Kapitel 15

»Wer nicht für irgendwas einsteht, steht für nichts. Wer für nichts steht, steht für überhaupt nichts!«

George W. Bush

Bellevue Community College,

2. November 2000

Um halb zwölf trafen wir in Lang Suan ein. Meteoriten waren gelandet, Dinosaurier hatten sich in Goldfische verwandelt, hatten Beine bekommen und waren Präsident geworden, und noch war nicht mal Mittagszeit. Lieutenant Chompu fuhr uns direkt zu Sugits Haus. Er war davon überzeugt, dass der alte Politiker im Krankenhaus am Tropf hing, um so viel Mitleid und Medieninteresse wie möglich abzuschöpfen.

»Und wieso sind wir hier?«, fragte ich.

»Wir gehen mit seiner Tochter zum Lunch«, sagte er. »Ich habe sie angerufen und einen Termin vereinbart, als Sie bei den Chainawats waren.«

Gehobene Küche war in Lang Suan nicht leicht zu finden. Französisch, japanisch und italienisch konnte man vergessen, sogar amerikanisch, vietnamesisch und deutsch. Das war für die Einheimischen alles viel zu raffiniert. Sogar die Filiale von Kentucky Fried Chicken stand seit ihrer Eröffnung vor einem Monat leer. Also gingen wir mit der Tochter des Exministers in einen winzigen Laden neben dem Uaychai-Kaufhaus. Es gehörte der Nebenfrau eines Propangastank-Barons, den es nicht weiter interessierte, was sie kochte, solange sie Gewinn machte. Das Essen war billig, aber schlicht und lecker, und die Bedienung war so langsam, dass man reichlich Zeit zum Plaudern hatte.

Die Tochter – Mayuri – war tatsächlich die rothaarige Dienstmagd, die ich im Haus gesehen, die man mir aber nicht vorgestellt hatte. Ohne Umschweife war sie mitgekommen, war einfach freundlich lächelnd an den getarnten Gärtnern vorbeispaziert und zu uns in den Wagen gestiegen. Sie schien richtig froh über die Gelegenheit, mal rauszukommen. Sie war lustig und grell wie ihre Haare, doch offenbar mangelte es ihr traurigerweise an der rechten Distanz. Arglos wie sie war, schien sie gar nicht auf die Idee zu kommen, dass es bei diesem Lunch möglicherweise nicht nur ums Essen ging. Sie schien auch nicht zu ahnen, worauf unsere Fragen abzielten. Man musste keine große Leuchte sein, um zu merken, dass Mayuri nicht die hellste Dschunke auf dem Meer war. Ich sah keine Notwendigkeit für Diskretion.

»Ein Bulli …«, begann ich.

»Davon habe ich gelesen«, plapperte sie los. »Ist das zu glauben? Begraben. Unfassbar. Die armen Leute.«

Ich hatte keine Ahnung, wie ich danach weiter ansetzen sollte.

»Sie wussten, was ein Bulli ist, bevor Sie davon gelesen haben?«, fragte Chompu.

»Aber ja.« Sie grinste. »Die waren früher voll angesagt. Ich hab mal gehört, dass mehr VW-Busse kreuz und quer durch die Welt fahren als in ganz Deutschland. Da kommen sie nämlich her. Stellen Sie sich das mal vor! Ein ganzer Schwarm, wie Adler, die auf der ganzen Welt ihre Runden drehten. Wow!«

»Haben Sie schon mal einen gesehen?«, fragte Chompu.

Mayuri saß neben ihm. Sie beugte sich näher zu ihm heran und hielt sich die Hand an den Mund, als wollte sie ihm leise ein Geheimnis anvertrauen.

»Ich habe nicht nur schon mal einen gesehen«, sagte sie unüberhörbar. »Ich bin in einem mitgefahren. Deshalb war es ja auch so irre, als ich das in der Zeitung gelesen habe.«

Sie hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Es gab nicht mehr viele VW-Busse.

»Wann war das?«, fragte ich.

»Neunzehnhundertachtundsiebzig«, sagte sie.

Sie hatte das Jahr sofort parat. Wusste genau, wo sie gewesen war.

»Wie alt waren Sie damals?«, fragte Chompu.

»Zwanzig … ungefähr. Zweiundzwanzig?«

»Wie kam es, dass Sie in einem Bulli mitgefahren sind?«, fragte ich.

Sie schnalzte mit der Zunge und nippte an ihrer Cola.

»Was man so macht«, sagte sie. »Was man so macht, wenn man jung ist.« Sie sah, dass wir sie anstarrten, und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich keine große Sache war, wenn sie weitererzählte. »Die Siebziger waren verrückt«, sagte sie. »Dieser Militärputsch und alles voller Kommunisten und Regierungsspitzeln, und alle waren misstrauisch und gaben sich gegenseitig die Schuld. Es war nicht leicht, damals aufzuwachsen und … also … an irgendwas zu glauben. Manche von uns sind runter zu den Stränden, wo die Rucksacktouristen waren. Wir hatten eine wilde Zeit. Da unten haben wir diesen verrückten Thai kennengelernt, der im Dschungel gelebt hatte, um sich vor der Junta zu verstecken, und seiner Familie gehörte dieses Land draußen vor Surat. Er hat uns angeboten, bei ihm zu wohnen. Wir waren so eine kleine Gruppe. Wir hielten uns für Blumenkinder, aber ich glaube, bis wir ihn trafen, haben wir nur so getan, als wären wir Hippies. Dieser Thai gab uns Gelegenheit, wirklich alternativ zu leben. Wir haben da so was aufgebaut … Wie sagt man noch? – So eine Kommune. Er meinte, er hätte in Amerika auch so gelebt. Wir haben versucht, alles ohne Geld zu schaffen. Fast alles, was wir brauchten, haben wir angebaut, Tiere aufgezogen, zum Kochen Holz geschlagen und so weiter. Es war ein sehr einfaches, ein schönes Leben. – Aber es gab Bedürfnisse, wissen Sie? Je größer unsere Kommune wurde, desto mehr brauchten wir: Benzin für die Pumpen, ein Auto, einen kleinen Trecker, aber wir haben mit dem Zeug, das wir produzierten, nichts verdient. Wir konnten gerade eben davon leben. Also brauchten wir Geld. Wenn ich so darüber nachdenke, heißt das wohl, dass wir nicht gerade autark waren. Der Sinn sollte eigentlich sein, dass wir … Na, jedenfalls fiel mir da mein sogenannter Vater wieder ein. Ich hatte seit Jahren nicht mit ihm gesprochen, aber damals habe ich Kontakt aufgenommen und ihn gefragt, ob er mir etwas Geld geben würde. Er ist nicht darauf eingegangen, aber er meinte, er hätte vielleicht ein paar kleine Jobs für uns, mit denen wir unsere Brötchen verdienen konnten. Er hat mir von dieser Autovermietungsgeschichte erzählt. Er hat die Miete vorgeschossen und Ausweise machen lassen. Zwei von uns haben ein Auto gemietet, es zu seinem Freund ein Stück die Küste raufgefahren und es dort gelassen. Sein Freund brachte es dann nach Hua Hin und vermietete es zum dreifachen Preis an Ausländer weiter. Danach hat er es wieder zurückgebracht.«

»Wie kommen Sie darauf, dass das so gehandhabt wurde?«, fragte Opa Jah.

»Was sollten sie denn sonst damit machen?«, fragte sie.

»Stehlen.«

»Ach, meinen Sie? Das klingt aber doch viel unehrlicher, als es nur auszuleihen, oder?«

»Finden Sie es denn nicht merkwürdig, dass Sie die Autos nicht wieder zur Vermietung zurückbringen sollten?«

»Stimmt. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

»Okay«, sagte ich. »Und wie lange waren Sie und Ihre Freunde an diesem Betrug beteiligt?«

»Ich weiß nicht. Drei Monate? So ungefähr. Es war leicht verdientes Geld. Und wissen Sie, wir fanden es nicht illegal. Wir haben nur das Geld der Reichen umverteilt. Das war unsere Philosophie, unser Mantra.«

»Den Reichen zu nehmen, um sich selbst zu geben?«, fragte Opa Jah.

Mayuri begriff nicht.

»Wir sind mit tollen Autos rumgefahren, haben uns die Gegend angesehen, haben uns Zeit gelassen und sind mit dem Linienbus zurückgefahren. Und wir hatten Geld für unsere Kommune.«

»Und wie war das jetzt mit den VW-Bussen?«, fragte Chompu.

Zwei unserer sieben Bestellungen kamen. Wir wussten nicht, ob wir loslegen oder auf den Rest warten sollten. Mayuri löste das Dilemma, indem sie einen Löffel in den Bratreis mit Garnelen tauchte und eine ordentliche Portion auf ihren Teller schaufelte.

»Soweit ich mich erinnere, waren wir zwei oder drei Pärchen, die Autos mieteten«, sagte sie. »Vor allem Fords und Austins, solche Dinger. Nett, aber nichts Aufregendes. Dann sagte man uns, wir sollten zu dieser Firma gehen, die zwei Bullis hatte. Es waren die Streitwagen der Blumengötter. Wir waren richtig ehrfürchtig. Dad wollte Limousinen, aber wir konnten einfach nicht widerstehen. Wir mieteten einen der beiden VWs. Es war ein Riesenspaß. Wir waren im siebten Himmel, aber wir haben ihn verloren.«

»Den Bulli?«

»Den Verstand. Genau dieses Leben hatten wir gesucht. Dieses Bulli-Nirwana. Als wir dann in dem Bus herumgefahren sind, war das besser als Drogen.«

»Die Sie aber außerdem dabeihatten«, warf ich ein.

»Vor allem Gras. Wir haben es in den Bergen rund um die Kommune angebaut. Es war natürlich eine Sünde. Aber das waren Bier und Fliegenklatschen auch, deshalb hatten wir damit kein Problem. Für uns war Religion eine unterdrückerische Doktrin, gegen die wir uns auflehnten. Also hatten wir auf der Fahrt immer ein bisschen Dope dabei. Wir hatten ein sicheres Versteck, denn die Bullen waren damals noch bolschewistischer als heute.«

»Freut mich zu hören«, sagte Chompu.

»Mein damaliger Seelengefährte hieß Wee, ein wunderschöner Mann. Er meinte, wir sollten den Bus nicht direkt zum Händler bringen, sondern uns ein bisschen damit vergnügen.«

»Also haben Sie es gar nicht bis nach Chumphon geschafft?«, fragte ich.

Sie kicherte, und ich sah das wilde Mädchen in ihren Augen. Mair hatte dieselben diabolischen Rudimente in sich.

»Wir sind nicht mal über die Grenzen der Provinz hinausgekommen«, sagte sie. »Gleich am nächsten Morgen wurden wir von der Polizei angehalten und ins Revier von Chaiya verfrachtet.«

»Weshalb?«, fragte ich. Langsam wuchs diese Geschichte mit den Erinnerungen von Captain Waew, dem Detective aus Surat, zusammen.

»Ach, wissen Sie, so ein Bulli hat magische Kräfte. Wir sind rumgefahren, haben was gekifft. Fuhren noch ein Stück, haben noch was gekifft. Und schon waren wir wieder auf dem Weg zurück nach Surat. Total die falsche Richtung. Also haben wir uns ein hübsches Plätzchen in der freien Natur gesucht und uns für die Nacht hingehauen.«

»Die Polizei hat Sie nackt und bekifft im VW-Bus aufgegriffen«, sagte Opa Jah. »Sie standen keine zwanzig Meter neben dem Highway.«

»Wir waren verrückt, Mann. Wie gesagt.«

Wieder kicherte sie und schaufelte Reis in sich hinein. Die Erinnerungen schienen sie in Schwung zu bringen. Anscheinend war ihre Vergangenheit erheblich lustiger als ihre Gegenwart.

»Was war dann?«, fragte Chompu.

»Wir hatten gefälschte Ausweise. Wir wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis die Bullen es rausfinden und einen Zusammenhang mit den anderen Autos herstellen würden, die wir gemietet hatten. Wir wollten keinen Ärger. Dann kam dieser Inspektor aus Surat und erklärte uns, er würde gegen meinen Dad ermitteln – nur wusste er nicht, dass es mein Dad war –, und bot uns einen Deal an. Er meinte, er könne uns das Gefängnis ersparen, wenn wir gegen den alten Mann aussagen würden. Alles besser, als im Gefängnis zu sitzen, oder? Also haben wir eingewilligt.«

»Gegen Ihren eigenen Vater auszusagen?«, fragte Opa Jah.

»Ja, wissen Sie, wir standen uns nie sehr nah. Keine Ahnung. Vielleicht hätten wir es nicht durchgezogen, wenn er uns rausgeholfen hätte, aber er hat geschwiegen. Hat so getan, als würde er uns nicht kennen. Ich hatte Angst, er wolle uns opfern. Verstehen Sie? So war er. Aber jedenfalls, während wir es uns noch überlegten, hat man uns in diesem hübschen, kleinen Häuschen einquartiert, mit Kühlschrank und Fernseher. Der Detective meinte, dort wären wir in Sicherheit, könnten aber nicht raus. Da stand dieser fette Constable am Tor und passte auf. Es war eigentlich ganz cool. Wir haben nur rumgehangen und ferngesehen. Es war alles dermaßen surreal. Aber dann tauchte Dad auf.«

»Und hat Ihnen geholfen, Ihre Entführung zu inszenieren?«, sagte ich.

»Ja. Es war ganz einfach, denn der Constable war weg und hatte die Türen offen gelassen. Komisch eigentlich.«

Der Rest unserer Bestellung kam und begegnete unseren Hoffnungen auf dem Weg nach draußen. Die Leichen im VW-Bus waren offensichtlich nicht diese beiden.

»Sind Sie danach wieder zurück zur Kommune?«, fragte Chompu.

»Nein. Das wollten wir lieber nicht. Wir dachten, die Polizei hätte bestimmt schon alles über uns rausgefunden und das Gelände durchsucht. Dad meinte, wir sollten verschwinden und untertauchen.«

»Wo sind Sie hin?«

»Wir haben uns treiben lassen. Haben uns angepasst. Hier und da kleine Jobs angenommen. Die ganze Sache mit den Blumenkindern war ziemlich schnell vom Tisch. Wie sich rausstellte, kamen Wee und ich als Paar in der normalen, kapitalistischen Welt nicht zurecht. So sind wir auseinandergedriftet.«

»Irgendeine Idee, was mit dem Bulli passiert ist, den Sie gemietet hatten?«, fragte ich.

»Nein. Den habe ich das letzte Mal auf dem Parkplatz hinter dem Polizeirevier von Chaiya gesehen. Ich denke, er wurde seinem Besitzer wiedergegeben.«

»Nein«, sagte Opa Jah. »Der hat ihn nicht zurückbekommen.«

»Nicht? Na, dann hat ihn bestimmt einer von den Gesetzeshütern adoptiert«, sagte Mayuri, während sie doppelt so viel aß wie wir, obwohl sie das Gespräch bestritt. »Ich hatte gedacht, der, den man gefunden hat, war vielleicht der, mit dem wir rumgefahren sind.«

»Irgendeine Ahnung, wer den zweiten Bus gemietet hatte?«, fragte Chompu.

»Nein … Wie gesagt: Wir sind nicht wieder dorthin zurück.«

»Wissen Sie noch die Namen von den anderen in der Kommune?«, fragte Opa Jah.

»Ja, aber das bringt nichts. Wir hießen alle Bread und Steed und Morning Glory. Wir haben unsere Namen hinter uns gelassen, als wir auf die Farm kamen. Wir wussten gar nicht, wie die anderen richtig hießen. Wissen Sie, Wee hieß gar nicht wirklich Wee. Es ist Englisch und bedeutet Urin. Das Zeug ist voller Nährstoffe. Indische Fakire trinken es wie O-Saft.«

»Hübsch«, sagte Chompu und stellte sein Glas ab. »Wohin haben Sie Ihre gestohlenen … ich meine, geliehenen Mietwagen denn gebracht?«

»Tako.«

Tako lag etwa dreißig Kilometer die Küste hinauf. Von Surat aus gab es zwei Wege. Wenn man den Highway nahm, kam man durch Lang Suan. Die einsame Nebenstrecke, auf der man den Polizeisperren entging, führte an der Küste entlang, fast bis nach Pak Nam. Damals gab es da noch keine Brücke, also musste man einen Umweg fahren, der einen weit den Fluss hinauf fast bis zu Old Mels Plantage brachte. Wir mussten herausfinden, wer den zweiten Bus gemietet hatte. Tan Sugit war nach wie vor verdächtig.

»Mayuri, Sie stehen Ihrem Vater bis heute nicht sehr nahe, oder?«, sagte ich.

»Weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen. Sie haben den alten Scheißkerl doch nur ein Mal gesehen.«

»Ach, ist nur so ein Gefühl«, fuhr ich fort. »Sie belasten ihn in vielerlei Hinsicht. Sie verfluchen ihn. Sie sitzen nicht an seinem Bett, um seine Hand zu halten.«

Sie lachte, und eine Nudel fiel ihr aus dem Mund. »Man muss ihm nicht die Hand halten«, sagte sie. »Ihm fehlt nichts.«

»Er wurde entführt und gefoltert«, rief ich ihr in Erinnerung.

»Bestimmt nicht.«

»Wissen Sie etwas über die Vorfälle der letzten Nacht, was Sie uns anvertrauen möchten?«, fragte Chompu.

»Der Doktor, den ich angerufen habe, meinte, das mit der Folter sei ein Produkt seiner Fantasie. Er hat sich die Nase gebrochen, aber angesichts der zahllosen Schönheitsoperationen hat er wahrscheinlich nicht mal was davon gemerkt. Nein, ich wette, er hat sich mal wieder sinnlos mit seinen Huren betrunken, und die haben ihm einen bösen Streich gespielt. Er kriegt nichts mehr mit, wenn er besoffen ist. Mit der Geschichte von den Terroristen wollte er nur sein Gesicht wahren.«

»Warum wohnen Sie bei ihm?«, fragte ich.

»Er hat mich als unbezahlte Haushälterin aufgenommen. Ich hatte keine Arbeit mehr. Keinen Mann. Kein Glück. Ich habe Kontakt zu ihm aufgenommen und ihn gefragt, ob er nicht irgendwas für mich zu tun hätte. Er hat mich gefragt, ob ich kochen kann. Bis dahin hatte ich noch nie mit ihm im selben Haus gewohnt. Gucken Sie nicht so überrascht! Ich bin Kind Nummer vier von mindestens achtundzwanzig. Sieben verschiedene Frauen. Nur eine davon hat er geheiratet. Ich musste ihn daran erinnern, wer meine Mutter ist. Da ist nicht sonderlich viel – wie sagt man – elterliche Zuneigung im Spiel, obwohl ich ihn nachts manchmal daran erinnern muss, dass wir Blutsverwandte sind, wenn Sie verstehen, was ich meine …«

Wir setzten Mayuri zu Hause ab, und auf dem Rückweg durch die Stadt waren wir uns einig, dass sich der Kreis im Bulli-Fall geschlossen hatte. Opa und ich blieben im Auto sitzen, während Chompu mal kurz beim Dienststellenleiter des Reviers von Lang Suan reinschaute.

»Opa Jah«, sagte ich, »wie erklärst du dir das alles? Ich meine, die Entführung, diese Nachricht an mich?«

»Ich weiß nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Das Mädchen könnte recht haben. Möglicherweise hat es da jemand mit dem Sadomasochismus etwas übertrieben.«

»Nackt mit Handschellen an eine Bahnhofsbank gekettet?«

»Manche dieser Bardamen können sehr nachtragend sein, Nong Jimm. Man lässt eine sitzen und geht zu einer anderen …«

»Und was ist dann mit diesen Worten auf seinem Bauch … sa som

»Es bedeutet ›zu Recht‹.«

»Ich weiß, was es bedeutet, Opa, aber warum sollten Bardamen so etwas schreiben? Findest du nicht, dass es irgendwie bedrohlich klingt? Und du glaubst doch bestimmt nicht, dass die Nachricht an mich nur Zufall war. Da muss es eine Verbindung geben.«

Ich bekam jedoch keine Gelegenheit, mir seine Antwort anzuhören. Die atemlose Rückkehr von Lieutenant Chompu unterbrach uns, als er in den Wagen sprang und uns seine kleinen, makellosen Zähne zeigte.

»Ich muss Ihnen nicht erst sagen …«, stieß er aus und keuchte, »dass es mir nicht freisteht, Ihnen davon zu erzählen, aber … es gibt gute Neuigkeiten und schlechte Neuigkeiten und gute Neuigkeiten und schlechte Neuigkeiten und schließlich gute Neuigkeiten. Aber das ist alles besser als gar keine Neuigkeiten. Womit soll ich anfangen?«

Beide funkelten wir ihn an.

»Na dann. Erstens ist das kleine Mädchen tatsächlich ein Wunderkind, denn das Benz-Kennzeichen stimmt. Man hat den Wagen gefunden. Die schlechte Nachricht ist, dass er einer Autovermietung in Phuket gehört und der Knabe, der drüben in der Ferienanlage gewohnt hat, einer ihrer Fahrer war. Er heißt Wirapon, Spitzname Keeo.«

»Das schließt ihn nicht aus«, sagte ich. »Mietwagenfahrer können auch Mörder sein.«

»Das stimmt. Aber anscheinend ist er bereit, der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen. Sie holen ihn von Phuket her, zusammen mit den Unterlagen zu dem Kunden, der den Wagen gemietet hatte, und dem Fahrtenbuch.«

»Klingt für mich nicht nach einem Verbrecher«, sagte Opa Jah.

»Für mich auch nicht. Er wird so um drei hier sein, dann dürften wir ein paar Antworten bekommen. Also, wo war ich? Ach ja. Gute Nachricht Nummer zwei ist, dass wir laut Gerichtsbeschluss die Nummer der Person zurückverfolgen durften, die den Unfall von – oder besser: den Überfall auf – Sergeant Phoom gemeldet hat. Die Handynummer gehört dem Besitzer eines Ladens für Rollstühle und Gehhilfen in Lang Suan. Die schlechte Nachricht ist, dass der Besitzer sagt, er hätte nicht angerufen. Er hatte das Telefon seinem Bruder geliehen, der an diesem Tag aus Chonburi zu Besuch war. Der hatte hier unten geschäftlich zu tun und sein Ladegerät vergessen. Er meinte, sein Bruder sollte am nächsten Tag wieder zu Hause sein und wollte nicht hier-
bleiben müssen, um bei der Polizei auszusagen. Die Krankenhausnummer war im Handy eingespeichert.«

»Na, wenn das stimmt …«, sagte ich.

»… und falls der zweite Zeuge recht hatte, dass er einen Mann und eine Frau am Unfallort gesehen hat«, fügte Chompu hinzu, »heißt das, dass der andere Wagen von einer Frau gefahren wurde. Die Polizei hier kriegt den Bruder nicht zu fassen. Wahrscheinlich hat er immer noch nicht rausgefunden, wie man sein Handy auflädt. Aber der Krückenhändler meinte, sein Bruder hätte den Unfall erwähnt. Er meinte irgendwas von einem teuren Auto und einer Chinesin, die nicht Thai sprechen wollte. Sie war völlig fertig, weil sie als Erste am Unfallort gewesen war. Als der Bruder eintraf, ist sie weggefahren. Er war allein. Ihm blieb nur, Hilfe zu rufen.«

»Das wird alles ziemlich kompliziert«, sagte ich.

Es summte in meinem Kopf. Straßenbauarbeiter verbreiterten meine Engstirnigkeit. Versuchten, meine Wahrnehmung zu erweitern. Ich musste die Ereignisse der letzten Woche durchgehen, einen männlichen Täter löschen und ihn durch einen weiblichen ersetzen. Wie sexistisch war ich eigentlich? Kein einziges Mal hatte ich mich in den Hotels und Ferienanlagen nach Frauen erkundigt. Kein einziges Mal hatte ich die Möglichkeit bedacht, dass eine Frau zu solchen Gewalttaten fähig war. Sogar als man mir eine Tatverdächtige präsentierte, habe ich mich gegen die Möglichkeit gesträubt. Ich war eine schlimme Chauvinistin.

»Sie muss nicht unbedingt Chinesin gewesen sein«, sagte Opa Jah mit seiner entnervend ausdruckslosen Stimme. »Vielleicht war es eine Thai mit Perücke.«

Ich lachte. »Wozu bräuchte sie eine Perücke, um jemandem vorzugaukeln, sie wäre …? Oh.« Ich begriff. »Du bist immer noch bei der Nonne, nicht?«

»Es passt alles zusammen«, sagte er. »Sie richtet es so ein, dass es aussieht, als hätte jemand Fremdes es getan, und verkleidet sich. Mietwagen. Schleicht sich aus dem Tempel und wieder rein, ohne gesehen zu werden. Motiv. Gelegenheit. Außerdem ist sie eine klassische Psychopathin, die zwei Drittel ihres Lebens einen Mönch verfolgt hat. Auf die würde ich wetten.«

Ich glaubte es nicht. Nicht nur, weil sie eine Nonne war, die ihr Leben lang die wahre Liebe gesucht hatte. Es war sehr wohl möglich, dass ich das gut nachempfinden konnte, aber eine gute Journalistin sollte in der Lage sein, Distanz zu einem Fall zu halten. Selbst wenn ich von Opas Szenario ausging und ich mich an einem Punkt wiederfand, dass ich Abt Winai von der Abteilung Inneres ausmerzen musste, um bei meinem Liebsten sein zu können, hätte ich so eine Tat doch niemals derart methodisch durchplanen können. Ich sah den Mord an diesem Abt nicht als Zwischenspiel. Hier wurde nicht einfach nur eine Bedrohung ausgeschaltet. Ein Mitwisser wurde aus dem Weg geräumt. Ich hatte die Fotos gesehen. Abt Winai war zweifellos der Star der Show, und sein Ableben war der Höhepunkt. Alles drehte sich um ihn, nicht um sie.

»Ich glaube, es wird Zeit, dass wir Ihrem Großvater die Fotos zeigen«, sagte Chompu.

Daran hatte ich natürlich selbst schon gedacht, wenn auch nur kurz. Opa Jah hatte sich unser Vertrauen verdient, aber hier ging es nicht nur darum, Informationen zu vermitteln. Hier wurde ein Geheimnis verraten. Der Lieutenant und ich hatten Beweise bewusst zurückgehalten. Das war eine Straftat. Opa Jah konnte nicht mal ein Bier trinken, ohne freiwillig ins Röhrchen zu pusten. Da verstand er keinen Spaß. Er hatte sich sein eigenes Leben vermiest, indem er ehrlich war. Ich hatte keine Ahnung, wie er das jetzt aufnehmen würde. Chompu konnte bei diesem Lotteriespiel alles verlieren, wofür er gekämpft hatte, aber er setzte dennoch alles auf eine Karte.

Opa Jah überlegte ein paar Sekunden. Sein Kopf nickte im Rhythmus des Piepens, das anzeigte, dass die Fahrertür nicht zu war. Dann sah er den Polizisten an.

»Ich hab mich schon gefragt, wann ihr wohl dazu kommen würdet«, sagte er.

»Du wusstest, dass ich die Bilder runtergeladen habe?«, fragte ich.

»Du meinst, es interessiert mich nicht, wieso ein Polizeileutnant morgens um halb elf mit dir auf dein Zimmer geht?«

Darauf hätte ich abfällig antworten sollen, aber ich war immer noch schockiert.

»Hast du mir schon wieder nachspioniert?«

»Ich saß nur zufällig gerade in einem Busch und dachte mir nichts Böses. Aber ich gebe zu, ich hätte nichts dagegen, mir diese Bilder mal aus der Nähe anzusehen.«

Opa war dabei. Wir waren gerettet. Eine Allianz dreier wenig vertrauenswürdiger Leute.

»Tja, und als wären das nicht schon genug gute Nachrichten«, sagte Chompu, »habe ich unseren bescheidenen Ermittlungen noch etwas hinzuzufügen. In seiner Aussage hatte Tan Sugit erwähnt, er sei von vier Ganoven – manchmal werden es auch sechs bis acht, je nachdem mit wem er redet – entführt worden, in einem Milo-Schokomilch-Kühlwagen. Die Firma Milo gab an, ein solcher Wagen sei am Abend vorher gestohlen worden. Die Polizei von Lang Suan hat ihn vor ein paar Stunden hinter der Töpferei verlassen aufgefunden. Die Spurenabteilung ist drübergegangen, aber offenbar wurden die entscheidenden Stellen gut abgewischt. Alles deutet darauf hin, dass Tan Sugits Entführung wohl doch nicht seiner Fantasie entsprungen ist.«

Chompu setzte uns zu Hause ab und versprach, sofort anzurufen, sobald er wusste, was der Mercedes-Fahrer ausgesagt hatte. Ich setzte Opa Jah vor meinen Computer und zeigte ihm, worauf er klicken sollte. Gerade war ich auf dem Weg zu Mair in den Laden, als ich unsere junge Gastfamilie wieder auf der Veranda sitzen sah. Mir fiel auf, dass Gogo bei den Kindern lag und ihnen den Bauch hinhielt. Mir hielt sie nie den Bauch hin. Anscheinend mochte sie alle Menschen, nur mich nicht.

»Dürfte ich Sie mal was fragen?«, sagte der Vater.

Ich hoffte, es wäre nichts Schwieriges: die Gezeiten, die Namen der Inseln, die man vage am Horizont ausmachen konnte, oder die Gattung dieser knallgrünen Vögel, die regelmäßig hinten auf unserem Zaun saßen. Meine Kenntnisse in dieser Hinsicht waren begrenzt.

»Selbstverständlich.«

Gemächlich schlenderte er neben mir den Weg hinter den Strandtischen entlang. Er war gut gelaunt, attraktiv, wie jung verheiratete Männer es manchmal sind, und sehr höflich, und die Frage, die er mir stellte, war einfacher als befürchtet.

»Hätten Sie vielleicht Interesse, dieses Gelände zu verkaufen?«

Meine erste Reaktion war, dass die Bande aus einem Hochsicherheitstrakt für gestörte Familien ausgebrochen sein musste. Ich sah über meine Schulter hinweg zu seiner Frau und den glücklichen Kindern hinüber. Sie wirkten eigentlich ganz normal.

»Warum?«

»Wir sind die ganze Küste abgefahren«, sagte er, »auf der Suche nach einem kleinen Hotel, das wir übernehmen könnten. Der Vater meiner Frau ist letztes Jahr verstorben und hat uns eine kleine Summe hinterlassen, mit der wir nicht gerechnet hatten. Wir träumen manchmal davon, irgendwas an der Küste aufzuziehen. Wir schwimmen nicht im Geld, aber ich könnte Ihnen ein faires Angebot machen. Es gefällt uns hier.«

»Ach so? Warum?«

»Haben Sie sich denn noch gar nicht umgesehen?«

Auf sein Geheiß hin sah ich mich um. Das unentschlossene Wetter der letzten Woche riss sich endlich mal am Riemen, und ein schwarzer Pudding von einer Sturmwolke rollte auf uns zu und nahm dabei den ganzen, riesengroßen Himmel im Osten ein. Es war so ein Steven-Spielberg-Moment. Ich wusste instinktiv, dass ich dem jungen Vater gut zureden sollte, aber ich sah nur die verzweifelten Mienen seiner hungernden Kinder vor mir.

»Hören Sie. Ehrlich. Wir sind seit neun Monaten hier und haben noch nicht mal genug verdient, dass wir davon unsere Autoreifen aufpumpen könnten.«

»Aber das liegt nur daran, dass Sie es nicht lieben.«

»Was?«

»Keiner von Ihnen ist wirklich hier. Ich habe Sie beobachtet. Ich sehe Sie alle kommen und gehen, aber Sie sind nicht mit dem Herzen bei der Sache. An so einer Anlage muss man arbeiten. Sie haben nichts zu essen im Kühlschrank, keine Ware im Laden. Die Hütten sind schäbig und wenig einladend. Niemand fegt den Strand.«

Leute fegen Strände?

»Sie wohnen alle nur hier. Ich kann Ihnen ein Angebot machen und Ihnen Gelegenheit geben, dorthin zu gehen, wo Sie wirklich sein wollen, wo immer das auch sein mag.«

Ich ging in den Laden und erwischte Mair dabei, wie sie eine weiße Operationsmaske mit schwarzem Filzer anmalte. Plötzlich schien es mir gar nicht mehr so wichtig. Ich war in einem Zustand irgendwo zwischen aufgeregt und total verängstigt. Ich wusste, es wäre nur die erste Auseinandersetzung in einer langen Schlacht, doch das Schicksal hatte mich gestählt.

»Mair, du kennst doch die Familie in Zimmer zwei, oder?«

»Wir haben Gäste?«, sagte sie, wobei sie Maske und Stift in ihre Schürze stopfte. »Das ist schön. Arny hat gar nichts davon gesagt.«

»Wahrscheinlich, weil er davon nichts weiß. Er ist nicht da. Er hat ein Rendezvous mit Großmütterchen. Er war kaum hier, seit diese Familie da ist. Sie mussten die ganze Küste runterfahren, um was zu essen zu bekommen. Sie benutzen ihre eigenen Handtücher. Der Typ hat den Wasserkasten in der Toilette repariert. Es ist peinlich.«

»Der Wasserkasten war kaputt?«

Ich setzte mich neben sie auf den kleinen Badezimmerhocker, nahm ihre Hand und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Mair, hör mal. Es funktioniert nicht. Der Zauber, den du dir hier unten versprochen hast, will sich nicht einstellen. Aber den Leuten in Zimmer zwei gefällt es hier. Es ist ein Wunder, aber sie wollen die Ferienanlage kaufen. Ich kenne dich …«

»Na gut.«

»Na gut, was?«

»Ich verkaufe sie ihnen.«

»Wirklich?«

»Wenn ihr es alle wollt. Ja, ich kann verkaufen.«

Ich weiß nicht genau, ob ich das Gefühl wirklich beschreiben kann, das durch meinen Körper ging, als sie das sagte, aber ich will es versuchen. Anfangs war ich begeistert, ekstatisch, funkelnd. Es war, als hätte ich warme Maden in den Adern. Unerwartet jedoch wurden sie immer langsamer und schwerer und kalt und froren schließlich ein. Mein ganzer Körper war voll eisiger Maden.

»Bist du sicher?«, fragte ich.

»Kindchen, in Chiang Mai waren wir fünf Menschen in einem Haus. Fünf Individuen, die außer dem Nachnamen nichts gemeinsam hatten. Wir waren von Autos umzingelt und haben Ruß geatmet. Wir sind durch Lärm und Aggression und anderer Leute Probleme gewatet. Wir waren alle dermaßen in uns selbst gefangen, dass wir nicht mehr füreinander gelebt haben. Ich hatte gehofft, wir würden als Familie vielleicht wieder etwas aufleben. Ich wollte meine Kinder und meinen Vater wiederhaben, solange ich sie noch erkenne, bevor es zu spät ist.«

»Mair, ich …«

»Aber wenigstens haben wir es versucht. Auf neun Monate kann man stolz sein. Sissi freut sich bestimmt, wenn wir zurückkommen.«

So einfach war das. Wir konnten alle nach Hause fahren und wieder glücklich sein. Opa Jah konnte wieder Autos beobachten. Arny konnte wieder in sein asexuelles Sportstudio. Ich wieder an meinen Schreibtisch gleich neben dem Leitenden Kriminalreporter, der immer zu sterben versprach, Drink für Drink, es aber nie tat. Und Mair konnte wieder in …

»Was treibst du hier, Mair?«, fragte ich.

»Treiben?«

»Ja. Und lüg mich nicht an. Es ist erniedrigend. Es gefällt mir nicht. Was treibst du jede Nacht in deinem schwarzen Aufzug, mit diesem Schädlingsbekämpfungsmittel, wenn du am Strand entlangschleichst?«

Schon wollte sie wieder ihr Titanic-Lächeln aufsetzen, aber ich schätze, sie wusste wohl, dass das Spiel aus war. Sie nahm mich bei der Hand und massierte meine Knöchel mit dem Daumen.

»Wir suchen einen Mann heim«, sagte sie. Ich hielt die Luft an und wartete. »Den Mann, der John getötet hat. Ich habe herausgefunden, wer es war. Der Sohn von Tante Summorn. Er ist ein böser Mensch, ein Trunkenbold, ein Schläger. Er trägt eine Waffe und bedroht die Leute. Mein Privatdetektiv wusste sofort, wer meinen Hund vergiftet hat. Es war nicht schwierig, sich auszumalen, wie weit John gelaufen war, bis das Gift wirkte. Und der Mann hatte schon unzählige andere Hunde getötet, weil sie seine kostbaren Hühner verschreckt hatten.

Ich habe mich mit den Besitzern der anderen Hunde getroffen, die er vergiftet hat. Sie waren alle wütend, aber die Polizei unternimmt nichts dagegen. Die sagt, man soll seine Hunde anleinen. Wir seien selbst schuld. Aber, Kind, sieh es dir an. Wie kann man einen Hund in dieser hübschen Landschaft anketten? Unsere Hunde sind alle wohlgenährt. Für sie war es nur ein Spiel. Und seine Hühner liefen frei herum. Er meinte, sie hätten das Recht herumzurennen, wie es ihnen gefiel, die Hunde aber nicht. Die Leute hier waren zu höflich oder zu ängstlich, um den Schläger mit ihrem Verdacht zu konfrontieren. Sie haben mit seiner Mutter gesprochen, aber die hat längst keinen Einfluss mehr auf ihn. Sie hat selbst Angst. Er wohnt in einer Hütte hinter ihrem Haus. Er arbeitet nicht. Er klaut. Er erpresst Geld mit Drohungen. Er ist ein ganz böser Mensch, Jimm. Bei unserem Treffen haben wir beschlossen, dass wir ihn mit den Geistern aller Tiere heimsuchen sollten, die er umgebracht hat. Er ist ein Säufer, also war es nicht schwierig, in seine Träume einzudringen. Bei Nacht kamen die Stimmen der Hunde zu ihm. Ihre Schatten strichen über sein Fenster, aber wenn er vor die Tür lief, war da nichts. Leere Tüten mit Schädlingsbekämpfungsmittel, die er doch eigentlich vernichtet hatte, standen jeden Morgen wieder vor seiner Tür. Hinzu kam dieses Geheul, dieses unaufhörliche Jaulen, das ihn die ganze Nacht wach hielt. Dann lief er mit seiner Waffe um die Hütte, aber da waren keine Hunde, und sobald er ins Bett ging, fing das Heulen wieder an. Er hat drei Nächte nicht geschlafen. Gestern Abend hat er keinen Alkohol getrunken. Heute früh war er im Tempel von Kor Kow, um Jao Mair Guan Im, der chinesischen Göttin der Gnade, zu opfern. Als er wieder nach Hause kam, ging er zu seiner Mutter und hat ihr erzählt, er würde von Geistern heimgesucht, und fragte sie, was er tun soll. Sie hat uns Bescheid gesagt. Sie meinte, in ein bis zwei Tagen müsste er endgültig zusammenbrechen.«

Mair hatte ein Lächeln im Gesicht, das nicht von der alten Sorte war. Es war frisch und lebendig und real. Es war das Lächeln, das ich beim Lunch auf Mayuris Gesicht gesehen hatte: jung und verschmitzt. Es war dieses Lächeln, mit dem eine andere Mair uns Kindern ihre Geschichten erzählt hatte. Es bewies, dass noch Glut in ihr war.

Ich ging zurück zu Zimmer zwei und bedankte mich bei dem Vater für sein Angebot, musste ihm jedoch leider sagen, dass meine Mutter um keinen Preis verkaufen wollte. Die Sturmwolken blieben kurz über uns hängen, dann wälzten sie sich weiter nach Birma, ohne auch nur eine einzige Träne zu vergießen.

Opa Jah lief über den Sand, mit hängendem Kopf und hochgezogenen Schultern. Ich holte ihn ein.

»Tut mir leid, dass wir sie dir nicht früher gezeigt haben«, sagte ich.

»Das macht nichts.«

»Was denkst du?«

»Ich denke, es steckt viel mehr dahinter. Ich entschuldige mich bei der Nonne. Sie war es nicht. Das war – ich weiß nicht – psychopathisch. So was habe ich noch nie gesehen. Es war weder ein Auftrag noch ein Rachemord. Die Fotos sollten nicht nur die Tat dokumentieren. Wenn man das wollte, würde man sie filmen. Damit man nichts verpasst.«

»Mit einer modernen Ausrüstung kann man bei jedem Bild anhalten und es ausdrucken«, sagte ich. »Die Qualität ist fast so gut wie bei einem Fotoapparat.«

»Dann ist der teure Fotoapparat irgendwie relevant. Es ist, als wolle er oder sie einzelne Kunstwerke anfertigen, um zu zeigen, wie clever er oder sie ist. Um damit anzugeben.«

»Eine Art Performance«, sagte ich.

Ich dachte an die Farben. Sie hatten mich vom ersten Moment an fasziniert. Farben. Dann sickerte das Bild leuchtend grüner Overalls in meine Gedanken, bäuchlings in einem unfertigen Mosaikteich, auf einem Floß aus Blut. Mit orangefarbenem Helm und allem. Ich nahm mein Handy und drückte eine alte Nummer.

»iFurn, telefonische VIP-Betreuung. Ich bin Dr. Monique …«

»Sis, ich bin’s. Hör mal, könntest du Yoshi erreichen?«

»Toshi.«

»Toshi, genau. Frag ihn, ob es bei diesem Mord in dem Hotel auf Guam, wo der Typ im Swimmingpool gelandet ist, eigentlich Verdächtige gab.«

»Nimmst du mich plötzlich ernst?«

»Ich hab dich immer ernst genommen, pee. Und wenn du schon dabei bist, könntest du deinen versoffenen Detektiv in Kalifornien nach mehr Einzelheiten zu dieser Geisteskranken fragen, die die überfahrenen Tiere fotografiert hat? Frag ihn, ob die Partyhütchen orangefarben waren.«

»Vielleicht habe ich noch einen für dich.«

»Noch einen was?«

»Mord mit orangefarbenem Hut. Ich habe eine Nachricht aus Taiwan bekommen. Ein dürrer, chinesischer Inspektor. Ich hoffe, er hat sein Profilfoto nicht verschönert, denn dann müsste sein wahres Ich das reine Grauen sein. Er konnte sich vage an ein Blutbad in einem Vogelhaus erinnern. Der Mörder wurde nie gefasst. Das Merkwürdige war, dass das Opfer, eine Frau, einen orangefarbenen Wahlkampfhut der Partei People First trug, aber eine überzeugte Anhängerin der Kuomintang war, und deren Farbe ist Blau. Erst dachten sie, es wäre ein politisch motivierter Mord, aber keiner verstand, wem die Tat nützen sollte. Die Frau hat Vögel gepflegt. Papageienscheiße aufgewischt. Also ist der Fall zu den Akten gewandert.«

Vogelhaus. Exotische Vögel. Orangefarbener Hut. Farbe.

»Okay. Nimm das mit in deine Suche auf«, sagte ich. »Ich nehme alles mit orangefarbenen Hüten und farbenfrohen Tatorten. Ich habe so eine böse Ahnung, dass das alles irgendwie zusammenhängt.«

»Wenn wir diesen Fall lösen, bin ich vielleicht die schärfste, einbeinige Russin bei Police Beat

»Du darfst niemandem was davon erzählen. Noch bewegt sich das alles im Reich des Absurden. Aber sag mir Bescheid, sobald du irgendwas findest. Da sitzt eine Nonne in einer schmuddeligen Zelle in Bangkok, umzingelt von tätowierten Lesben, und wir müssen sie da rausholen.«

»Wird gemacht. Ende der Durchsage.«

Wir liefen zum Laden zurück, Opa Jah und ich. Kow, der Tintenfischkapitän, verkaufte auf der anderen Straßenseite von seinem Beiwagen aus Fischfrikadellen.

»Schon gehört?«, rief er.

»Ich hör nie irgendwas«, sagte ich, obwohl das überhaupt nicht mehr stimmte.

»Oben im wat Feuang Fa wurde ein Abt ermordet. Aufgeschlitzt von einer Nonne.«

Wie machte er das? Nachts fischte er im leeren Meer, und tagsüber fuhr er auf seinem Moped herum. Wieso war er der Welt immer um eine Nasenlänge voraus? So viel zum Sinn und Zweck der Nachrichtensperre. Wenn Käpt’n Kow es wusste, würde es nicht mehr lange dauern, bis sämtliche Zeitungen im Land es erfuhren. Ich hatte ein Problem. Der Großteil meines Artikels war geschrieben, aber ich hatte noch kein Ende. An vielen Stellen hatte ich Platz für aktuelle Erklärungen der Polizei gelassen und mir alle Mühe gegeben, meine Nonne nicht zu belasten. Ich wusste, dass die anderen Käseblätter nicht so zartfühlend wären. Nein, ich wollte noch nichts wegschicken. Ich hoffte, die Nachrichtensperre würde genügend Druck auf die Presse ausüben, dass die Story noch mindestens vierundzwanzig Stunden nicht auf den Titelseiten landete. Aber bis dahin musste ich alles geklärt haben. Schließlich war es meine Story.

Der Nachmittag zog sich in die Länge wie ein Nylonnetz, in dem nur eine einzige Sprotte hing. Boote schaukelten. Palmen schwankten. Wolken hingen fest. Wie lange konnte es dauern, einen Mordverdächtigen zu verhören? Na gut – Wochen, ja. Es konnte ewig dauern. Aber der Mann war nur ein Chauffeur. Er konnte nicht so viel zu sagen haben. Mair und ich sahen uns an, wie die Familie aus Zimmer zwei auszog, und beschlossen, ihnen kein Geld abzuverlangen. Das war das Mindeste, wenn wir ihren Traum schon zum Platzen brachten. Ich war mir sicher, dass wir ihnen einen Gefallen getan hatten. Wir bedankten uns bei ihnen dafür, dass sie den Spülkasten repariert und uns Freiheit angeboten hatten. Der Vater gab mir seine Visitenkarte, für alle Fälle … Ich erklärte ihm, ich könnte wirklich nichts für ihn tun, und steckte seine Karte ein.

Und wir warteten, Opa Jah und ich. Ein Lieferwagen mit einem Lautsprecher schlich vorbei und bot an, Altmetall und Flaschen und Blechdosen und kaputte Motoren mitzunehmen. Der Fahrer hätte sich ohne Weiteres aus dem Fenster lehnen und freundlich fragen können, aber er hatte die Anlage so laut gedreht, dass unsere Scheiben klirrten und ich fast das »Mamma Mia«-Klingeln überhörte. Ich drückte auf das Telefon.

»Ja?«

»Ich.« Es war Chompu. »Lang Suan hat uns eben per E-Mail die Digitalaufnahme des Verhörs geschickt. Ich habe sie Ihnen weitergeleitet.«

Die Großstädterin in mir erschrak darüber, dass man in Lang Suan eine Ahnung von der digitalen Welt haben sollte.

»Was? Wie denn? Wir haben hier kein Internet«, erinnerte ich ihn.

»Dann fahren Sie irgendwohin, wo Sie online gehen können.«

Wir tuckerten auf dem Moped vor uns hin, ich auf dem Rücksitz, Opa Jah am Lenker. Ich hatte gedacht, Aufregung und Eile würden ihn über sechzig Stundenkilometer treiben, aber nein. Gesetz war Gesetz. So kurzfristig hatten wir nur eine Möglichkeit, meine Mails zu checken. Es war fünfzehn Minuten vor vier an einem Sonntagnachmittag, und ich wusste, dass das Internetcafé von lauter kleinen Sternenkriegern überlaufen wäre. Leider hatte ich unterschätzt, wie viele tatsächlich dort sein würden. Die Reihe der Mopeds vor dem Laden zwang uns, vierzig Meter abseits zu parken. Wir drängten durch einen Pulk junger Leute hinein, die nicht wussten, wohin sie sonst sollten. Der Besitzer, ein Bursche mit langen Haaren und Akne wie eine Mondlandschaft, blickte kurz von seinem Notebook auf, als wir eintraten, dann wendete er sich wieder ab, als hätte der Wind die Tür aufgeweht. Alle fünf Computer waren besetzt von jeweils zwei bis drei Teenagern, die damit beschäftigt waren, Burgen zu erstürmen oder Horden von Schurken zu massakrieren.

»Wie lange müssten wir warten?«, fragte ich den Besitzer.

Der Mann zuckte mit den Schultern. Jetzt machte er sein bestes Geschäft – frühabends und an Wochenenden. Bei zwanzig Baht pro Stunde konnte er an einem Abend wie diesem ohne Weiteres – äh – hundertzwanzig Baht pro Computer einnehmen. In dreiundsiebzig Jahren hätte er die Geräte abbezahlt. Ein erstaunliches Geschäft.

»Also gut«, rief ich. »Wer wäre bereit, für … fünfzig Baht einen Computer frei zu machen?«

Alle wendeten sich wieder ihren Spielen zu. Ich versuchte es mit hundert und zweihundert Baht – dieselbe Reaktion.

»Also, gut«, sagte ich. »Wie viel würde es mich kosten?«

Eine Gruppe steckte die Köpfe zusammen und forderte eine Summe von fünfhundert Baht. Sie wollten nicht feilschen. Es war Wucher, aber ich war verzweifelt. Ich händigte ihnen das Geld aus, bat um ein zusätzliches Paar Kopfhörer, und Opa und ich nahmen Platz, um uns mit dem Verhör zu beschäftigen. Es dauerte eine Viertelstunde, die Datei herunterzuladen, und derweil knirschte Opa mit den Zähnen. Gut, dass sie nicht echt waren.

Drin.

Die Aufnahme begann mit mehreren Minuten persönlicher Fragen: Name, Adresse, Beruf et cetera. Dann kam Major General Suvit, der das Verhör leitete, zur Sache.

Major G: Koon Wirapon, warum sind Sie letzte Woche nach Lang Suan gekommen?

Fahrer: Ich hatte einen Auftrag, Sir. Eine Kundin wollte für acht Tage einen Mercedes mieten.

Major G: Wer war diese Kundin?

Fahrer: Hier steht es. (Rascheln von Papier.) Ming Xi Wu aus Hong Kong.

Major G: Beschreibung.

Fahrer: Um die fünfzig, klein, für ihr Alter gut in Form, kurze, feste Dauerwelle, könnte auch eine Perücke gewesen sein, typisch chinesisches Gesicht mit großer, altmodischer Sonnenbrille. In Safarianzug mit Stiefeln.

Major G: Wo wollte sie hin?

Fahrer: Es war eher planlos. Sie wollte sich etwas umsehen. Als sie sich das erste Mal an die Firma gewendet hat, stand in der E-Mail, dass sie Tempel und regionale Vögel sehen wollte. Sie hatte Fotoapparate und Ferngläser und so Zeug dabei.

Opa Jah und ich sahen uns an. Ich wusste, dass er sofort an die Ornithologin in unserer Cabana dachte. Zufall?

Major G: Sie haben sie also nur herumgefahren?

Fahrer: Mehr oder weniger, Sir. Manchmal sollte ich irgendwo anhalten. Dann ist sie rausgesprungen und hat Fotos gemacht oder durch ihr Fernglas gesehen.

Major G: Haben Sie sie zum wat Feuang Fa gebracht?

Fahrer: Ehrlich gesagt, Sir, kenne ich mich mit den Namen der Tempel hier in der Gegend nicht so aus. Ich bin aus Trat. Ich bin das erste Mal hier am Golf.

Major G: Vielleicht erinnern Sie sich. Es ist nur ein kleiner Tempel, aber er liegt oben auf einem Hügel. Man sieht ihn von der Straße aus. Auf der einen Seite ist die Böschung voller Bougainvilleen.

Fahrer: Ach ja. Daran erinnere ich mich. Dafür hat sich mein Fahrgast ganz besonders interessiert.

Major G: Was war denn los?

Fahrer: Es war am zweiten Tag. Wir fahren durch die Gegend, und da sieht sie plötzlich diesen Tempel, und es ist, als hätte sie noch nie was Schöneres gesehen, und sie plappert auf Chinesisch, und ich verstehe nicht, was sie will. Ich spreche ganz gut Englisch, aber sie kann nur einzelne Wörter: halt, fahren, langsam, wenden. Sie sagt mir, ich soll am Tempel langsam fahren, aber nicht anhalten. Sie führt mich weiter hinten auf diesen schmalen, unbefestigten Weg. Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir direkt rauf zum Tempel fahren könnten, aber davon will sie nichts wissen. Wahrscheinlich hat sie nicht verstanden, wovon ich rede.

Major G: Und?

Fahrer: Und ich denke, sie will Fotos machen. Sie sagt mir, ich soll an diesem schmalen Weg halten, richtet ihre Kamera ein, schnappt sich ihre Schultertasche und sagt, ich soll warten. Dann verschwindet sie in den Büschen. Ich wende den Wagen und parke neben dem Weg. Etwa fünfzehn, zwanzig Minuten später ist sie wieder da, völlig aufgelöst. Sieht aus, als hätte sie sich geprügelt. Sie ist ganz verschwitzt und am Bein verletzt. Und wütend, o Mann, ist sie wütend. Und sie redet in ihrer Sprache immer weiter, weiter, weiter. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, aber ich kann Ihnen sagen, sie hat mir Angst gemacht. Sie meint: ›Fahren, fahren‹, also habe ich sie zurück nach Pak Nam gefahren und dort abgesetzt.

Major G: Wo wohnte sie?

Fahrer: Bei Freunden, der E-Mail nach zu urteilen. Keine Ahnung, wo das war. Sie hat sich von mir immer an der Kreuzung beim Krankenhaus aufsammeln und absetzen lassen.

Major G. Woher wussten Sie, wann Sie sie abholen sollten?

Fahrer: Entweder hat sie die Uhrzeit auf einen Zettel geschrieben, oder sie tauchte plötzlich im Tiwa Resort auf. Da habe ich gewohnt. Das hatte sie extra so eingerichtet.

Major G: Und wann sind Sie ihr das nächste Mal begegnet?

Fahrer: Am nächsten Abend. Ich hatte sie den ganzen Tag nicht gesehen. Wusste nicht, was sie von mir wollte. Um acht Uhr abends taucht sie im Tiwa auf. Da sitze ich gerade auf der Veranda und genieße ein Glas Saeng Som mit Cola. Ich hab nur meine Shorts an, ja? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie den Wagen an diesem Abend noch brauchen würde. Nicht viele Vögel leuchten im Dunkeln, wissen Sie? Aber sie ist bester Dinge und möchte gefahren werden. Also denke ich, wahrscheinlich ist ihr nach ein wenig Nachtleben zumute. Ich gehe selbst hin und wieder gern mal in die Disco. Aber nein, sie will mich nicht dabeihaben. Sie scheint zu glauben, dass sie mit dem Wagen auch allein zurechtkommt. Aber wir haben unsere Vorschriften. Wenn jemand das Auto mietet, um es selbst zu fahren, müssen wir Sicherheitsüberprüfungen vornehmen. Die Firma behält die Reisepässe ein und achtet darauf, dass die Leute einen internationalen Führerschein haben. Das steht im Gesetz, oder? Aber diese Frau hatte ein Fahrzeug mit Chauffeur gebucht, und deshalb hatte es auch keine Überprüfung gegeben. Ich durfte sie den Wagen nicht fahren lassen.

Major G: Und was ist dann passiert?

Fahrer: Sie holt dieses Bündel mit Tausend-Baht-Scheinen raus und wirft es vor mir auf den Tisch. Es waren zwanzigtausend.

Major G: Sie haben nachgezählt?

Fahrer: Ja, später. Es war viel Geld, aber ich konnte sie nicht einfach fahren lassen. Hätte sie einen Unfall gehabt oder eine Mauer gerammt, wäre ich geliefert gewesen.

Major G: Also haben Sie sich geweigert, ihr den Wagen zu überlassen?

Fahrer: Anfangs, ja.

Major G: Aber dann?

Fahrer: Habe ich sie fahren lassen.

Major G: Sie haben Schmiergeld angenommen und ihr erlaubt, gegen das Gesetz zu verstoßen?

Fahrer: Nein. Ja, also, ich habe das Geld genommen, aber das war nicht der Grund, wieso ich ihr den Wagen überlassen habe.

Major G: Und was war der Grund?

Fahrer: Ich hatte Angst vor ihr.

Major G: Sie sind ein kräftiger Kerl. Sie hatten Angst vor einer kleinen Chinesin?

Fahrer: Ja, ich weiß. Wenn man es so sagt, klingt es lächerlich. Aber sie hatte so etwas an sich. Etwas in den Augen, das nicht richtig war. Und sie hatte diese Schultertasche, wie Soldaten sie haben, und hat immer wieder reingelangt, und irgendwann dachte ich, sie hat bestimmt eine Waffe dabei.

Major G: Aber gesehen haben Sie keine.

Fahrer: Nein.

Major G: Und auch kein Messer?

Fahrer: Nein.

Major G: Sie haben sie also mit Ihrem Auto wegfahren lassen, weil Sie sie für gefährlich hielten?

Fahrer: (lange Pause) Ja. Sie hatte eine Hand in ihrer Tasche, als sie mich um den Schlüssel bat.

Major G: Klingt bedrohlich.

Fahrer: Sie hätten dabei sein sollen.

Major G: Wahrscheinlich. Und Sie haben ihr den Schlüssel gegeben.

Fahrer: Ja.

Major G: Und wann haben Sie sie dann wieder gefahren?

Fahrer: Gar nicht.

Major G: Sie waren für acht Tage gebucht. Das war erst der dritte Tag.

Fahrer: An dem Abend habe ich sie so gegen zehn kommen hören. Ich ging raus, aber sie war schon weg.

Major G: Sie war an diesem Abend allein mit dem Wagen unterwegs?

Fahrer: Ja, Major.

Major G: Und sie hat das Fahrzeug heil zurückgebracht?«

Fahrer: Hat sie. Am Benz war nichts kaputt, also konnte ich ruhig schlafen. Aber sie hat den Schlüssel behalten, und den Ersatz auch. Drei Tage habe ich nichts von ihr gesehen. Der Benz parkte neben meinem Zimmer, und ich hatte keine Ahnung, was ich für sie tun sollte, also habe ich in meiner Hütte herumgesessen und ferngesehen und getrunken und gegessen. Ich meine, bezahlt wurde ich so oder so.

Major G: Aber in Ihrem Fahrtenbuch haben Sie davon nichts erwähnt.

Fahrer: Ich hatte Angst, mein Chef würde mir für die Tage, die ich nicht gefahren bin, den Lohn kürzen. Ich habe ihm auch nichts von dem Geld erzählt, und dass der Wagen ohne mich unterwegs war.

Major G: Und warum erzählen Sie es mir?

Fahrer: In Phuket hat man mir gesagt, es geht um einen Mord. Ich werde mich nicht in Lügen verstricken, wenn am Ende eine Mordanklage droht.

Major G: Das ist klug. Haben Sie eingesessen?

Fahrer: Vier Jahre in Prem. Einbruch, als Jugendlicher. Seitdem bin ich sauber.

Major G: Und haben Sie sie noch mal wiedergesehen, bevor Sie nach Phuket fuhren?

Major G: Ja, es war Donnerstag, und ich sollte den Wagen vor Freitagmorgen abgeben. Ich hatte immer noch keinen Schlüssel. Ich dachte schon, ich müsste meinen Chef anrufen. Da taucht sie plötzlich auf. Ich stehe auf dem Balkon, aber sie beachtet mich gar nicht, steigt in den Wagen und fährt los. Sagt kein Wort. Wirkt irgendwie aufgeregt.

Major G: Wann haben Sie den Wagen wiederbekommen?

Fahrer: Ich habe ihn später am selben Tag draußen vor der Ferienanlage gefunden, parkend am Straßenrand. Der Schlüssel steckte, also nahm ich an, dass sie ihn nicht mehr brauchte. Sie hatte eine Beule in die vordere Stoßstange gefahren, und es war ihr wohl unangenehm. Auf dem Fahrersitz lagen noch mal zehntausend Baht. Ich sage Ihnen, ein Benz, bei dem der Schlüssel steckt, mit Bargeld auf dem Sitz. In Phuket hätte er keine vierzig Sekunden überlebt. Anscheinend leben hier unten nur Heilige. Ich hatte genug von ihr. Auf dem Rückweg habe ich an einer Werkstatt gehalten und den Kotflügel ausbeulen lassen.

Es folgte einiges Hin und Her, um die Zeiten zu bestimmen, wann Ming Xi Wu den Wagen gehabt hatte, und um die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen. Major General Suvit wollte wissen, wo sie am ersten Tag ihrer Reise gewesen waren, alles, was die Frau gesagt und getan hatte, und in welche Richtung sie gegangen war, als sie ausstieg. Er war sehr gründlich. Dann überraschte er mich damit, dass er mit dem Fahrer Englisch sprach. Der Polizist war ziemlich gut, klar und deutlich, leicht zu verstehen, aber der Fahrer hatte keine Ahnung, was er sagte. Der Major General versuchte es mehrmals, ohne Erfolg. Damit stand bald fest, dass es vermutlich eher dem Fahrer als der Frau an Kommunikationstalent mangelte. Schließlich kam die Frage, auf die ich gewartet hatte.

Major G: Hat die Frau Sie zu irgendeinem Zeitpunkt gebeten, im Polizeirevier von Pak Nam anzurufen?

Fahrer: Nein, Sir.

Major G: Nichts wegen eines verlorenen Fotoapparats?

Fahrer: Nein.

Und das war es mehr oder weniger. Es kamen noch ein paar Fragen, aber im Großen und Ganzen war es das. Wir zahlten unsere vierzig Baht und gingen langsam zum Moped zurück, kauten alles noch mal durch.

»Dieser Major General ist pfiffig«, sagte Opa.

»Die haben den einen oder anderen Schlauen reingeschmuggelt, seit du nicht mehr dabei bist«, erklärte ich. »Hat er irgendwelche Fragen vergessen?«

»Ich hätte noch mehr darauf gedrängt, ob es vielleicht doch möglich wäre, dass die Frau eine Thai war, die sich als Ausländerin ausgegeben hat.«

»Du denkst doch nicht immer noch an die Nonne?«

»Nicht unbedingt. Uns fehlt noch ein Verbindungsstück, und zwar dieser Anruf beim Revier von Pak Nam, als der Fotoapparat verloren gemeldet wurde. Hätte ein Ausländer angerufen, hätte man es vermerkt.«

»Es könnten die Freunde gewesen sein, bei denen sie in Pak Nam gewohnt hat. Komplizen. Die hätten für sie anrufen können.«

»Dann ist da noch die Frage, woher sie eigentlich wusste, dass der Fotoapparat gefunden worden war. Woher wusste sie, dass er mit dem Sergeant unterwegs nach Lang Suan war?«

Ich blieb stehen und überlegte.

»Wer hat den ersten Anruf wohl entgegengenommen?«, fragte ich.

»Der diensthabende Beamte.«

»Der gute Sergeant Phoom, genau. Bestimmt hat er die Nachricht weitergeleitet. Aber was ist, wenn sich niemand die Mühe gemacht hat, ihm zu sagen, dass schon mit dem ersten Anruf irgendwas nicht stimmte? Auf dem Revier war eine Menge los. Wäre es nicht möglich, dass man ihm nicht Bescheid gegeben hatte?«

»Sehr gut möglich, wenn man bedenkt, wie es auf einem Polizeirevier zugeht.«

»Und was wäre, wenn man ihm eine Telefonnummer gegeben hätte, die er anrufen sollte, sobald sich was Neues ergab? Man überlässt ihm den Fotoapparat, damit er ihn nach Lang Suan bringt, aber bevor er losfährt, ruft er diese Nummer an und gibt durch, dass er sich auf den Weg macht. Er ist ein entgegenkommender Mensch. Er glaubt, er tut der Gerichtsmedizin einen Gefallen. Hilft dem Besitzer.«

Wir waren nicht weit vom Krankenhaus in Pak Nam, also machten wir einen kleinen Umweg. Sergeant Phoom sah schon erheblich besser aus, aber seine Verwandten hockten immer noch um sein Bett und machten einen Heidenlärm. Bestimmt freute er sich schon darauf, entlassen zu werden, damit er sich irgendwo ein ruhiges Plätzchen suchen konnte. Es war keine Wache mehr da. Wir setzten uns zu ihm, und ich fragte ihn nach dem Anruf. Dieser war von einem Handy gekommen, und er erinnerte sich daran, dass eine Frau angerufen hatte. Es war mit Sicherheit eine Thai gewesen, und sie hatte ihm erklärt, sie riefe im Auftrag des Polizeihauptquartiers in Lang Suan an. Sie hatte eine Telefonnummer hinterlassen, und genau wie ich vermutete, hatte er sie angerufen, um ihr zu sagen, dass er ihr den Fotoapparat bringen würde. Unwissentlich hatte er den Überfall auf sich selbst angeschoben. Der Major hatte ihm aufgetragen, den Fotoapparat wegzubringen, aber da er nur ein Sergeant war, hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihm die Vorgeschichte oder die Bedeutung dieses Botengangs zu erklären. Er dachte, er bringt nur etwas zurück, was verloren wurde. Er hatte die Nummer immer noch auf einem Zettel in seiner Brieftasche. Die Versuchung, sofort anzurufen, füllte meine Blase mit Begeisterung, aber ich hatte mir schon genug an Beweismitteln zu schaffen gemacht. Um den Sergeant etwas aufzuheitern, ließen wir ihn seine Offenbarung selbst melden. Die Verspätung konnte er auf seine Gehirnerschütterung schieben. Ich dachte, so müsste er sich vielleicht nicht wie ein völliger Versager vorkommen. Ich erklärte ihm, falls man ihn aufgrund dieser neuen Beweise befördern sollte, wollte ich feudal zum Essen eingeladen werden – alles außer Fisch.

Auf dem Heimweg dachte ich über die Ornithologin nach, die eine Woche in unserem hintersten Zimmer verbracht hatte und einen Tag zu früh abgereist war. Außerdem dachte ich an die Frau unseres Postboten, die Nudel-Lady, und mindestens vierzig weitere Frauen aus dem Dorf, die so verkleidet werden konnten, dass sie der Beschreibung von Ming Xi Wu, der Mörderin aus Hongkong, entsprachen. Und ich dachte an meine Nonne und fragte mich, ob irgendjemand die Aussage des Fahrers ernst nehmen würde. Es hatte absolut keinen Sinn mehr, sie als Tatverdächtige ins Auge zu fassen. Das konnte man allerdings nur nach Betrachtung der Fotos verstehen. Ich fürchtete, wir würden die Bilder preisgeben müssen. Ein beschwingter, schwedischer Klingelton riss mich aus meinen Gedanken. Es war Chompu.

»Ist das Ihr Werk?«, fragte er.

»Bitte?«

»Sergeant Phooms Gedächtnisverlust, was die Telefonnummer angeht.«

»Manches spricht sich rum.«

»Der Major hat mich darauf angesetzt, die Nummer zurückzuverfolgen. Der alte Gerichtsbeschluss gegen die Telefongesellschaft hat noch Geltung. Weil die Anruferin ihre Nummer hinterlassen hatte, dachten wir nicht, dass sie mit dem Verbrechen direkt etwas zu tun hat. Wir hatten recht. Es war die Nummer eines Dienstleistungsunternehmens namens uRinguist.«

»Was hat das mit dem verlorenen Fotoapparat zu tun?«

»Nun, ich habe die Nummer noch nicht angerufen, aber ich habe mir deren Website angesehen. Anscheinend blüht deren Geschäft mit Übersetzungen und Dolmetschern. Ein Geschäftsmann kommt aus Übersee und muss einem – sagen wir – thailändischen Fabrikbesitzer eine Nachricht zukommen lassen. Er ruft uRinguist an und hinterlässt eine Nachricht in seiner Sprache, die daraufhin ins Thailändische übersetzt wird. Dann ruft ein thailändischer Muttersprachler den Fabrikbesitzer an, agiert als Assistent des Besuchers und übermittelt die Nachricht. Falls es eine Antwort gibt, dreht sich der Vorgang um, und der fremde Geschäftsmann bekommt die Antwort in seiner eigenen Sprache. Dadurch steigt der Besucher ein wenig in seinem Status. Es ist eine dieser genialen Ideen, auf die man gern selbst gekommen wäre.«

»Sie sagen also, Sergeant Phoom wurde von einem Auftragsdienst angerufen?«

»Ja. Die haben die Nachricht nur vorgelesen. ›Hallo, ich rufe an im Auftrag von …‹ et cetera pp.«

»Und er hat den Auftragsdienst zurückgerufen.«

»So scheint es. Dort hat man die Antwort übersetzt und der Mörderin vermutlich eine SMS in ihrer Sprache geschickt, dass der Fotoapparat auf dem Weg nach Lang Suan war. Auf diesen Augenblick hat sie lange gewartet. Ich fürchte nur, ich muss den Richter wieder mit Hundeaugen ansehen, um einen Blick in die Akten von uRinguist werfen zu dürfen. Es ist ein vertraulicher Auftragsdienst. Und das alles wird bis morgen früh warten müssen, weil kein Richter, der etwas auf sich hält, am Sonntag arbeitet. Und ich habe nicht mal einen Kundennamen, den ich ihm geben könnte.«

»Die Verbindung mit Hongkong war falsch?«

»Überraschung! Keine der Angaben, die der Autovermietung geschickt wurden, stimmte. Wir haben keine Ahnung, wie sie wirklich heißt, aber wir wissen doch etwas über sie.«

»Schockieren Sie mich.«

»uRinguist hat keine chinesischen Dolmetscher. Die arbeiten nur mit drei Sprachen: Thai, Englisch und … Japanisch.«