Kapitel 17
»Ich denke, wir müssen den Schlagbaum zur Mittelklasse nicht nur eliminieren. Ich denke, wir sollten den Schlagbaum ganz abbauen.«
George W. Bush
Nashua, NH, zitiert von Gail Collins in der New York Times, 1. Februar 2000
Frühmorgens bekam ich einen Anruf von Dtor, meiner Freundin in Chiang Mai. Die urbanen Anarchisten hielten immer noch unser Regierungsgebäude besetzt. Seit neun Tagen waren sie nun schon da. Sie hatten Klappstühle dabei und ließen sich ihre abonnierten Zeitschriften nachsenden. Sie hatten sogar eine Reihe Toilettenhäuschen gemietet. Sie hatten Futons ausgerollt und Pizza bestellt, während die Polizisten draußen standen und sich fragten, wieso sie mit kaltem Bratreis und einer Hauswand zum Pinkeln vorliebnehmen mussten. Anarchie war eines der angesagtesten Hobbys der Mittelklasse. Längst hatte sie Pilates und Thai Chi überholt. Ich hatte die Fotos gesehen: Frauen mittleren Alters in Stretchhosen und praktischen Tops hielten ihren Mittelfinger in die Kamera. Das sollen sie mal in Birma probieren. Überall sonst könnte man davon ausgehen, dass sie von Maschinengewehren niedergemäht, mit Knüppeln verprügelt und in ihren orthopädischen Schuhen verschleppt werden würden. Verdammt, es geht um unser Regierungsgebäude. Unsere Machtzentrale. Für wen halten die sich eigentlich? Ich habe diese Leute nicht gewählt. Aber wer einflussreiche Freunde hat, muss kein Blutbad durch die Polizei befürchten. Man nimmt seinen besten iPod mit, ohne Angst haben zu müssen, dass er im Handgemenge kaputtgeht. Man weiß, dass die Gesetzeshüter es nicht wagen würden, einem etwas anzutun. Man hat die Macht im Rücken, auch wenn man sie nicht beim Namen nennen darf. Also macht man sich an sein Sudoku und schickt alten Schulfreunden E-Mails vom BlackBerry, dass man gerade an einem Aufstand teilnimmt und das Klassentreffen möglicherweise um ein, zwei Wochen verschoben werden muss.
Pak Nam jedoch war das alles ganz egal. Es hatte Tintenfische. Alles andere interessierte nicht. Die Ereignisse im wat Feuang Fa waren wie ein Monsun durch mein Leben geweht, und als sich die Wolke verzogen hatte, stand ich noch immer auf beiden Beinen, wenn auch windzerzaust und salzverkrustet. Nach allem, was passiert war, waren die Wichtigtuer wahrscheinlich wieder unter ihre Steine gekrochen und ließen Abt Kem und Schwester Bia das tun, was sie bestimmt gar nicht taten. Aber eine neuerliche Beschwerde wurde erhoben, und der nächste Tempelschnüffler war schon unterwegs. Für meinen Seelenfrieden musste ich wissen, woher diese mönchische Hartnäckigkeit rührte.
Als ich beim Tempel ankam, strich die Nonne gerade die andere Wand an, und auch das Gras drumherum. Sie trug ein weißes Käppchen am Hinterkopf.
»Wie ich sehe, hat die Haft keinerlei Auswirkungen auf Ihre malerischen Qualitäten gehabt«, sagte ich.
Sie drehte sich um und fand mich in mehr oder weniger derselben Haltung wie bei unserer ersten Begegnung. Sie lächelte und wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu.
»Manche lernen es nie«, sagte sie.
»Hab ich auch schon gehört. Ist Abt Kem zurück?«
»Er war nie weg. Er hat da oben eine Höhle, hinter dem Bergkamm. Da geht er manchmal hin, um nachzudenken.«
Das klang glaubwürdig. Ich konnte mir nicht ernstlich vorstellen, dass er nach Bangkok raste, um seine holde Maid zu retten. Die Nonne steckte den langen Büffelhaarpinsel in die Dose. Er fiel heraus, spritzte ihr die Knöchel voll und blieb in einer weißen Pfütze vor ihren Füßen liegen. Sie lachte und ließ ihn dort.
»Er hat ein Eigenleben«, sagte sie. »Wie könnte ich je hoffen, ihn zu zähmen?«
Sie ging den Weg entlang, blieb kurz stehen, um nachzusehen, ob ich ihr folgte. Ich war nicht mit einem Plan gekommen, einem Fragebogen, einer Taktik. Wenn sie nicht mit mir reden wollte, war ich darauf vorbereitet. Ich würde mich verabschieden, ihr Glück wünschen und sie mit ihren Geheimnissen allein lassen. Aber es war, als hätte sie auf mich gewartet. Wir setzten uns auf ihre Veranda und blickten in den Himmel auf. Es war einer dieser Tage, an denen man dachte, dass Mutter Natur ihre Farbideen vielleicht beim Betrachten teurer Swimmingpools fand.
»Wenn ich doch nur so malen könnte«, sagte sie. Unerwartet sah sie mir direkt in die Augen. Ich empfang seltsame Zuneigung für sie. »Der junge Polizist meinte, ich hätte meine Freiheit Ihnen zu verdanken.«
»Daran waren mehrere beteiligt, aber ich nehme das Lob gern in deren Namen entgegen.«
Sie nickte, was ich als Dank auffasste.
»Er hatte etwas in seinem Herzen«, legte sie ohne Vorwarnung los. »Er sah weder gut aus, noch war er stark, nicht mal ein besonders guter Schüler, aber er hatte etwas in seinem Herzen, das ich fühlen konnte. Ich war dreizehn oder vierzehn, kämpfte mich durch diesen Hindernisparcours, den alle Teenager meistern müssen, und sah nicht, wo mein Platz auf diesem Planeten war. Ich fing an, ihm Fragen über das Leben zu stellen. Keine Fragen wie: ›Warum sind wir hier?‹ Nur kleine Geheimnisse des Lebens. ›Glaubst du, Bäume spüren Schmerz?‹, ›Würden Ameisen gern unabhängig sein?‹ Eher lächerlich. Aber er hatte immer eine Antwort, die mich zum Nachdenken brachte, und sie ergab für mich immer einen Sinn. Er heiterte mich auf.
Und je älter ich wurde, desto wichtiger wurden mir seine Antworten. Wir wurden gute Freunde, er wurde wie ein Teil von mir. Ich kann das, was ich für ihn empfunden habe, nicht ›Liebe‹ nennen, nicht im physischen Sinne. Es war wie ein wundervoller Friede, ihn in meinem Leben zu haben. Vielleicht war meine Seele in seine verliebt. Dann wurde er Mönch. Es hat mich kein bisschen überrascht. Ich wusste, er brauchte Anleitung, um mit all den Gefühlen zurechtzukommen, über die wir gesprochen hatten. Als er ging, fühlte ich mich so schrecklich leer, nicht wegen des Menschen, sondern wegen der Botschaft. Ich wusste, dass ich bereit war, selbst zu suchen. Ich war bereit für ein Leben in Frömmigkeit und Bescheidenheit.
Über gemeinsame Freunde blieben wir in Kontakt. Viele Jahre haben wir uns nicht gesehen, aber wir trugen einander im Herzen. Das wusste ich immer. Und dann erfuhr ich völlig überraschend, dass ich einen Hirntumor habe. Ein Glioblastom. Es ist inoperabel. Ich war nicht am Boden zerstört, weil wir alle irgendwann ins nächste Leben weiterziehen, aber ich erwähnte es beiläufig in einem Brief an Abt Kem. Zu meiner Überraschung lud er mich hierher ein, um die mir verbleibende Zeit mit einem alten Freund zu verbringen. Also kam ich her. Und ich warte. Es hat schon angefangen. Meine hervorragende Koordination ist Ihnen ja schon aufgefallen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis mein Verstand meinem handwerklichen Geschick folgt. Ich werde nicht mehr wissen, an welchem Ende ich den Pinsel festhalten soll oder welche Farbe weiß ist.
Er und Abt Winai haben viele Stunden über mich gesprochen. Wahrscheinlich hätte es mir schmeicheln sollen, dass zwei bedeutende Männer so viel Zeit in mich investierten. Am Tag des Mords fällten sie die Entscheidung, dass ich bleiben sollte. Und hier bin ich nun.«
Zwei bis drei große Holzblöcke drückten mir auf die Brust. Ich konnte weder atmen noch weinen. Ich musste mir mit Seufzern einen Weg hindurchsägen, bevor ich wieder sprechen konnte. In diesem Moment passte nichts Tiefschürfendes.
»Wie lautete die Antwort auf die Ameisenfrage?«, fragte ich. »Wollen sie unabhängig sein? Das frage ich mich auch manchmal.«
Sie lachte.
»Er meinte, ich sollte Geduld haben. Irgendwann wäre ich eine Ameise und könnte die Frage selbst beantworten.«
Die Tränen kamen langsam wie Kerzenwachs. Seit ich aus Chiang Mai weggezogen war, hatte ich mich in eine echte Heulsuse verwandelt. Ich schämte mich und wollte schnell weg. Doch bevor ich gehen konnte, machte sie die Tür zu ihrer Hütte auf und winkte mich hinein.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir einen kleinen Gefallen tun«, sagte sie.
In einem Pappkarton am Fuße ihres Betts lag ein weißes Fellbündel, reglos wie ein Hermelinhandschuh. Sie griff hinein und hob es vorsichtig heraus. Es war Reisbällchen, schlaff wie eine Handpuppe.
»Er ist noch nicht ganz tot«, sagte sie. »Ich fürchte, er könnte etwas verschluckt haben. Täglich kommen und gehen hier Hunde, aber diesen kleinen Racker habe ich ins Herz geschlossen. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen kann, ihn sterben zu sehen.«
Die Dämme brachen, als ich den Pappkarton zum Pick-up brachte. Ich fand es schrecklich, bei Tageslicht zu weinen, wenn jeder meine Zerbrechlichkeit sehen konnte. Ich stellte das sterbende Reisbällchen auf den Beifahrersitz und raste wie eine Geisteskranke nach Lang Suan zu Dr. Somboom, dem Kuhspezialisten.
Eine Stunde später hielt ich vor Mairs Laden an. Ihre ganze Spuktruppe war da drinnen versammelt. Sie stellten die Regale um und putzten und warfen zehn Jahre alte Ware raus. Der Kassettenrekorder spielte einen Song mit dem Titel »Spirit in the Sky«. Es war einer von Mairs Lieblingsoldies, und die Damen des Dorfs schwangen ihren jeweils üppigen Hintern im Rhythmus der Musik. Alle machten einen glücklichen Eindruck. Ich ging zur Beifahrerseite des Pick-ups und nahm meinen Bierkarton.
»Was hast du da in dem Karton?«, hörte ich.
Opa Jah saß unter dem Baldachin auf der anderen Straßenseite und wartete auf Autos, damit er den Verkehr im Auge behalten konnte. Ich trug meinen Patienten über die Straße und setzte mich neben ihn.
»Fast toter Hund«, sagte ich.
»Du möchtest ihn verkleiden, was?«
Das kam einem Scherz näher als alles, was ich seit Jahren aus Opa Jahs Mund gehört hatte, und wenn es nach mir ginge, wollte ich auch gern noch mal so lange auf den nächsten warten.
»Na ja, dass er wirklich stirbt, ist nicht gesagt«, entgegnete ich. Ich klappte den Karton auf, um ihm das Knäuel zu zeigen.
»Bist du sicher?«
»Ich war mit ihm beim Tierarzt. Gewissheit konnte er mir nicht geben. Anscheinend ist er der Ansicht, dass in dieser Gegend neunzig Prozent aller Welpen aufgrund von Darmparasiten zugrunde gehen, bevor sie ein halbes Jahr alt sind. Er hatte so was wie einen Cocktail, der bei Kälbern angeblich Wunder wirkt. Den hat er dem Kleinen hier gespritzt, meinte aber, das Tier müsste eigentlich eine Tropfinfusion bekommen, nur hatte er leider keine da, und selbst wenn er eine gehabt hätte, könnte er nur Adern finden, die mindestens so dick wie Gartenschläuche waren. Er hat mir Antibiotika mitgegeben, für den Fall, dass der arme Wurm den Nachmittag überlebt.«
»Seit wann bist du unter die Hunderetter gegangen?«
»Opa, das ist Reisbällchen. Er ist ein Held. Er hat das Geheimnis von wat Feuang Fa gelüftet. Er ist der kleine Kläffer, der den Fotoapparat in Sicherheit gebracht hat. Er hätte ein längeres Leben verdient.«
»So gesehen.«
Eine Weile saßen wir einfach nur da. Es war ein wirklich schlechter Tag, was den Verkehr anging.
»Opa Jah?«
»Hmm?«
»Hast du Captain Waew mal getroffen?«
»Wen?«
»Den Detective aus Surat.«
»Ach, den. Nein.«
»Du solltest ihn mal einladen. Zu Besuch.«
Opa Jah wurde starr. Bei einem Mann, der ohnehin zu achtzig Prozent aus Knochen bestand, war das erstaunlich.
»Warum sollte ich?«
»Weil ihr so ein gutes Team seid.«
Er wandte sich mir halb zu, betrachtete den Karton auf meinem Schoß, dann wandte er sich wieder ab. »Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte er mit knurrendem Unterton.
»Gestohlener Milo-Schokomilch-Lieferwagen, Fingerabdrücke beseitigt, nackter Gangster an Bahnhofsbank gekettet. ›Zu Recht‹ – sa som mit Tierblut auf den Bauch geschrieben. Klingt vertraut?«
»Glaubst du etwa …?«
»Ja, tu ich. Ich denke mir, ihr wolltet ein Geständnis für den Mord an dem Hippie-Pärchen aus ihm herauspressen. Dann habt ihr rausgefunden …«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Dann hat er euch in Todesangst erzählt, seine eigene Tochter hätte den VW-Bus gefahren und die sei noch am Leben. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr echt enttäuscht wart, weil ihr beide wusstet, was für ein mieser Typ er ist.«
Opa suchte am Horizont und in den Baumwipfeln nach vorüberfahrenden Autos.
»Zum Glück habt ihr ihm geglaubt«, fuhr ich fort, »denn ich wage mir gar nicht vorzustellen, was ihr anderenfalls mit ihm angestellt hättet. Ihr konntet ihn nur erniedrigen. Also glaube ich, ihr hattet Glück.«
Ein blutroter Pick-up mit einer Fischkiste aus Plastik auf der Ladefläche tuckerte mit vierzig Stundenkilometern vorbei, spuckte Abgase und schuf sein eigenes Kraftfeld der Umweltverschmutzung. Ich stand auf und wartete, bis er vorbei war. Der Fahrer winkte. Ich winkte zurück. Hier unten winkten alle. Es würde mich nicht überraschen, wenn Ehemänner ihren Frauen beim Aufwachen zuwinkten.
»Gute Idee übrigens«, fügte ich hinzu. »Meinen Namen falsch zu buchstabieren. Von wegen ›Jumm‹.«
»Als Mädchen bist du verschwendet, Jimm Juree«, sagte er. »Verschwendet …«
Ich nahm den Karton mit an den Strand und überlegte, ob Reisbällchen wohl eine Land- oder Seebestattung vorziehen würde. Ich klappte den Deckel auf, um die Sonne hineinzulassen, und vergewisserte mich, dass er noch atmete. Nur schwach. Ich blickte zum Swimmingpool-Himmel auf, um nachzusehen, ob über uns schon die Geier kreisten. Gogo hatte die Spur des Todes aufgenommen und folgte mir zum Meeressaum. Es stimmte wohl, dass sie alles fraß, aber sicher gab es doch Tabus, selbst für Hunde. Mit drei Metern Abstand blieb sie stehen, drehte sich elfmal um, legte sich in den heißen Sand und hielt mir ihren Hintern hin.
»Dich zu lieben, ist eine Strafe«, sagte ich.
»Ich hoffe, du redest nicht mit mir.«
Mair war mir an den Strand gefolgt. Sie hielt eine kleine Flasche Yakult in der Hand. Ich verneigte mich vor einer Firma, die ein halbes Land davon überzeugen konnte, dass es nicht mehr ohne gezuckerte Milchsäurebakterien leben konnte.
»Nein, dich zu lieben, ist einfach.«
»Was ist in dem Karton?«, fragte sie.
»Reisbällchen.«
»Oh, gut. Ich hab uns Brathähnchen mitgebracht.«
Ich kippte den Karton ein wenig.
»Unverdaulich«, sagte ich.
»Ach, du armer Kleiner«, sagte sie, griff in den Karton und hob den schlaffen Welpen auf ihren Schoß. Es fanden sich Spuren höchst unangenehmer Absonderungen auf der Zeitung, auf der er gelegen hatte. Dennoch drückte Mair den Kleinen an ihre Brust und tröstete ihn. Ich sah eine zarte Bewegung, bei der es sich auch um einen postmortalen Muskelkrampf handeln mochte, dann hörte ich definitiv einen Seufzer. Ich stellte mir vor, wie ich mich als kleines Kind an dieselbe Brust geschmiegt hatte, halb tot, mit Blut und Erbrochenem in meinem Bettchen. Wer will da Kinder kriegen?
Wie zu erwarten, machte Gogo einen großen Bogen um mich und stand ganz nah bei meiner Mutter, betrachtete wütend den Patienten.
»Ich habe mit den Damen darüber gesprochen, eine Kooperative für selbst gezogenes Gemüse aufzubauen«, sagte sie. »Darüber habe ich schon eine ganze Weile nachgedacht.«
»Ach ja? Wieso hast du dann nichts gesagt? Wieso hast du es nicht gemacht?«
»Ich habe gewartet.«
»Worauf?«
»Darauf, dass es euch hier gefällt.«
»Moment mal! Wer hat gesagt, dass es mir gefällt?«
»Es gefällt dir.«
Ich wies Mair darauf hin, dass etwas Unappetitliches vorn an ihrer Bluse herablief, doch sie lächelte und nickte nur wissend.
»Arny macht auch einen glücklichen Eindruck«, sagte sie. »Und sogar Vater hat gute Momente. Ich wünschte nur, wir könnten Sissi überreden herzukommen. Dann wären wir endlich wieder die glückliche Familie, die wir früher waren.«
Ich war mir nicht sicher, ob wir eigentlich alle zur gleichen Zeit glücklich gewesen waren.
»Ich weiß nicht, ob Sissi so begeistert wäre.«
Mair nahm die verdreckte Zeitung aus dem Karton und setzte Reisbällchen wieder hinein.
»Der arme Kerl darf heute Nacht in deinem Zimmer schlafen.«
»Drinnen?«
»Selbstverständlich drinnen. Bei den vielen Schlangen und Fledermäusen kannst du ihn nicht auf der Veranda lassen. Die wittern jede Schwäche.«
Wir standen auf, wischten den Sand ab, und ich nahm den Karton. Plötzlich fühlte er sich schwerer an, als hätte Mair ihm ein Organ gespendet. Vielleicht hatte sie ihn einfach nur mit Hoffnung vollgepumpt.
»Hatte ich erwähnt, dass Ed heute Morgen hier war?«, sagte sie. »Er hat nach dir gefragt.«
»Ach ja?«
»Ja. Er ist ein netter Junge.«
»Er hatte nicht zufällig seine Schwester bei sich, oder?«
»Welche?«
»Er hat nur eine. Die Lesbe.«
»Sei nicht albern, Kindchen. Ed hat drei Schwestern, alle glücklich verheiratet. Alles in allem ungefähr zehn Kinder. Und mir ist aufgefallen, dass kein einziges Ed ähnlich sieht. Würde mich überraschen, wenn da nicht irgendwann ein kleines außerfamiliäres Techtelmechtel … Wo willst du hin?«
Ich reichte ihr den Karton.
»Sei so nett und pump noch ein bisschen Hoffnung in ihn rein«, sagte ich. »Ich hol ihn später ab.«
Ich ließ sie verdutzt am Strand stehen und stapfte zu meinem Fahrrad. Wäre es physisch möglich gewesen, hätte ich aus meinen Nasenlöchern Feuer gespien. Ich kannte Eds Haus. Es lag an unserer Straße und war unmöglich zu verfehlen. Bisher hatte ich mich immer abgewandt, sobald ich in die Nähe kam, um nicht unhöflich zu wirken, aber heute nahm ich die unbefestigte Auffahrt und schlitterte bis direkt vor die offene Haustür. Seine Mutter, eine große, joviale Frau, deren Haut in der Sonne gelitten hatte, schickte mich zum Südende der Bucht.
»Er ist bestimmt bei seinem Boot«, sagte sie.
»Er hat ein Boot? Ich dachte, er mäht Rasen.«
»Es gibt nicht viel, was Ed nicht kann«, prahlte sie.
Vermutlich gibt es irgendeinen nautischen Ausdruck dafür, aber Eds Boot parkte auf dem Gras am Ufer, etwa einen Kilometer von uns entfernt. Der Kahn, ein typisches, schlichtes, fünf Meter langes Fischerboot, stand umgekehrt auf Blöcken. Ed war mit Hobeln oder sonst irgendeiner holzbearbeitenden Tätigkeit beschäftigt. Sein Hemd hatte er ausgezogen, und der Oberkörper, den ich mir gerippt wie einen Stapel Teller vorgestellt hatte, bestand in Wahrheit ganz und gar aus Muskeln. Nicht, dass man mich falsch versteht. Er war nicht wie ein Steak. Er war schlank, aber nicht knochig. Der silbrige Schweiß klebte an ihm wie Tau an knorpeligen Ranken. Ich warf das Fahrrad hin und marschierte zum Boot. Er ignorierte mich. Ich klopfte laut an den Rumpf. Er blickte auf und besaß die Unverfrorenheit, mich anzulächeln. Ich stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich mich nicht gern belügen lasse«, sagte ich.
»Nicht?«
»Nein.«
»Okay.«
Ich glaube, er wollte sich wieder ans Hobeln machen.
»Und du hast mich belogen«, sagte ich. »Du hast mir erzählt, du hättest eine Schwester, die nicht gern mit Männern zusammen ist.«
»Ich weiß.«
»Hast du aber gar nicht.«
»Nein.«
»Und wieso hast du mir das erzählt?«
»Weil du ungehobelt warst.«
Ich stutzte. »Ha. Und inwiefern war ich ungehobelt?«
»Wenn man hier unten Besuch bekommt, behandelt man ihn nicht wie einen Lakaien. Man lässt ihn nicht warten und schnauzt ihn nicht an. Man weiß sich zu benehmen.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
»Nun, dann entschuldige bitte meine Unkenntnis der Tatsache, dass ich mich hier in der Hauptstadt des guten Benehmens befinde.«
»Danke.«
»Danke …? Wofür?«
»Deine Entschuldigung.«
»Ich habe nicht … ich …« Ich merkte, wie meine Selbstsicherheit Schräglage bekam. »Und da wir gerade beim Thema sind: Meinst du nicht, dass es in manchen Kreisen als ungehobelt gilt, sich über Lesben lustig zu machen?«
»Nein. Ich kenne keine Lesben.«
»Wirklich?«
»Mh-hm.«
»Warum um alles in der Welt sollte eine, die keine ist, so tun, als wäre sie … eine?«
»Um Männer abzuschrecken.«
»Ist das so?«
»Mh-hm.«
Ohne es zu merken, hatte ich mich in einem Netz verfangen. Plötzlich wünschte ich, sein Boot wäre seetüchtig und er schipperte draußen auf dem Golf umher. Dann hätte ich vielleicht mehr Zeit, mich zu sammeln. Ich könnte mich mit dem kühlen Kopf einer erfahrenen Journalistin mit ihm messen. Stattdessen sagte ich: »Ich hasse dich, Ed.« Und er wehrte meinen Hieb mit einem grandiosen Lächeln ab. Ich zog mich zu meinem Fahrrad zurück und befreite es aus dem Unkraut. Als es endlich aufrecht stand und ich bereit war, elegant davonzuradeln, sah ich mich zu ihm um. Er lehnte am nackten Holz des Boots und beobachtete mich.
»Eine letzte Frage«, rief ich.
»Schieß los.«
»Warst du an diesem Tag wirklich meinetwegen da?«
»Ich wollte dir sagen, dass du mir gefällst. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich zum Essen einzuladen.«
»Ha!«, sagte ich und trat manisch in die Pedale, um den Grashang hinaufzukommen, ohne absteigen zu müssen. »Wohl kaum.«
Ein Sieg, endlich. Ein letztes Mal hatte ich Narsil, das Schwert von Aragon, geschwungen und das Untier ins Herz getroffen. Doch als ich die Klinge betrachtete, war das Blut, das daran klebte, mein eigenes.