Kapitel 12
»Wir alle müssen den weltumspannenden Ruf hören, dass man seinen Nachbarn genauso mögen soll, wie man gern gemocht werden möchte.«
George W. Bush
zitiert in der Financial Times, 14. Januar 2000
Wissen Sie, wie es ist, wenn der Hühnerdungmann mit seinem Laster vorbeikommt und – statt den Dung ordentlich zwanzig Zentimeter um den Stamm einer Palme zu platzieren, wie es den allgemeinen Umgangsformen entspricht – alles auf Ihr bestes Wassermelonenbeet kippt und abhaut? Und alle Hühner auf dem Hof gucken sich den Haufen an und fragen sich, wieso man dafür bezahlt hat, wenn sie es doch auch umsonst hätten herstellen können – vielleicht nicht gerade einen solchen Haufen, aber doch eine brauchbare Menge. »Bist du denn mit unserer Arbeit nicht zufrieden?«, würden sie sagen.
Sie wissen nicht, wie das ist? Na, dann haben Sie auch keine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe, als ich an diesem Abend endlich wieder in unsere Ferienanlage kam und merkte, dass ich noch das Abendessen zubereiten sollte. Ich war wie eine dieser Wassermelonen, fühlte mich eingeengt und feucht und dungig. Ich brauchte Zeit, um den Dung zu verteilen. Ein bisschen Raum zum Atmen. Doch in einem ihrer Milliarden kundenfreien Momente kam Mair zu mir in die Küche geschlendert.
»Ed …«, setzte sie an.
»Mair, könnten wir bitte wenigstens dieses eine Mal nicht über Ed sprechen?«
»Na gut. Er sagt, er kommt um acht wieder und hat dir was zu sagen.«
»Danke. Hör mal, Mair, ich bin spät dran. Könntest du die Karotten für mich putzen?«
»Ach, Kind. Könnte ich doch nur. Aber irgendjemand muss den Laden hüten.«
Ich spürte, dass meine Selbstbeherrschung riss wie eine Sehne.
»Du hast drei Komma sieben Kunden pro Tag«, sagte ich. »Sie geben im Schnitt siebenundzwanzig Baht aus. Unsere größten Verkaufserfolge sind Wasser in Flaschen, einzelne Zigaretten und Knoblauch. Bei dieser Geschwindigkeit können wir uns in dreiundzwanzig Jahren ein Windspiel leisten, das wir draußen vor dem Laden aufhängen. Wir leben von dem, was beim Verkauf des Ladens in Chiang Mai übrig geblieben ist, und angesichts dessen, wie schnell wir es ausgeben, müsste nächstes Jahr eigentlich alles weg sein. Das Ladenhüten bringt uns kein Essen auf den Tisch. Das Karottenschaben schon.«
Sie setzte ihr Titanic-Lächeln auf, und ich wusste, dass ich zu ihr durchgedrungen war. Sie nahm eine Karotte und fing an, daran herumzunagen.
»Wusstest du schon, dass die Schale einer Karotte das Beste enthält?«, sagte sie.
Ich kippte die Schüssel mit den ungeputzten Karotten ins kochende Wasser und hatte den heißen Spritzer an der Wange wohl verdient.
»Na super«, sagte ich. »Toll.«
»Hatte ich schon erwähnt, dass Ed um acht vorbeikommt?«, fragte sie.
»Nein, hast du nicht.«
»Macht er aber.«
Sie drehte sich um und schlenderte wieder in den Laden.
Es war halb acht. Falls Ed tatsächlich kommen sollte, wäre er in einer halben Stunde da. Seine Beharrlichkeit konnte man wirklich nur bewundern. Er war ein netter Kerl, offensichtlich fasziniert von meiner exotischen Familie. Mit Romantik hatte das nichts zu tun. Nicht wirklich. Er hatte gehört, wir Stadtmädchen seien von loser Moral. In seinem provinziellen Kleinjungenhirn verwechselte er Liebe mit Lust. Es würde nicht lange dauern, bis ich ihn verschreckt hatte. Ich würde ihm vorschlagen, dass wir Freunde werden sollten. Er würde darauf eingehen, hätte aber schon bald genug von so einer Beziehung und wäre schnell wieder auf dem Weg zum Pepsi-Karaoke-Wettbewerb jenseits der Brücke, um das alles hinter sich zu lassen.
Ich dachte mir, dass die Jungs hier unten eine traditionellere Gefährtin bevorzugen würden als jemanden wie mich. Nach den platten Hinterreifen der Mopeds zu urteilen, die ich vorbeifahren sehe, bevorzugen sie ihre Frauen füllig. Breit und stabil wie Felsbrocken. Beim Tauziehen würde ich meine gesamten Ersparnisse auf das Frauenteam aus Maprao setzen. Obwohl nun meine breiten Hüften kein Hindernis sein sollten, würde es mir doch schwerfallen, eine Gemeinsamkeit mit einem Mann aus diesem Dorf zu finden. Ja, ich esse gern scharf, aber ich bevorzuge ein schönes Stück Pizza. Was nützt einem das ganze Bettgeflüster, wenn man die halbe Nacht die Nase ins Wörterbuch stecken muss? Und was wäre ich ihm für eine Ehefrau, die weder Netze flicken noch mit einem von diesen Meißeldingern Palmen trimmen könnte? Nein, Ed, der Rasenmähermann, alias Ed, der Zimmermann, wäre nur enttäuscht, wenn ich ihm Gelegenheit gäbe, mich näher kennenzulernen.
Ich duschte und schlüpfte in meine matronenhafteste weiße Bluse, obwohl meine Schultern darin nackt blieben. Diesen ungewollten Kitzel kompensierte ich, indem ich dazu einen bodenlangen Batik-Sarong mit Fischmotiven anzog. Dieser ließ nicht mal einen Blick auf meine Knöchel zu. Ich kämmte meine Haare mit viel Gel zurück, aber nur, weil hin und wieder eine verirrte Bö vom Golf hereinwehte und mir verirrte Locken in die Augen blies. Das rote Lipgloss nahm ich anstelle der Lippensalbe, die ich nicht finden konnte.
Ich saß auf einem Liegestuhl im Sand, mit Gogo zu meinen Füßen und einem Glas rumänischem Roten auf dem Schoß. Wir hatten zwölf Kisten aus Chiang Mai mitgebracht, mit je zehn Flaschen, aber noch keinen Feinschmecker gefunden, der ihn probieren wollte. Es war nicht gerade ein Tropfen, über den man in überschäumenden Jubel ausbrechen würde, aber Markenbewusstsein war sicher nicht der Grund, wieso die Flaschen unangetastet auf dem obersten Bord standen. Wir lebten nicht in Paris. Schon bei unserer Ankunft hatte ich mir vorgenommen, das Regal leer zu trinken, damit wir Platz für Sardinen bekamen. Eine Kiste war noch übrig. Die Flasche und ein zweites Glas standen unter meinem Stuhl. Ich meine, schließlich wäre es unhöflich gewesen, allein zu trinken und ihm nichts anzubieten. Selbstverständlich würde er das Angebot annehmen, etwas davon trinken, sagen, der Wein sei köstlich, und neun Zehntel davon stehen lassen.
Ich hörte Schritte im Sand und starrte missmutig zu den Bootslaternen hinaus, die am Horizont schimmerten, als wären sie dort aufgehängt.
»Erstes Anzeichen von Alkoholismus.«
Ich drehte meinen Kopf und sah Opa Jah, der als schwarzer Schatten im Licht von der Küche dastand, mit den Händen in den Hüften. Er sah aus wie ein bulimischer Superheld.
»Es ist spät, Opa. Du solltest längst im Bett liegen.«
»Es ist halb acht.«
»Schlafen kann man nie genug.«
»Weißt du eigentlich, dass ich heute Morgen den ganzen Weg nach Surat mit dem Moped gefahren bin?«
»Ja. Möchtest du, dass ich dir Benzingeld gebe?«
»Nein. Ich möchte, dass du den Anstand besitzt, mich über die Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten.«
»Wieso glaubst du, dass ich das nicht tue?«
»Ich habe dich gesehen.«
»Wo hast du mich gesehen?«
»Wie du da reingegangen bist.«
»Wo reinge…? Bei der Awuso Foundation? Du warst in Lang Suan?«
»Ich kam gerade vorbei.«
»Du kamst gerade vorbei? Ich hatte den Pick-up. Arny hatte das Moped den ganzen Nachmittag. Lang Suan ist zwanzig Kilometer weit weg. Wie kann es da angehen, dass du zufällig vorbeikamst?«
»Es gibt Motorrad-Taxis. Es gibt Busse. Ich bin ja schließlich nicht senil, oder? Ich bin über siebzig Jahre auch ohne Eskorte durchgekommen.«
Ich lachte. »Du hast mich beschattet«, sagte ich dann.
»Habe ich nicht. Ich war nur … neugierig. Nach allem, was ich von Captain Waew gehört hatte, wollte ich es selbst sehen. Aber ich habe gesehen, dass du da reingetanzt bist wie die Ruhe selbst, und ich kann dir sagen …«
Ich wartete eine Weile, aber er brachte den Satz nicht zu Ende. Da die Zeit drängte, und ich einen jungen Mann behutsam enttäuschen musste, ging ich den Inhalt des Interviews mit Sugit so knapp wie möglich durch.
Opa Jah nickte nicht und machte auch keine Bemerkungen. Er hockte nur im Sand, in dieser ländlichen Toilettenhaltung, die ich noch nie bequem fand. Als die Geschichte zu Ende war, stand er auf, ohne zu knarren, und sagte: »Na gut. Es könnte sein, dass ich diese Woche noch etwas freie Zeit habe, falls du …« Er wandte sich ab und wollte gehen.
»Opa?«
»Ja?«
»Ich glaube, ich werde in dieser Sache eine ganze Menge Hilfe brauchen.«
Er sah sich zu mir um. Obwohl der Mond hinter Wolken versteckt war, sah ich seine falschen Zähne im Licht der Fischerboote glänzen. Er grunzte und kehrte zu den Lichtern der Hütten zurück.
Der Leuchtanzeige meines Taschenweckers nach zu urteilen, war es fünf vor acht, als mein zweiter Besucher kam. Pünktlichkeit war kein Wort, das seinen Weg ins Vokabular allzu vieler meiner Landsleute fand, und daher war ich beeindruckt.
»Koon Jimm«, hörte ich und nahm mir die Zeit, noch das eine oder andere Fischerboot zu betrachten, bevor ich mich umsah. Ed stand hinter mir. Er trug ein weites weißes Seidenhemd und glänzende Fischerhosen. Irgendwie hatte er etwas Heroisches an sich. Es fehlte nur noch ein Degen an seinem Gürtel. Selbst sein Bärtchen passte zum Kostüm.
»Ed, oder?«
»Ja.«
Er kam an den Strand herunter und stand neben meinem Liegestuhl, atmete die salzige Meeresluft tief ein. Aus meiner Perspektive sah er ganz genauso groß aus wie die Kokospalmen, und auch genauso aufrecht und unbeugsam.
»Woher wussten Sie, wo ich bin?«, fragte ich.
»Sieht so aus, als hätte jemand eine Ihrer Tischlampen in diese Richtung gedreht«, sagte er. »Ich konnte Sie schon aus hundert Metern Entfernung sehen.«
»Na, da haben Sie aber Glück gehabt, was?«, sagte ich. »Normalerweise sitze ich hier abends im Dunkeln und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich trinke ein Glas Wein. Möchten Sie auch?«
»Danke«, sagte er. »Ich trinke nicht.«
»Schön für Sie. Ich trinke gelegentlich ein Gläschen. Es stimuliert meine Fantasie. Nehmen Sie doch Platz.«
Da war nur Sand, aber er fand eine Stelle zwei Meter vor meinem Stuhl und faltete sich dort zusammen. Zu meiner Überraschung stand Gogo auf und watschelte zu ihm hinüber, als wedelten die beiden schon seit Jahren gemeinsam. Ed kraulte sie mit seiner großen Hand, und sie rollte auf den Rücken, um ihm den Bauch zu zeigen. Ihre Unterseite war eigentlich tabu. Nicht mal Mair durfte sie anfassen, aber da saß nun der Rasenmähermann und fummelte ungestraft an ihren Nippeln herum.
»Sie ist dürr«, sagte er.
»Sie ist krank. Sie kann ihr Futter nicht verdauen. Es rutscht einfach durch.«
»Wurde sie schon gedingst?«
»Gedingst?«
»Ihr Eileiter abgebunden.«
»Oh, nein.«
»Sie ist etwa fünf, sechs Monate alt. Demnächst wird sie läufig. Wenn die Rüden über sie herfallen, könnte das ihr Ende sein. Ich würde sie so bald wie möglich zum Tierarzt bringen. Wenn sie sterilisiert ist, kommen vielleicht auch ihre Därme zur Ruhe. Somboom ist zwar Spezialist für Kühe, aber mit Desexualisierung kennt er sich aus.«
Das war ja eine tolle Empfehlung. Kein einziges Mal hatte er mich dabei angesehen. Sein Blick wanderte zwischen den Booten und Gogos Bauch hin und her. Heimlich kippte ich meinen Wein in den Sand neben dem Stuhl und verstaute das Glas.
»Sie scheinen eine Menge von Hunden zu verstehen«, sagte ich.
»Ich weiß gar nicht, wie viele wir im Laufe der Jahre hatten. Man kriegt eben mit, was ihnen guttut.«
Genug davon.
»Wie dem auch sei. Was kann ich für Sie tun, Ed?«
Es folgte eine lange Pause. So lang, dass Thai Airways Flug TG250 von Surat nach Bangkok mit blinkendem Schlusslicht über uns hinwegflog.
»Ich habe mich mit Ihrer Mutter unterhalten«, sagte er.
»Ach ja?«
»Ich habe mich nach Ihnen erkundigt. Tut mir leid, dass ich so neugierig war.«
»Das macht nichts.«
Ich glaube, mein Herz flatterte ein wenig vom Wein. Man sagt, es kommt, wenn man ein Herz ankurbelt, das schon von selbst gut läuft.
»Meine Familie ist klein«, sagte er und versuchte offenbar, sich am mondbeschienenen Himmel Sterne auszusuchen. »Nur ich, meine Mutter und meine Schwester. Meine Mutter ist versorgt. Sie hat sechzehn Hektar Land mit Öl- und Kokospalmen. Viele Obstbäume. Ja, sie kommt gut zurecht.«
»Das freut mich.«
Wahrscheinlich das, was man hier unten als »hübsche Mitgift« bezeichnete.
»Meine Schwester hatte eine Zeit lang einen Mann«, fuhr er fort. »Man nennt es wohl ›arrangierte Ehe‹. Ich glaube nicht, dass so was jemals funktioniert. Seit dem letzten Jahr wohnt sie wieder bei uns. Sie ist nicht … wissen Sie, nicht ganz bei sich. Sie weiß, dass sie anders ist. Sie passt nirgends dazu. Wahrscheinlich wäre sie besser für die Großstadt geeignet, aber sie ist scheu.«
Es war schon schräg, dass er mir von seiner Familie erzählte. Sie machte auf mich einen ganz normalen Eindruck, traumhafte Verwandtschaft für ein Mädchen. Ich möchte bezweifeln, dass irgendwer, der noch alle Tassen im Schrank hat, über meine Familie dasselbe sagen würde. Fast neidete ich ihm sein schlichtes Leben. Ich kam zu dem Schluss, dass ich es ihm schuldig war, mit ihm zum Essen auszugehen, damit er mir von der Rasenmäherbranche erzählen konnte, und dass er von Onkel Wit, dem Maurer, gelernt hatte, wie man Dächer deckte.
»Aber sie ist sehr attraktiv«, fuhr er fort. »Ständig sind da Männer. Die muss ich bald schon mit dem Knüppel vertreiben.«
Ich sah ihn lächeln. Es war ein süßes Lächeln, wärmend wie ein guter Whiskey.
»Ich dachte, ob Sie sie vielleicht mal kennenlernen möchten«, sagte er.
»Aber natürlich. Das wäre doch nett. Irgendwann.«
»Sie hat von Ihnen gehört, und sie hat Sie auch schon gesehen, als Sie mit dem Fahrrad unterwegs waren. An dem Abend beim Essen konnte sie von gar nichts anderem reden. Ich habe noch nie erlebt, dass sie jemals so viel geredet hat. Das Chiang-Mai-Mädchen, das sich die Hosenbeine bis zu den Knien hochgerollt hat.«
Wir lachten beide, und dann … ich schätze, es gibt wohl Momente, in denen man den Regen vor lauter Wasser, das vom Himmel fällt, nicht fallen sieht. Das nun war einer dieser Momente. Ich war schon klatschnass, bevor ich merkte, was los war. Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte, ohne dass ich merkte, worum es eigentlich ging. Normalerweise bin ich doch erheblich schlauer. Mir wurde schlecht, aber nicht übel-schlecht, eher als würde ich am liebsten alles, was ich am Tag gegessen hatte, gleich dort in den Sand reihern. Ich war dumm. So wirklich, wirklich dumm. Ich konnte gar nicht schnell genug vom Strand verschwinden.
»Okay, das mache ich doch gern«, sagte ich, ohne weiter nachzudenken. »Ich muss … Abendessen machen. Wiedersehen, Ed. Danke.«
Ich ließ den Liegestuhl und ihn und meinen Wein und mein halbes Gesicht dort am Strand zurück und stapfte durch den weichen Sand hinauf zur Ferienanlage. Ich verlor einen Flipflop, verschwendete aber keinen Gedanken daran, deswegen umzukehren. Meine Hand zitterte, als ich nach dem Türgriff meiner unverschlossenen Hütte langte, und ich warf mich aufs Bett, ohne Licht zu machen. Zum Glück stand das Bett an derselben Stelle wie immer. Es war noch nicht mal halb neun. Ich war überhaupt nicht müde. In meinem hellwachen Kopf konnte ich nur an Ed denken und daran, wie er versucht hatte, mich mit seiner Schwester zu verkuppeln. Ich rollte auf den Rücken, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte zu sterben.
Ich wachte auf um drei, um Viertel nach vier, um zehn nach fünf und um siebzehn nach fünf, bis ich mir eingestehen musste, dass ich vermutlich keine zehn Stunden Schlaf brauchte. Ich hörte das Knarren der heimkehrenden Fischerboote in der Ferne und die vormorgendliche Probe der Hähne. Ich knipste meine Nachttischlampe an und warf einen Blick in den Spiegel. Ich war immer noch dumm. Ich duschte, zog mir was über und fing zeitig an, das Frühstück zuzubereiten. Es war noch dunkel, und ich nutzte den Streifen von schimmerndem Grau am unteren Rand des Himmels zum Sehen. Schon wollte ich Licht in der Küche machen, als ich eine dunkle Gestalt über den Strand zu uns herüberlaufen sah. Sie trug schwarze Hosen und eine schwarze Windjacke, die Kapuze hochgeklappt. Der untere Teil des Gesichts war von einer Maske verdeckt. Die schweren Schritte im Sand ließen Schlimmes ahnen. Ich trat einen Schritt zurück hinter die Gästetoiletten, in der Hoffnung, dass man mich nicht gesehen hatte.
Ich hörte das Knirschen von Schritten auf dem Kies, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie auf mich zukamen. Ich drückte mich in den Toilettenblock und suchte im Schein des kleinen roten Nachtlichts verzweifelt nach einer Waffe. Toiletten sind notorisch unterbestückte Waffenkammern. Ich fand eine Klobürste, eine Saugglocke und einen Strauß duftender Plastiktulpen. Nichts davon weckte in mir das Vertrauen, vor die Tür zu treten und mich dem Eindringling zu stellen. Dann fand ich meine Waffe. An der Wand gegenüber lehnte ein meterlanges Stück Plastikrohr. Es war so stabil, dass man einem Angreifer damit eins über den Schädel geben konnte, aber leicht genug, sodass ich nicht gleich wegen Mordes vor Gericht kam.
Mit erhobenem Rohr trat ich hinaus, und dort – mir gegenüber wie ein Spiegelbild – stand der dunkle Ninja mit hoch erhobenem Bambusstock. Ich schrie. Sie schrie.
»Mair?«, sagte ich.
»Jimm?«
Wir ließen unsere Waffen sinken und umarmten uns, vor allem um unser jeweiliges Zittern unter Kontrolle zu bringen.
»Kind, was um alles in der Welt treibst du dich so früh am Morgen bei den Gästeklos herum?«
»Ich war früh … Moment mal. Ist doch egal, was ich hier mache. Was schleichst du am Strand entlang, verkleidet wie ein Bunraku-Puppenspieler?«
Sie zog ihre Maske herunter, strich die Kapuze vom Kopf und betrachtete ihr Kostüm.
»Oh«, sagte sie.
»Ja.«
»Ich habe mich im Dunkeln angezogen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich Schwarz trage. Und außerdem ist diese Hose dunkelblau. Du wirst es sehen, wenn die Sonne aufgeht. Und das?« Sie zog die Operationsmaske über ihren Kopf. »Hühnergrippe.«
»Hühnergrippe?«
»Vom Geflügeldung. Erhöhtes Auftreten von Hühnergrippe durch Geflügeldung. Wird durch die Luft übertragen.«
»Woher kriegt man denn diese schwarzen Masken?« Ich nahm sie ihr ab.
»Es gibt so viele Viren, dass man sie in fast allen Farben bekommt. Inzwischen ist es direkt modern.«
»Mair, das ist eine ganz normale Operationsmaske, mit schwarzem Filzer angemalt.«
»Tatsächlich?«
»Okay. Es reicht.«
Ich führte sie am Arm zum nächsten Tisch und setzte sie hin. Eine rosa Pfütze leckte durch den Spalt am Boden der Nacht. Irgendwo jenseits der Philippinen ging die Sonne auf, und unser Himmel wühlte eilig die dunklen Farben durch, um etwas Passendes für den neuen Tag zu finden.
»Mair, was hast du getan?«, fragte ich und sah ihr in die Augen. Sie erwiderte den Blick und setzte eine gänzlich andere Maske auf.
»Nichts, wofür man sich schämen müsste«, sagte sie. »Außerdem bin ich deine Mutter. Und ich möchte dich daran erinnern, dass ich in dieser Familie die Brötchen verdiene. An dem Tag, an dem du losgehst und dein eigenes Geld verdienst, dann – aber erst dann – hast du das Recht, deine Mutter zu kritisieren. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«
Sie stand auf und ließ den Tisch hinter sich, schnaufend vor Entrüstung. Sie ging zum Laden, merkte jedoch, dass sie gar nicht dorthin wollte, und bog zu ihrer Hütte ab. Ich sah sie marschieren. Ich kannte diesen Gang und diese Art zu reden nur zu gut. Wie wir alle. Die achtjährige Jimm hatte sie tausend Mal gehört. Jedes Mal wenn Jimm junior sich beklagte, weil sie ihr Zimmer aufräumen oder Hausarbeit erledigen sollte, musste sie sich dieselbe Leier anhören. Mair war in einem gefährlichen Zustand, und ich musste dringend wissen, wo sie am Morgen gewesen war, bevor die Polizei es herausfand.