Kapitel 5

»Ich weiß, wie schwer es ist, seine Familie zu verfüttern.«

George W. Bush

Greater Nashua, NH, Chamber of Commerce, 27. Januar 2000

Es war Montag, der 17. Juni 1978«, begann Mair. »Da wurde ich zum zweiten Mal entjungfert.«

Arny und ich blickten von unserem Bratreis mit Tintenfisch auf, die Löffel auf halbem Weg zum Mund. Opa Jah aß weiter, entweder weil er das alles schon mal gehört oder weil er es diesmal nicht mitbekommen hatte. Ich war nicht sicher, ob ich Mair weiter zuhören wollte – nicht beim Abendessen.

»Ich war heute noch mal im Tempel«, sagte ich. Es war das Erste, was mir in den Sinn kann. Eigentlich hatte ich keine Neuigkeiten über meine diskreten Ermittlungen preisgeben wollen, doch der Augenblick schien mir passend.

»Sein Name war Krit«, fuhr Mair fort.

»Wieso hast du nichts gesagt?«, fragte Arny. »Ich hätte dich hinbringen können.«

»Weil ich dachte, es fällt nicht so auf, wenn ich mit dem Fahrrad komme. Und guck mal! Ich hab jetzt schon ein Kilo abgenommen. Dabei fahre ich erst seit einer Woche. Wenn ich einen Monat so weitermache, kann ich Bikinis vorführen.«

»Er sah sehr gut aus«, sagte Mair.

Als wir jünger waren, ließen wir Mair mit ihren Geschichten die lange Leine. Wir reisten mit ihr in ihre verworrene Vergangenheit. Oft verliefen die Erzählungen im Sande und starben ohne Pointe oder Sinn und Zweck, doch wir ermutigten sie in der Hoffnung, dass sie eines Tages unseren Vater erwähnen würde. Was sie jedoch nie tat.

»Mair, ich erzähle hier eine wahre Geschichte«, sagte ich. »Warte einen Moment.«

Ich hoffte, ich konnte sie so lange ablenken, dass sie die Anekdote ihrer zweiten Entjungferung vergaß. Ich erzählte ihnen vom Angriff auf den Wachmann und der Verhaftung des Abts und den Hunden und dem Feuerzeug. Arny lauschte mir wie immer gebannt. Mair wartete geduldig auf eine Lücke.

Dann nahm Opa Jah einen Schluck Wasser, sah mir plötzlich tief in die Augen, als wolle er mich verfluchen, und sagte: »Er hat etwas gesucht.«

Opa Jah war vierzig Jahre bei der Königlich-Thailändischen Polizei gewesen und nie über den Rang eines Corporals bei der Verkehrsstaffel hinausgekommen. Schon oft hatte ich gedacht, dass es Leute gab, die von Natur aus Polizisten waren, die aufstiegen und ihre Prüfungen ablegten und auf einem Posten landeten, der einen Flügelschlag über ihren Fähigkeiten lag. Dann gab es welche, die Geld hatten und sich ihre Beförderungen erkaufen konnten. Und schließlich gab es Leute wie Opa Jah, die keine Ahnung von irgendwas hatten. Als könnte ich einen Rat von einem Verkehrspolizisten brauchen …

»Wer hat was gesucht?«, fragte ich, nur um die seltene Gelegenheit einer Unterhaltung mit meinem Großvater zu nutzen.

»Der Mörder von Abt Winai«, sagte er.

Natürlich hatte ich die Möglichkeit bereits bedacht. Wären wir hier in einem Kriminalroman, würden sämtliche Leser, selbst die unterbelichtetsten rufen: »ER HAT ETWAS GESUCHT.« Danke, Opa.

»Nun, falls er gefunden hat, was er suchte, werden wir nie erfahren, was es war«, sagte ich. Ende der Geschichte.

»Vielleicht hatten sie Videokameras«, sagte Arny, von Haus aus nicht der Scharfsinnigste unseres Wurfs. Er meinte, wir lebten in einer Welt, in der jede Straße, jedes Haus, jeder Baum von Kameras gesichert wurde. Jedes Verbrechen ließ sich aufklären, man musste nur die Bänder abspielen – so wie in England.

»Arny, kleiner Bruder, ich …«

»Hat er nicht.«

Opa nervte langsam.

»Hat was nicht, Opa?«

»Er hat nicht gefunden, wonach er suchte.«

»Wie kommst du darauf?«

»Gestern Abend war es bewölkt. Kein Mond am Himmel. Er wollte keine Taschenlampe benutzen, denn er wäre meilenweit zu sehen gewesen. Er hatte nur sein Feuerzeug, und damit hat er geleuchtet, bis es leer war. Er hat nicht gefunden, was er suchte.«

»Opa Jah«, ich gab mir Mühe, nicht herablassend zu klingen, »das Feuerzeug könnte sonst wem gehört haben. Es könnte schon seit Monaten da liegen.«

»Ha!«, sagte Opa. »Anscheinend verbringst du nicht sonderlich viel Zeit in Tempeln. Die Novizen sind schon im Morgengrauen mit Strohbesen und Abfallpiksern unterwegs. Danach kommen die Witwen, die den Mönchen Essen spenden und auf allen vieren durch den Tempel kriechen, um Müll zu sammeln. Außerdem haben sich vor zwei Tagen mehrere Detectives den Tatort angesehen. Selbst solche Idioten, wie sie heutzutage bei der Kripo arbeiten, hätten dieses Feuerzeug gefunden. Nein, Mädchen, das Feuerzeug kam später. Das hat gestern Abend jemand weggeworfen. Es gehört dem Mörder, und er wird wiederkommen.«

Er nahm seinen Teller, stellte ihn in die Schüssel mit dem Abwasch und ging hinaus. Ich staunte, dass Opa überhaupt so viele Worte kannte. Seit Omas Tod hatte er nicht mehr so viel geredet. Und – das musste ich ihm lassen – es war kein dummer Gedanke.

»Darf ich meine Geschichte jetzt zu Ende erzählen?«, fragte Mair.

»Mach ruhig, Mair«, sagte ich. »Aber ich warne dich: Opas Auftritt ist schwer zu toppen.«

»Er hieß Krit«, sagte sie.

»War das vor Dad?«, fragte ich.

»Er sah sehr gut aus, aber er war ein Mistkerl. Dozent an der Universität. Er hat eine seiner Studentinnen geschwängert und so getan, als wüsste er von nichts. Vergesst nicht, das war die Zeit vor DMZ.«

»DNA, Mair.«

»Vorher jedenfalls. Also gab es keine Möglichkeit, ihm irgendwas nachzuweisen. Aber ich kannte das Mädchen und glaubte ihr. Krit kam manchmal in unseren Laden, und eines Tages habe ich ihm eine Falle gestellt. Ich habe ihm erzählt, ich sei noch Jungfrau, und mein erstes Mal sollte mit einem richtigen Mann sein, nicht mit einem dieser kleinen Jungs vom Campus. Ich wollte einen Mann, der wusste, was Mädchen sich wünschten.«

Es hat etwas Entwürdigendes, am Küchentisch zu sitzen und sich die Sexgeschichten seiner Mutter anzuhören, aber bei ihr klang noch die schmuddeligste Anekdote wie ein Märchen. Arny und ich waren wieder zwölf. Wir lächelten uns an und nickten, dass sie fortfahren solle.

»Ich war etwas älter als die Mädchen, auf die er es abgesehen hatte, aber ich war so zierlich, dass ich damit durchkam, besonders in meiner geliehenen CMU-Uniform. Ich verabredete mich mit ihm spätabends im Little Duck Hotel draußen vor dem Campus. Ich hatte uns ein Zimmer gemietet und war schon vor ihm da. Ich habe ihn gebeten zu duschen. Als er aus dem Bad kam, war alles dunkel. Er konnte mich gerade eben unter der Decke erkennen, im Licht vom Badezimmer. Ich habe ihm gesagt, dass er das auch noch ausmachen soll. Wahrscheinlich stand er auf dominante Frauen. Ich habe ihm gesagt, ich sei nackt, und ihn gebeten, sein Handtuch wegzunehmen. Als ich hörte, wie es auf den Boden fiel, habe ich laut geschrien. Die Tür flog auf, das Licht ging an, und drei Studenten vom Fotoklub stürmten mit ihren Kameras herein und knipsten, während wir herumrannten, wie Mutter Natur uns erschaffen hatte. Was für ein Spaß!

Einen Monat lang hingen überall auf dem Campus Fotos von Professor Krit an den Bäumen. Nur sein Kopf fehlte. Ich muss sagen, nach dem Überfall ist der Mann regelrecht geschrumpft, bis er kaum noch vorhanden war. Die Fotos waren schrecklich peinlich. Wir hatten Sachen darunter geschrieben wie: ›Wisst ihr, wem der kleine Lümmel hier gehört?‹ und ›Wen mag unser kleiner Dozent wohl diesmal jagen?‹ Natürlich sah man auf den Bildern nur Teile von mir. Ich hatte damals eine hübsche Figur, aber das bedeutete schließlich noch lange nicht, dass mich alle sehen sollten, oder? Im Laufe des Monats war auf den Bildern immer mehr von Krit zu erkennen, bis es nicht mehr lange dauern würde, dass jeder auf dem Campus wusste, um wen es ging. Wie zu erwarten, trat jemand Drittes an die schwangere Studentin heran und versprach, ›sich um alles zu kümmern‹, unter anderem mit einer hübschen, finanziellen Entschädigung. Nachdem das Kümmern erledigt und das Geld sicher verwahrt war, sah ich keinen Grund mehr, das Spielchen weiterzuspielen.«

»Ihr habt keine Fotos mehr aufgehängt?«, vermutete Arny.

»Großer Gott, nein! Ich habe nur die Köpfe nicht mehr abgeschnitten. Schließlich war es wochenlang das große Geheimnis. Da kann man die Leute doch nicht einfach so in der Luft hängen lassen, oder?«

Es war egal, ob die Geschichte stimmte oder nicht. Wie die meisten von Mairs Märchen würdigten wir sie als Kunstwerk. Ich stand an der Spüle und wusch ab, als Mair hinter mich trat und ihre Arme um mich schlang. Ich spürte sie gern so nah. Ich musste mich direkt daran erinnern, dass ich nicht gut auf sie zu sprechen war.

»Das war ein sehr gutes Abendessen, mein Kind«, sagte sie. »Ich weiß nicht, woher du dein Talent hast. Von mir jedenfalls nicht.«

»Mit frischem Gemüse schmeckt alles gut.«

Ich klang wie aus der Fernsehwerbung, aber es stimmte. Zu den wenigen Vorteilen des Lebens abseits der Zivilisation gehörte, dass man seine Lebensmittel kaufen konnte, bevor die Chemielabore sie in die Finger bekamen. Noch vor ein paar Stunden schwamm unser Abendessen selig seine Runden in einem weitgehend unverschmutzten Meer, und der Chili wuchs hier überall wie Unkraut. Die Eier waren noch warm vom … na ja, man weiß ja, woher Eier kommen. Und man konnte einfach aus dem Fenster langen und eine Papaya pflücken. Ich hatte einen kleinen, geschützten Garten, in dem man eines Tages vielleicht Gemüse ernten würde. Und wenn man dann autark war, wusste man genau, woher das alles kam, was man auf dem Teller hatte. Was man von der Plastikschale, auf die ich im Tiefkühlfach gestoßen war, nicht behaupten konnte.

»Mair, was war diese eintopfähnliche Substanz, die ich im Kühlschrank gefunden habe?«

»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, sagte sie, und ich kam ins Grübeln.

»Dieses trübe grau-grüne Zeug, das wie geschmolzene Eiscreme aussieht.«

»Rühr das nicht an!«, sagte sie und befreite mich aus ihrer mütterlichen Umarmung. »Das ist eine Brühe, die mir die Frau an der Tanksäule heute gegeben hat. Ich soll sie mal probieren.«

»Wir könnten sie morgen Abend essen.«

»Nein. Nein, lieber nicht. Die Frau ist eine fürchterliche Köchin. Ich habe die Brühe nur aus Höflichkeit angenommen.«

Und damit überließ sie mich dem Abwasch. Als alles sauber und verstaut war, ging ich zum Strand hinunter. Gogo folgte mir mit zwanzig Metern Abstand. Falls der Mond so voll war, wie der Kalender es versprach, dann waren die Wolken so dicht, dass man davon nichts sah. Opa Jah hatte recht. Die Lichter der Fischerboote bildeten draußen auf dem Meer eine glitzernde Kette. Es war, als sähe man das gegenüberliegende Ufer eines breiten Flusses. Ich lief durch den tiefen Sand, bis ich zu einem von Arnys Baumstämmen kam. Ich setzte mich, lehnte mich an und bewunderte die grünen und weißen Katzenaugen, die mir vom Horizont her zuzwinkerten. Gogo schlurfte an mir vorbei, drehte sich zweimal, dann legte sie sich in den Sand, mit dem Rücken zu mir. Sie war etwa zwei Meter entfernt. Wie üblich tat sie, als wäre ich gar nicht da. Ich weiß ehrlich nicht, wer von uns beiden überraschter war, als ich zu ihr hinüberkroch und sie tätschelte – zweimal. Sie reagierte nicht. Es war egal. Ich machte es nur für den Fall, dass sie am nächsten Morgen mit Schaum vor dem Maul auftauchte. Wenigstens hätte sie dann einen kurzen Augenblick der Intimität gehabt, auf dem mein Name stand.

Schon früh während meiner Deportation in diesen farblosen Zirkus war mir aufgefallen, dass ich mich langsam in eine traditionelle Thailänderin verwandelte, mich rückentwickelte bis in die Zeit vor Kabel und Cappuccino. Ich suchte mich in einem dieser alten »Thailand Verstehen«-Bücher für Ausländer. Warum, so fragte ich mich, waren diese Bücher eigentlich immer von Männern aus dem Westen, meist Briten, verfasst, die uns besser zu kennen meinten, als wir uns selbst?

Ich kannte die Leute in diesen Büchern nicht. Ich sah nie wie eine dieser liebenswerten Frauen auf den Bildern aus. Letztes Jahr hätte ich noch keine einzige Erwähnung meiner selbst gefunden. Ich wurde in eine Zeit hineingeboren, die unsere Kultur zunehmend gefriertrocknet und schrumpfverpackt und sie durch westliche und östliche Einflüsse entstellt hatte. Als ich aufwuchs, kleidete ich mich wie Winona Ryder und hörte Bon Jovi. Meine Mutter war Beatles-Fan. Die Tochter meiner Cousine zweiten Grades ist vierzehn. Sie hat hellbraun gefärbte Haare, die vom Kopf abstehen wie im Comic, und sie trägt ihre Jeans weit unterhalb des Bauchnabels. Ihre Helden sind allesamt Koreaner. Wie also sieht eine typische Thailänderin im Jahr 2008 aus?

Sie wäre zwischen hundertzwanzig und hundertdreißig Zentimeter groß – ich bin eine Handbreit kleiner. Ganz sicher würde sie weder in Flipflops einkaufen gehen noch die positiven Auswirkungen von Kosmetika meiden oder dunkle Haut attraktiver finden als die der kadaverweißen Schauspielerinnen im Fernsehen. Ihre Sammlung niedlicher Emoticons wäre größer als ihr aktiver Wortschatz, und sie würde immer noch davon träumen, in einem fremden Land zu leben. Glaubt man den Umfragen, hätte sie schon vor ihrem fünfzehnten Lebensjahr mit Alkohol, Drogen und/oder Sex herumexperimentiert. Sie trüge ihre Haare lang, weil Männer langes Haar bevorzugen, und Gott weiß, dass unser einziger Lebenszweck auf diesem Planeten darin besteht, uns aufzuplustern und uns ein Männchen zu fangen. Sissi mag dagegenhalten, dass ich nur von den modernen Mädchen in den Großstädten spreche, aber ich weiß genau, dass diese Mentalität bis ganz hinunter zum unteren Ende der Nahrungskette reicht, bis ins hinterste Dorf.

Und wie passe ich da rein? Ich bin vierunddreißig. Ich habe ein Gesicht, das bei einer Zwölfjährigen süß aussah, aber wie ein alter Pfirsich runzeln wird, bis ich fünfzig bin. Ich trage meine Haare kurz. Ich habe kleine, kecke Brüste und eine kleine Wampe, mit der ich – wenn ich vorm Computer sitze – aussehe, als wäre ich im vierten Monat schwanger. Ich bin launisch, beidseits der unangenehmsten Tage des Monats – je zwei Wochen in beide Richtungen. Tatsächlich weiß ich überhaupt nicht, was ich an mir haben sollte, das zwar keine Flut, aber doch ein stetes Rinnsal männlichen Interesses auslöst. Vielleicht haben die Mütter den Jungen beigebracht, wie ein nettes, bescheidenes Mädchen aussehen sollte. »Nimm dir eine Hausfrau für die Küche, und dann such dir eine, die sexy ist, mein Sohn.«

Plötzlich jedoch finde ich mich im Kapitel über die thailändische Frau wieder. Gott bewahre, langsam werde ich liebenswert. Seit wir in den Süden gezogen sind, werde ich zur Höflichkeit gezwungen, erwidere das Lächeln fremder Menschen und treibe Konversation. In Chiang Mai konnte ich in einer introvertierten Sozialtrance herumlaufen. Nie hatte ich Zeit, zu kochen, einzukaufen, einen Garten zu pflegen oder Vieh zu füttern, und plötzlich ist das nun mein Leben. Und hier – auch wenn ich es nicht gern zugebe – fühle ich mich den Männern unterlegen. Die können hier alle Bäume fällen und schwere Netze voller Fische schleppen und Gräben ziehen und Latex zapfen und Häuser bauen. Ich dagegen kann nur Fische ausnehmen, und das habe ich bei YouTube gelernt.

Es war ein interessanter Tag gewesen. Er hatte mit einem Toten begonnen und endete mit einer Rache. Es bereitete mir Sorge, dass Mair ihre Geschichte ausgerechnet an diesem Abend erzählte. Wenn sie fähig war, einen Professor zu erniedrigen, als ihr Verstand noch einigermaßen funktionierte, fragte ich mich, welche Strafe ihr skrupelloses Ich wohl für einen Hundemörder angemessen fand. Es war an der Zeit, meine Mutter im Auge zu behalten.

Am nächsten Morgen weckte mich mein Handy mit der Steeldrum-Version von »Mamma Mia«. Der nächste Festnetzanschluss war fünf Kilometer entfernt, aber irgendein Kommunikationsmilliardär hatte unser Land mit Mobilfunktürmen akupunktiert. Einen davon konnte ich von meinem Fenster aus sehen, und nur der unansehnliche Berg dahinter trübte die majestätisch rostbraune Eleganz. Der Anruf kam von Dtor, einer meiner ehemaligen Kolleginnen. Atemlos erzählte sie mir, unser Regierungsgebäude sei über Nacht von alten Yuppies in gelben Hemden besetzt worden. Die Politik war um einiges komplizierter gewesen, bevor kürzlich das System der bunten Hemden aus dem englischen Fußball übernommen wurde, was eine große Hilfe war, wenn man wissen wollte, wer zu wem gehörte. Die Gelben, die von einem Medienmogul geführt und vom Militär diskret unterstützt wurden, bekämpften die Rothemden, die größtenteils aus dem Norden stammten und von einem Ex-Fußballklub-Besitzer, Expremierminister, Ex-Telekommunikations-Zaren und Expolizisten unterstützt wurden, der sich momentan im Exil befand. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Fraktionen von Schwarz-Weiß-Gestreiften und Rosa-Gepunkteten auftauchten. Oft dachte ich: »Könnte man ihnen doch nur einen Ball geben …!«

Nach Dtors Aussage waren die Gelbhemden in der Nacht durch die Polizeiabsperrungen geschlendert, hatten eine unblutige Übernahme unserer Machtzentrale inszeniert und neue Vorhänge aufgehängt. Bangkoks Mittelschicht hatte revoltiert. Am besten stellt man sich vor, Richard Bransons Partei würde im House of Parliament in Westminster ein Sit-in organisieren. Unvorstellbar, oder? Das dachte ich auch. Und doch waren sie da. Thailändische Politik. Ich hatte Gelegenheit gehabt, zur politischen Redaktion zu wechseln. Man hatte mir erklärt, Verbrechensgeschichten seien für so ein kleines Mädchen doch zu gefährlich. Ich trieb ihnen die Idee aus. Entscheidend war, dass Mord und Raub und Gewalt in Thailand handfest waren. Politik war die reine Augenwischerei und im Grunde albern.

Abgesehen davon, dass uns die Weltpresse auslachte, bereitete mir an der Lage in Bangkok vor allem Sorge, dass kein Mensch mehr den wichtigen Dingen wie polizeilichen Ermittlungen, Mönchsmorden und Autopsien die entsprechende Aufmerksamkeit widmete. Bestimmt standen alle Polizisten in ihren schwarzen Macho-Kampfanzügen vor dem Regierungsgebäude aufgereiht. Und niemand wusste, wer das Sagen hatte. Der amtierende Premierminister und angesehene Fernsehchef wurde aus dem Amt getrieben, weil er zur besten Sendezeit gekocht hatte, während es überall im Land brodelte. Polizeichefs wurden derart regelmäßig ausgetauscht und in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, dass es mehr inaktive als aktive Polizeioberste gab. Daher schien es mir, als würden wir in Pak Nam eine ganze Weile auf uns allein gestellt sein.

Ach, und noch was hat Dtor mir erzählt: Der Kopf in der Plastiktüte am Ende vom Seil? Es war Selbstmord.

Mein zweiter Anruf an diesem Morgen kam von Sissi. Wir machten uns eine Weile über die Politik lustig und gingen dann zu Ernsthafterem über. Die chinesische Familie Chainawat, die Old Mel das Land verkauft hatte, saß in Ranong an der Andamanischen Küste. Sie nannte mir eine Adresse und mehrere Telefonnummern der Chainawat Inc. Dazu die Privatnummer von Vicha, dem momentanen Geschäftsführer. Die Familie hatte früher mit verschiedenen kleinen Firmen und Investments zu tun gehabt, ihre Unternehmungen in letzter Zeit jedoch auf Fischerei und Immobilien konzentriert. Sie besaß etwa vierzehntausend Hektar Land als Spekulationsobjekt im Süden und unterhielt eine Flotte von Hochseetrawlern, die gewaltige Netze über den Meeresgrund zogen und die Korallen vernichteten. Schön für den Profit, schade für die Umwelt. Ansonsten hatte Sissi keine Schweinereien der Familienfirma finden können, aber sie wollte weitergraben.

Blissy Travel, das Reisebüro von den Ganja-Blättchen, war in den späten Siebzigern geschlossen worden, als die erhoffte Touristenschwemme im Süden ausblieb. Ein in Surat ansässiger Geschäftsmann namens Somjit Boondet hatte Blissy Travel geleitet. Danach schien es, als sei er zwanzig Jahre abgetaucht, bis im Jahre 2002 ein gewisser Somjit Boondej im Handelsregister auftauchte, und zwar als Filialmanager des Home Art Building Accessoires Mega Store in Surat.

»Das sieht man oft«, erklärte mir Sissi. »Diese kleinen Unstimmigkeiten in der Schreibweise. Es könnte ein Schreibfehler sein – so was passiert andauernd –, aber als altgediente Zynikerin vermute ich eher einen Betrug und wurde dabei noch selten enttäuscht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie leicht man seinen alten Ausweis verliert und einen neuen beantragt. Man steckt der Schreibkraft tausend Baht zu, sie rutscht mit dem Finger auf der Tastatur ab, und – voilà – schon ist man jemand anders. Beim Computercheck taucht man nicht mehr auf. Also habe ich mit der alten Schreibweise weitergesucht, und was meinst du, was ich gefunden habe?«

»Gefängnis?«

»Sehr gut! Strafanstalt Songkla, 1979 bis 2002.«

»Oha, das klingt nach was Ernstem.«

»Totschlag. Fahrlässige Tötung. Und weißt du, warum er die volle Strafe absitzen musste? Keine Bewährung, keine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung? Weil er ein Touristenpärchen auf dem Gewissen hat.«

»Was? Das ist ja wunderbar! Ich meine, nicht für die, aber … du weißt schon.«

»Ich wusste, dass es dir gefallen würde.«

»Offensichtlich war es ihnen nicht so ernst, dass sie ihn wegen Mordes verurteilt haben.«

»Der Staatsanwalt war sich seiner Sache sicher. Er hatte lebenslänglich gefordert.«

»Sissi, du bist …«

»Ich weiß.«

Der Tag hätte gar nicht besser anfangen können. Zwei Spuren, und ich hatte noch nicht mal mit dem Frühstück angefangen. Ich duschte, zog mir was über und trat beim Hinausgehen auf Gogo. Sie zuckte mit den Schultern, als sei es das Schicksal ihres Lebens, getreten zu werden, und schloss sich mir an. Ich wollte wissen, wieso sie vor meinem Zimmer schlief, aber – tja – sie ist ein Hund, und ich wusste nicht, wie ich es herausfinden sollte. Neben unseren fünf »luxuriösen Cabanas direkt am Meer« – kleinen, miteinander verbundenen Betonkästen ohne Kühlschrank und Ambiente – gab es noch vier nicht ganz so luxuriöse Hütten abseits vom Strand, die ich mit meiner Familie bewohnte. Jeder einzeln. Nach Aussage von Kow, dem Tintenfischkapitän, konnte es angesichts der Tatsache, dass der Monsun jedes Jahr mehr von der Küste fraß, nicht mehr lange dauern, bis unsere Hütten am Strand standen und die Cabanas irgendwo vor der vietnamesischen Küste trieben.

In den anderen drei Hütten rührte sich noch nichts. Normalerweise war ich morgens als Erste wach, doch an diesem Tag war Mair schon im Laden und bastelte an etwas, das sie als »Auslage« bezeichnete. Dazu gehörte, Sardinenbüchsen zu Pyramiden zu stapeln und eine Schleife obendrauf zu legen. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass die Kunden vielleicht keine Sardinen kaufen würden, weil sie die Schleife nicht stören wollten. Sie erklärte mir, das sei Unsinn.

»Ed war wieder da«, sagte sie.

»Kenne ich Ed?«

»Der große Mann, der das Gras schneidet.«

Man sah ihn sofort vor sich: schlaksig, mit großen, nicht eben vertrauenswürdigen Augen und einem Schnurrbart, der angeklebt aussah. Viel zu jung.

»Und?«

»Er hat nach dir gefragt.«

»Was gefragt?«

»Du weißt schon. Ob du Single bist.«

»Aber du hast es ihm gesagt, oder?«

»Was gesagt …?«

»Was ich dir gesagt habe, was du sagen sollst, wenn irgendein Mann anfängt, persönliche Fragen zu stellen.«

»Also, ich …«

»Hast du nicht, stimmt’s?«

»Ich kann nicht, Kindchen. Das ist nicht nett. Und du bist es nicht.«

»Mair, es ist völlig egal, ob ich es bin oder nicht. Wichtig ist nur, was sie glauben. Männer sind Würmer, madenartige Würmer. Sie fressen einen auf, wenn man ihnen nicht rechtzeitig den Geschmack verdirbt.«

Hin und wieder lassen mich die Metaphern im Stich, wenn ich sie am dringendsten bräuchte.

»Er ist ein netter Junge.«

»Bestimmt ist er … ein Junge.«

»Das ist doch nicht normal, Kind. Du bist noch jung. Du solltest dich mit Männern amüsieren. Ein kleiner Kuss und ein bisschen Kuscheln würden dich besser draufbringen.«

»Mair, willst du wirklich wieder mit der alten Leier anfangen: ›Du brauchst einen Mann‹? Das Spiel könnte ich auch spielen. Also, hast du es ihm nun gesagt oder nicht?«

»Möglicherweise habe ich ihm gesagt, dass du momentan kein rechtes Interesse an Männern hast.«

»Toll. Das ist nicht wirklich dasselbe, als wenn du sagen würdest, dass ich lesbisch bin, oder?«

»Also gut. Ich will es versuchen.«

»Danke.«

»Er hat ein eigenes Palmenfeld.«

»Jeder Mann mit Kuh hat ein Palmenfeld. Ich würde das nicht als finanzielle Absicherung betrachten. Man braucht mindestens zehn Hektar, nur um die Männer bezahlen zu können, die einem die Büsche stutzen.«

Mair lächelte ihr Titanic-Lächeln.

»Was?«, sagte ich.

»Es ist schön zu sehen, dass du Interesse am Dorfleben entwickelst«, sagte sie.

Ich folgte ihr, drehte alle Dosen um, die sie falsch aufgestellt hatte.

»Komm schon, Mair. Wir verkaufen hier doch nicht an Fledermäuse …«

Sie blieb stehen und sagte: »Dein Vater hatte eine Fledermaus.«

Halleluja! Mein Vater, endlich. Ich konnte nicht fassen, dass sie ihn dazwischengeschmuggelt hatte. Wie sollte ich reagieren? Was konnte ich sagen, um sie nicht davon abzulenken?

»Was für eine Fledermaus?«

»Ach, du weißt schon. So ein ganz normaler, hässlicher, kleiner Popanz. Ich hatte schreckliche Angst davor. Er hat ihn im Schlafzimmer gehalten.«

»Wie hieß er?«

»Ach, ich glaube, das musst du gar nicht wissen.«

»Ich meinte die Fledermaus.«

»Thanom. Wie der Feldmarschall. Dieselben Augen.«

Ich hielt mich weiter an die Fledermausgeschichte. Ihr Gedächtnis war intakt, wenn es um Thanom ging, aber sobald mein Vater ins Spiel kam, wich sie mir aus. Ich drängte sie nicht. Ich kannte das Stichwort. Es war wie der Trigger, den Hypnotiseure verwenden, wenn sie jemanden in Trance versetzen wollen. Es kam mir vor, als könnte ich zu meinem Dad zurückreisen, indem ich sie nach Fledermäusen fragte. Geduld. Es hatte vierunddreißig Jahre gedauert, um so weit zu kommen.

»Ich habe einen Mann angeheuert«, sagte Mair.

»Um was zu tun?«

»Er ist Privatdetektiv.«

»Du hast einen …?«

Ich staunte. Nicht so sehr, dass Mair einen brauchte, sondern dass sie an einem Ort wie diesem einen gefunden hatte. Und wann denn?

»Gestern Abend hast du gar nichts davon erzählt«, sagte ich.

»Da hatte ich ihn noch nicht angeheuert.«

»Mair, ich habe gesehen, wie du ins Bett gegangen bist. Wo und wie hast du zwischen jetzt und eben einen Privatdetektiv gefunden?«

»Ed, der Grasmann, kannte jemanden.«

»Und du hast schon Kontakt mit ihm aufgenommen?«

»Ed ist auf dem Heimweg bei ihm vorbei. Du würdest staunen, wie viel frühmorgens in Maprao schon los ist. Wir sollten alle früher aufstehen.«

»Willst du mir erzählen, dass es in Maprao einen Privatdetektiv gibt?«

»Meng.«

Ich durchforstete die Namen, die ich kannte. Es konnte nicht so schwer sein. Nach offiziellen Angaben lebten in unserem Distrikt fünftausend Menschen, aber mir schien, da waren auch alle mitgezählt, die hier früher mal gewohnt hatten. Ich war mir sicher, alle Gesichter gesehen zu haben, die es hier zu sehen gab. Ein paar Hundert höchstens.

»Doch nicht etwa Meng, der mit den Plastikmarkisen?«

»Genau der.«

»Mair …« Ich setzte mich auf den kleinen Schemel vor meinen Füßen. »Er ist der richtige Mann für Plastikmarkisen. Er baut sie einem an. Das ist sein Beruf.«

»Und Jalousien.«

»Auch das. Sag mal, woher nimmt er bei seinem übervollen Plastikmarkisenkalender denn die Zeit, nebenher noch als Privatdetektiv zu arbeiten?«

»Es gibt hier für Detektive nicht viel zu tun.«

»Selbstverständlich nicht.« Ich sprach leiser. »Natürlich gibt es nicht viel zu tun für einen Privatdetektiv, der Plastikmarkisen anschraubt. Wer sollte ihn engagieren?«

»Das macht Ed.«

»Ed, der Rasenmähermann, hat Meng, den Plastikmarkisenmann, als Privatdetektiv engagiert?«

»Er meint, er ist sehr gut.«

Ich schätze, ein Tag, der anfing wie dieser, konnte sich wohl nur in eine Richtung entwickeln.

»Wofür, Mair, hat Ed einen Detektiv engagiert?«

»Um seine Frau zu suchen.«

»Oh, super. Super. Du willst mich mit einem verheirateten Rasenmähermann verkuppeln.«

»Er ist nicht mehr verheiratet.«

»Und wieso nicht?«

»Weil Meng seine Frau gefunden hat. Sie lebte mit einem Glaser in Lang Suan zusammen. Meng hat Fotos gemacht. Inzwischen sind sie geschieden.«

Ich war erschöpft.

»Das hast du alles heute Morgen rausgefunden?«

»Ich finde, wir sollten alle bei Sonnenaufgang aufstehen.«

»Wie viel sollst du dem Privatdetektivplastikmarkisenmann denn bezahlen?«

»Er sagt, das bleibt mir überlassen. Ich kann ihm geben, was ich möchte. Je nachdem, was mir die Information wert ist.«

»Na, da bin ich aber erleichtert. Und auf welche Informationen hast du es speziell abgesehen?«

»Ach, nur Klatsch und Tratsch.«

Sie war so durchschaubar, dass ich die Sardinendosen hinter ihr erkennen konnte.

»Mair?«

»Ganz normale Sachen eigentlich. Wer wohnt wo? Wovon leben sie? Ob sie ein Boot oder ein Auto haben. Wo man Haushaltswaren bekommen kann, so was wie Mauersteine oder Dünger oder Zement …«

»Mair?«

»… oder Rattengift.«