dastand, als die beiden Frauen in der Dunkelheit verschwanden.

»Ich fand, sie sah hübsch aus«, sagte er.

Ich ging zu ihm hinüber und umarmte ihn so weit wie möglich.

»Nong«, sagte ich. »Du hast das Kleid für deine Freundin ausgesucht, stimmt’s?«

»Ja.«

»Ihr wart zusammen einkaufen, und sie hat dich ein Kleid aussuchen lassen.«

»Ja.«

»Na, dann habe ich eine gute Nachricht für dich. Jede Frau, die bereit ist, in diesem Kleid vor die Tür zu gehen, nur weil du so nett warst, es ihr zu kaufen, muss dich sehr lieben.«

Sein Gesichtsausdruck wechselte von Verwirrung zu reiner Freude. Er lachte, und ich drückte ihn auf einen Stuhl. Opa Jah mixte ihm einen Drink. Als Mair und sein Mädchen wiederkamen, waren sie beste Freundinnen. Wahrscheinlich kannten sie beide dieselben alten Popsongs, verwendeten dieselbe Arthritis-Creme. Aber vielleicht bin ich nur gemein. Arny stand auf, um seine Liebste in Empfang zu nehmen. Sie trug ein hübsches, glänzendes Top, das ihre gebräunten Schultern zeigte, und figurbetonte Hosen. Offenbar hatte sie sich auch nach ihrer aktiven Zeit nicht gehen lassen. Ich fand sie selbst ganz attraktiv, aber das hätte ich Eds Schwester gegenüber niemals zugegeben. Sie hieß – wie man uns mitteilte – Kanchana Aromdee, Spitzname Gaew, und sie war eine der interessantesten Frauen, der ich in einem Leben voller Begegnungen je begegnet war. Sogar Opa Jah fand Gefallen an ihr. Sie unterhielt uns mit ihren Anekdoten und lauschte aufmerksam den unseren. Und die ganze Zeit hielt sie Arnys Hand und lächelte ihn von der Seite an, wenn er sprach.

Von unserem Whisky war nur noch ein Fingerbreit übrig. Wir hatten gegessen, und die Zeit war nur so verflogen, aber trotzdem schien niemand nach Hause gehen zu wollen. Befeuert vom Geschmack des Whiskys auf ihren Lippen gab Mair einige ihrer zweideutigeren und haarsträubenderen Geschichten zum Besten. Hin und wieder entfuhr ihr ein Fluch, was die Zensur in Form von Opa auf den Plan rief und Fassungslosigkeit auf den billigen Plätzen auslöste. Wir sprachen über unser Gulf Bay Lovely Resort und wie wir das Glück wenden, wie wir es schaffen konnten, in sechs Monaten zum Club Med am Golf zu werden. Zwischendurch bekam Chompu einen Anruf von Major Suvit, der ihm mitteilte, dass Mika Mikata tatsächlich mit ihrem eigenen Reisepass in Thailand eingereist war, um an einem internationalen Foto-Symposium in Haad Yai teilzunehmen. Unser Pak Nam lag fast auf den Punkt genau direkt zwischen Haad Yai und Bangkok. Wir tranken auf Opa Jah und ernannten ihn für den Abend zum Police Major General ehrenhalber. Chompu ließ ihn seine Mütze tragen. Gaew malte ihm mit Lippenstift ein Abzeichen auf sein korallenweißes Unterhemd, und er wehrte sich nicht.

Es war schon fast Mitternacht, als ich den Anruf bekam, auf den ich gehofft hatte. Ich taumelte zum Wasser, um den Lärm der Party hinter mir zu lassen. Ich setzte mich in den Sand und lauschte. Ich hörte, wie man mich rief, ich solle wieder an den Tisch kommen, aber ich ignorierte sie. Krebse taxierten mich, aber es war mir egal. Ich lauschte und weinte und bedankte mich und kehrte an den Tisch zurück, wo Gaew gerade eine todsichere Grifftechnik am Lieutenant demonstrierte. Mair fragte mich, wieso ich geweint hatte, und alle Aufmerksamkeit wandte sich mir zu. Während des Essens waren wir kurz auf die Ermordung des Abts und die darauf folgenden Ermittlungen zu sprechen gekommen, und jetzt hatte ich das, von dem ich hoffte, dass wir damit zum entscheidenden Schlag ausholen konnten.

Durch undurchdringliche Firewalls und unsichtbare Wurmlöcher … und diverse andere Fachbegriffe, die ich nicht verstand, war Sissi in Mika Mikatas Website eingedrungen. Dort hatte sie eine grausige Galerie von Morden gefunden, die sich als Kunst ausgaben: der Swimmingpool-Mord an dem Arbeiter mit dem orangefarbenem Helm auf Guam; ein Unterwassermord am Great Barrier Reef inmitten farbenprächtiger Korallen und anderen Meeresgetiers; der Vogelhausmord in Taiwan; und die erst kürzlich gepostete Ermordung eines Abts in Thailand. Im beigefügten Blog stand irgendein kunstsinniger, pseudopoetischer Quatsch über das Schicksal. Ein umkringelter Ort auf der Karte. Eine vage Ahnung, dass das Orange der Mönche nach ihr rief. Dass ihre Seele und der Spleen mit dem orangefarbenen Hut schließlich die perfekte Leinwand für ihre Kunst bildeten. Mika Mikata war geliefert. Die Familie Juree hatte sich ihre erste Kerbe verdient.

Als ich in dieser Nacht die Details in meine Story einfügte, nahm ich mir einen Moment, über das Opfer nachzudenken. Abt Winai hätte es zweifellos als sein Karma betrachtet. Wahrscheinlich hatte er den Augenblick schon während der Meditation vorausgesehen, war den Blumenpfad entlanggelaufen, genau in dem Moment, als Mika Mikata in ihrem Mietwagen vorüberkam. Vermutlich wusste er es schon, bevor sie durch die Büsche brach, bevor sie ihn zwang, den Hut aufzusetzen. Aus seinen Augen hatte keine Angst gesprochen, und das war sicher eine schreckliche Enttäuschung für die geistesgestörte Japanerin, die Frau, für die der Tod Kunsthandwerk war.

Sissi hatte den Link zur Orange Gallery auf der Website des Mönchsrats hinterlassen. Der Absender war nicht zurückzuverfolgen. Sie wusste, dass der Aufschrei der Empörung bis ins Polizeiministerium zu hören sein und der Fall in den Medien hochkochen würde. Alle Welt suchte nach etwas Spannendem, das die Yuppie-Rebellion von den Titelseiten verdrängte. In jedem Fall würde Mika Mikata für ihre Grausamkeit bestraft werden.

Unsere Ferienanlage war ganz still. Alle waren zu Bett gegangen. Der Tisch stand voller Flaschen und Teller und einer Gogo mit Soße ums Maul. Das Aufräumen konnte warten. Ich kickte das Moped an und fuhr nach Pak Nam, um meine Exklusivgeschichte abzuliefern. Es war eine Geisterstadt. Das Licht über dem 7-Eleven warf rote, grüne und orangefarbene Pfützen auf die Straße. Im Vorüberfahren sah ich, wie der Kassierer in eine Zeitschrift gähnte. Im Fenster über dem Laden für Pumpen und Plastikrohre brannte ein Licht, ein anderes an der Kreuzung. Es zog den Schatten einer struppigen Katze lang wie eine Giraffe. Im Internetcafé jedoch war es dunkel wie im Bananenkeller von Nintendo Kong und still wie Atlantis, nachdem die gorgonischen Invasoren vernichtet waren. Ich zog meinen Schuh aus und klopfte gegen den Fensterladen. Das Klappern hallte durch den Ort, als trampele ein einsamer Pamplona-Stier durch die Straßen, doch als Reaktion kam aus dem Fenster über dem Café nur ein müdes: »Was wollen Sie?«