Kapitel 9

»Ich verstehe was von aufstrebenden Kleinunternehmen. Ich war selbst eins.«

George W. Bush

New York Daily News, 19. Februar 2000

Ich kam gerade so rechtzeitig daheim an, dass ich mich ums Mittagessen kümmern konnte. Ich fragte mich, ob meine Familie wohl selig verhungern würde, falls ich irgendwann mal keine Lust mehr hatte, nach Hause zu kommen. Die nächste Pizzeria, die auch lieferte, war viereinhalb Stunden entfernt. Einmal hatte ich sogar nachgefragt, wie weit sie wohl liefern würden. Eins ist klar: Ich werde keine Ferngespräche mehr tätigen, nur um mich auslachen zu lassen. Das war mein letzter Versuch bei denen. Ich war müde. Ich dachte an die vielen männlichen Kriminalreporter im ganzen Land, die zu ihren reiseführerreifen Ehefrauen nach Hause kamen, die sie mit einem Lächeln und gedecktem Tisch begrüßten. Wieso war ich nicht mit so einer Frau verheiratet?

Mit der Makrele wollte ich anfangen. Obwohl ich mir sicher war, dass sie mich vermisst hatten, marschierte Arny an mir vorbei und ignorierte mich komplett. Ich hatte den Pick-up den ganzen Vormittag gehabt, sodass er nicht zum Sport fahren konnte. Ich hatte schon geahnt, dass er sauer sein würde. Mair stand im Laden, schnitt große Bananenstauden in kleinere Bananenstauden und schrieb den Preis – 5 Baht – auf die Schalen. Alle in Maprao hatten Bananen hinterm Haus, sodass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wer welche kaufen sollte. Opa saß unter dem Blätterdach der Bambusplattform gegenüber auf der anderen Straßenseite und behielt den Verkehr im Auge.

Niemandem konnte ich von meinem Morgen erzählen. Dabei hatte ich fleißig ermittelt. Es gab vier Hotels und sieben Ferienanlagen in und um Lang Suan – acht, wenn man uns mitzählte, obwohl ich nicht wüsste, wieso man das tun sollte. Nachdem ich das Polizeirevier von Pak Nam verlassen hatte, stattete ich allen einen Besuch ab. Ich hätte meinen Presseausweis vorzeigen, das Ablaufdatum mit dem Finger zuhalten und auf dieser Schiene weitermachen können, aber ich war mir sicher, dass die Polizei längst da gewesen war und den Leuten gesagt hatte, dass sie sich melden sollten, falls irgendjemand herumschnüffelte. Irgendwer rief immer an, wenn die Presse vor der Tür stand.

Also dachte ich mir eine Geschichte aus. Ich erzählte ihnen, meine Familie hätte eine Ferienanlage übernommen und im Grunde keine Ahnung, was da eigentlich zu tun war. Okay, vielleicht war das nicht wirklich ausgedacht, aber ganz bestimmt habe ich gesagt, wir hätten Probleme mit der Anmeldung. Ich hielt die Anekdote mit dem gestohlenen Fernseher bereit und wollte wissen, wie andere Läden wohl ihre Gäste registrierten, um ein solches Dilemma zu vermeiden. Ich fing ganz allgemein an, war sehr freundlich, lachte viel, dann kam ich zum Thema Gästeanmeldung. Jeder Einzelne ließ mich einen Blick in sein Buch werfen. Tatsächlich waren sie alle dermaßen liebenswürdig und zuvorkommend, dass ich mich fast schämte, weil ich sie hinterging. Ich war auf der Suche nach Gästen, die am Tag des Mordes oder am Tag vorher gekommen waren und nach dem Überfall auf den Wachmann ausgecheckt hatten. Es war einfach nur der Versuch, Fremde von der Liste der Verdächtigen zu streichen. In Lang Suan konnte man nicht unbemerkt eine Nacht im Auto verbringen, also dachte ich mir, ich fange mit den Touristen an, die ein Auto dabeihatten. Das Opfer kam aus Bangkok und sollte für seine Ermittlungen nur drei Tage bleiben. Es war vorstellbar, dass der Täter den Abt verfolgt hatte.

Auf jeden Fall war es einfacher, an diesem Ende der Ermittlungen anzufangen, statt in größer werdenden Kreisen um den Tempel herum an alle Türen zu klopfen. Wie sich herausstellte, war das Ausleseverfahren erheblich einfacher, als ich befürchtet hatte. Nirgendwo lag die Zimmerbelegung über fünfzehn Prozent. Abgesehen davon, dass ohnehin kein Mensch zu uns in den Süden reisen wollte, standen die meisten Zimmer angesichts der schwachen Wirtschaft und der Benzinpreise leer, und weil der Tourismus aufgrund dieser lächerlichen Unruhen in der Hauptstadt zusätzlich am Boden lag. Die meisten, die irgendwo übernachtet hatten, waren auf dem Highway unterwegs gewesen und hatten aus Müdigkeit bei der erstbesten Möglichkeit angehalten. Ausnahmslos waren sie am nächsten Morgen weitergefahren.

Die Hotels bescherten mir am Ende eine spärliche Liste von zwei Personen: ein Geschäftsmann namens Apirat, der eine Woche im Radree gewohnt hatte, und jemand mit Namen Adul, der im Uaynoi Grand abgestiegen war und als Berufsbezeichnung »Tourist« angegeben hatte. Es gab kein konkretes Abreisedatum. Er war mit einem sehr großen Motorrad unterwegs. Kein Autofahrer passte irgendwie zu den Tagen, für die ich mich interessierte.

In den Ferienanlagen war es sogar noch schlimmer. Selbst die teuren Läden standen unter der Woche praktisch leer, und nur sehr wenige Thais rangen sich dazu durch, dort abzusteigen. Ich fand nur zwei im 69 Resort, nicht weit von Pak Nam. Das eine war ein Mann in besten Jahren, der als Dr. Jiradet unterschrieben hatte, und das andere war ein Teenager, ein Mädchen namens Nong Pui, das ganz hinten am Ende des Geländes wohnte. Man erklärte mir, der Doktor sei Berater am Pak Nam Hospital. Außerdem fand ich da noch zwei Ausländer. Der eine war eine ältere, koreanische Dame, die jeden anlächelte, was ihre einzige Kommunikation zu sein schien. Sie hatte das Zimmer mit Meeresblick verschmäht und sich für eins entschieden, das zur vielbefahrenen Straße hinausging, woraufhin das Personal vermutete, dass sie entweder taub oder dement sein musste. Dann war da noch ein Deutscher, der den größten Teil des Tages mit einem Bier auf seinem Balkon saß. Die Frau an der Rezeption hatte keine Ahnung, wann die beiden abreisen wollten. Ich nickte dem Deutschen zu, der mich einlud, mich zu ihm zu gesellen, vermutlich nicht nur auf einen kleinen Drink, und meine drei Worte Koreanisch waren bei der alten Dame schnell erschöpft.

Fünf weitere Ferienanlagen hatten überhaupt keine Gäste, obwohl man mir versicherte, sie hätten alle ein ganz gut gehendes »Nachtgeschäft«. Ich wusste, was das bedeutete. Doch das Tiwa Resort, mein letzter Anlaufpunkt, brachte am meisten. Ein nicht mehr ganz junges, japanisches Pärchen von Rucksacktouristen wohnte im billigsten Zimmer und ernährte sich nach Auskunft des Personals von Tütensuppen. Seit drei Tagen waren sie die einzigen Gäste. Und dann hatte am Tag vor dem Mord ein geheimnisvoller Thailänder, der mit einem sehr teuren schwarzen Mercedes gekommen war, Zimmer Nummer sieben belegt. Er hatte sich gleich zurückgezogen und aus dem Restaurant etwas zu essen kommen lassen. Mein Interesse war geweckt, als der Mann am Empfang ihn als »Typ Auftragskiller« beschrieb. In Thailand gaben sich Kriminelle oft große Mühe, wie Kriminelle auszusehen. Es erleichterte einem die Identifikation enorm. Er hatte sich als Ny Wirapon eingetragen und alle anderen Kästchen in der Anmeldung leer gelassen. Er war noch nicht wieder ausgezogen. Langsam fuhr ich an seinem Zimmer vorbei. Es war jemand drinnen, doch vom Benz war nichts zu sehen. Der Umstand, dass er immer noch da war, sprach gegen ihn als möglichen Verdächtigen. Wozu hierbleiben, wenn man seinen Auftrag erledigt hatte?

Das bedeutsamste Ergebnis meiner Ermittlungen war die allgemeine Untergangsstimmung in der Tourismusindustrie und speziell im Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant. Wenn schon Qualitätshäuser keine Gäste anlocken konnten, was zum Teufel hatten wir dann zu erwarten? Ich nahm meine Eimer zum Abschuppen und Ausnehmen und setzte mich zu Opa Jah. Er ignorierte mich und tat, als interessiere er sich mehr für einen elend langen Waran, der den Grünstreifen entlangschlenderte. Ich habe gelesen, dass sie fast drei Meter lang werden können. Man hat mir versichert, dass sie nur Insekten und kleine Nagetiere fressen, aber mir scheint, wenn man so groß ist wie ein Auto, kann man verdammt noch mal fressen, was man will.

Ich war schon bei der dritten Makrele, als ich wie ins Leere sagte: »Ich könnte noch in einem anderem Fall Hilfe brauchen.«

»Frag die Polizei«, erwiderte Opa Jah.

»Hab ich schon. Die wissen nicht weiter.«

»Das ist ein Zustand, der ihnen vertraut sein sollte.«

Ich äußerte der heißen Mittagbrise gegenüber, dass ich Gelegenheit gehabt hatte, der Ausgrabung eines VW-Busses beizuwohnen, und beschrieb daraufhin alles, was sich aus diesem Ereignis ergeben hatte. Beim letzten Fisch war ich am Schwanz der Geschichte angekommen. Sehr lange sagte er nichts, und langsam machte die Makrele in der Hitze keinen so guten Eindruck mehr. Ich fragte mich, ob der alte Mann mich überhaupt gehört hatte. Ich stand auf.

»Setz dich hin«, sagte er.

Ich setzte mich.

»Du musst den damaligen Detective finden«, sagte er. »Den Mann, der diese Autodiebstähle untersucht hat.«

»Ich weiß seinen Namen«, erklärte ich. »Er heißt Waew. Er war Captain. Inzwischen ist er pensioniert.«

Er wandte sich mir zu und sah mich an, als gäbe es für mich auf dieser Welt doch noch einen Hoffnungsschimmer.

»Dann finde ihn«, sagte er.

»Hab ich schon.«

»Und?«

»Er will nicht mit mir reden.«

»Setz die Polizei darauf an.«

»Mit denen will er auch nicht reden. Ich glaube, er sagte irgendwas von: ›Ihr seid eine Bande korrupter Schweinehunde.‹ Dann hat er aufgelegt.«

Ich hätte vielleicht nicht mein Erspartes darauf verwettet, aber möglicherweise brachte es Opa Jah zum Lächeln. Hätte ich doch nur einen Fotoapparat dabeigehabt.

»Der scheint in Ordnung zu sein«, sagte er.

»Ich dachte mir schon, dass du ihn mögen würdest. Möchtest du seine Adresse?«

»Na gut.«

»Essen in einer halben Stunde.«

»Mair. Haben wir den Sünder in unserer Mitte denn nun gefunden?«, fragte ich. »Ihn, dem vergeben werden soll?«

»Noch nicht«, sagte sie.

Ich war in ihrer Hütte, und wir schrieben per Hand Speisekarten für das Restaurant. Unsere Ferienanlage stand mittlerweile wieder leer, nachdem am Nachmittag unsere Vogeldame offiziell ausgeflogen war.

»Du sagst mir doch Bescheid, wenn es so weit ist, oder?«, fragte ich. »Ich möchte wirklich gern wissen … an wem wir uns nicht rächen werden.«

»Ich sag dir Bescheid«, antwortete sie geistesabwesend.

Ich sah ihr dabei zu, wie sie kleine Klebebilder von Fischen in die Ecken der Speisekarten klebte. Meine Mutter. Während der Highschool hatte ich sie zeitweise nicht gemocht. Doch während meine Klassenkameraden ihre Mütter nicht mochten, weil diese in ihrem Leben allzu anwesend waren, verfluchte ich meine wegen ihrer ständigen Abwesenheit. War sie zu Hause, kam es einem vor, als wäre man vollständig mit ihrer Welt verkabelt. War sie weg, saß man da und starrte die leere Steckdose an: Oma Noi saß da und zählte immer wieder das Geld in der Kassenschublade, Opa Jah erweiterte seinen Wortschatz an Grunzlauten.

Vermutlich lag es an Mairs Abwesenheit, dass ich so viel lernte. Ich versuchte nicht, sie zu beeindrucken. Ich versuchte, eine Qualifikation zu erlangen, die es mir ermöglichen würde, bei ihr zu sein, ihre persönliche Assistentin, die wie ein schlauer Caddy ihre Trickkiste schleppte. Mit sechzehn wusste ich dann, was ich werden wollte. Konnte ich nicht als Journalistin am besten über den Tellerrand sehen? Ich las sämtliche Tageszeitungen, die wir im Laden führten, thailändische und englische. Es war ein perfekter Einstieg. Ich musste sie nicht bezahlen. Ich sah mich meine Mutter interviewen, die geheimnisvollen Untiefen ihres Lebens ausloten. Mair: ein Special Feature. Meine Mutter, enttarnt. Ich fiel in einen metaphorischen Trott, um diese zähen Studienjahre zu überstehen, damit ich äußerlich der Mensch sein konnte, der ich innerlich schon war. Und ich trottete dabei so zügig, dass ich die nicht mehr ganz junge Frau beinah übersah, die in die entgegengesetzte Richtung schlenderte.

»Mair, bist du da?«

Sie hatte ihr Rennen hinter sich. Ihre Trickkiste war ausgekippt, und sie hatte keinen Enthusiasmus mehr. Selbst ihre Geschichten wurden grau, als sähe sie ihr Leben nicht mehr wie früher in Technicolor. Ich startete aus der Raketenluke, als sie gerade wieder andockte. Über Nacht tauschten wir die Plätze und waren uns schon wieder fremd. Ich vermisste meine spannende Mutter, lernte aber, sie als anderen Menschen zu lieben. Vor drei Jahren dann hatte sie angefangen, ihre Handtasche in die Waschmaschine zu stecken, in mein Schlafzimmer zu spazieren, überzeugt davon, dass es ihres war, und Kunden vier Fünfhundert-Baht-Scheine als Wechselgeld für einen Fünfhundert-Baht-Schein herauszugeben. Diese Risse waren selten, doch dahinter sah ich das Licht von jemandem, an den ich mich erinnerte. Von da an überraschte sie uns mit Geschichten, plapperte sie ohne Sinn und Verstand heraus. Und ihre Stimme gackerte vor Freude, wenn sie sich an einen bestimmten Ort oder eine Begebenheit erinnerte. Da gab es Lücken wie bei einem Traum, an den man sich beim Aufwachen erinnert, doch das machte ihre Geschichten nur noch geheimnisvoller.

Als sie damit anfing, war ich begeistert und trieb sie an. Langsam, viel zu langsam jedoch, wurde mir bewusst, dass meine Mutter auf einem Laufband rückwärtsreiste, durch die Zeit, an riesigen Plakatwänden vorbei, die für Momente ihres Lebens warben. Und ich fürchtete, dass sie eines Tages auf diesem Laufband so weit gefahren sein würde, dass sie vergaß, wo sie aufgestiegen war und wer ihr dort gewinkt hatte. Jetzt – drei Jahre später – hatte sich ihr Zustand nicht verschlimmert, sondern hing in der Luft, als wäre das Laufband kaputt und Mechaniker im Blaumann lägen darunter und versuchten, es wieder in Gang zu bekommen. Und so wagte ich es manchmal, sie zur nächsten Plakatwand zu schieben. Es gab da eine, die ich unbedingt sehen wollte.

»Vorgestern Nacht ist auf meiner Veranda wieder eine Fledermaus gegen die Glühbirne geflogen«, sagte ich. »Hat sie zerbrochen. Hat die Glasscherben einfach abgeschüttelt, ist etwas verwirrt herumgetaumelt und dann weggeflogen. Sie hatte überhaupt keine Angst. Eher wie ein Haustier. Da musste ich direkt an … Thanom denken.«

Mair lächelte. Ich hatte die Taste für den Geheimcode gedrückt und war bereit, den verborgenen Raum zu betreten, in dem sie und mein Vater eine Fledermaus gehalten hatten.

»Woher weißt du das?«, fragte sie.

»Du hast es mir erzählt. Du hast gesagt, du und …«

»Nein, ich meine, woher weißt du, dass sie verwirrt herumgetaumelt ist? Wenn sie die Birne zerschlagen hat, war es doch dunkel. Und vorgestern war es bewölkt.«

»Ich habe ihre Schritte in den Scherben gehört.«

»Fledermäuse sind noch nie gern gelaufen, weißt du?«

Seht ihr, was ich meine? Wenn meine Mutter nicht neben der Spur war, dann war sie voll da. Vernünftiger als wir alle zusammen. Die Geschichte von ihrer Fledermaus würde schon irgendwann kommen. Ich stand auf, um zu gehen.

»Könntest du vielleicht daran denken, Wasser in Johns Schale zu gießen?«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Bestimmt hat sie Durst.«

Später rief ich Sissi an.

»Sis?«

»Nong.«

»Was macht Leather?« Ich erkundigte mich immer gern nach Leather, denn auf seine ganz eigene, seltsame, vermutlich nicht existente Weise war er ein stabilisierender Fixpunkt in Sissis Leben geworden.

»Er ist weg.«

»Weg?«

»Ich habe ihn gelöscht.«

»Was hat er getan?«

»Er wollte Urlaub nehmen und herkommen.«

»Oh, wie schrecklich! Ist es schrecklich?«

»Selbstverständlich. Ich will nicht sehen, wie sie wirklich sind.«

»Vielleicht wäre er nett gewesen.«

»Er nennt sich Leather und peitscht online Frauen aus. Er ist entweder Fabrikarbeiter oder Busfahrer.«

Das stimmte mich richtig traurig. Ich sähe es gern, wenn sie sich mit einem Busfahrer zur Ruhe setzen würde.

»Und wer ist der Nächste?«, fragte ich.

»Ich werde die Männer eine Weile aufgeben.«

Das klang irgendwie nach mir in Pak Nam. Ich erzählte ihr von Ed und meinem vorübergehenden Abtauchen in die Homosexualität.

»Hast du jemals daran gedacht …?«, begann ich.

»Frauen? Machst du Witze?«, sagte sie. »Wer wollte so tief sinken? Nein, Schwesterchen, ich werde Tante.«

Darüber musste ich nachdenken.

»Müsste dafür nicht Arny tätig werden, oder ich?«

»Ha! Nicht in diesem Leben.«

»Danke für den Ausdruck deines Vertrauens.«

»Nein, ich werde Tausenden, vielleicht Millionen ein ›alter Schwuler‹ sein. Sagen dir die Worte Cyber Idol etwas?«

»Ich …«

»Nein, natürlich nicht. Es ist sehr asiatisch. Fing in Korea an. Inzwischen ist es in Japan noch größer und dringt langsam gen Süden vor.«

»Muss man dafür auch singen und sich von Produzenten erniedrigen lassen, die selbst kaum Talent haben?«

»Kein Stück. Es ist die ultimative Self-Style-Website. Stell dir junge Mädchen vor, die aussehen wie, sagen wir … du, und man stellt eine Homepage ins Netz, bei der die Mädchen ihre Fotos hochladen können. Aber auf dieser Seite gibt es Make-up und Frisuren und – pass auf – Photoshop-Tipps, wie man online absolut atemberaubend aussieht. Es gibt keine Regeln. Man darf alle Tricks anwenden, um rattenscharf auszusehen. Dann meldet man sich bei Online-Schönheitswettbewerben an, das Webpublikum stimmt ab, wer ihm am besten gefällt, und da ist es völlig egal, ob alle wissen, dass du eigentlich schlimm aussiehst. Es geht nur darum, was man tun kann, um den Eindruck zu vermitteln, dass man was hermacht. Und dasselbe gibt es für Männer: die Frisur, die Pickelentfernung, die Korsetts, das Airbrushing, und am Ende hat man diese süßen Kens und Barbies, die sich im Web verabreden.«

»Klingt irgendwie traurig.«

»Es ist wundervoll!«

»Es ist nicht echt.«

»Es ist besser als echt. Es ist total ehrlich. Alle wissen, dass sie unattraktiv sind, aber sie können dieses Leben als schöne Menschen leben.«

Es klang kein bisschen ehrlich.

»Wie passt du da rein?«, fragte ich.

»Ich kenne die Genies, die diese Website unterhalten. Sie wollen mich als Style-Guru. Ich gebe Tipps, wie man sich kleiden, bewegen und vor Webcams präsentieren sollte.«

»Bezahlen sie dich dafür?«

»Du weißt doch, dass ich immer für einen guten Zweck spenden wollte, aber nie den richtigen finden konnte. Tja, das ist er jetzt. Ich mache es pro bono.«

»Ein sehr guter Zweck.«

Und eine angemessene Wahl für einen Guru. Tante Sissi ermutigte eine ganze Generation leerer Menschen, so zu tun, als wären sie etwas, was sie nicht sind. Der Gedanke daran deprimierte mich. Nach weiteren zwanzig Minuten gelang es mir, unser Gespräch auf das Verbrechen zu lenken.

»Sissi, hast du irgendwelche moralischen Bedenken dagegen, dich in den Computer des DRA zu hacken?«

»Das ist das Drogen… Rehabilitations…?«

»Dezernat für Religiöse Angelegenheiten.«

»Oh, absolut nicht.«

Ich brachte sie auf den neuesten Stand im Feuang-Fa-Fall und erklärte ihr, was ich herausfinden musste.

»Meinst du, du könntest mir morgen Abend schon Bescheid geben?«, fragte ich.

»Ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass religiöse Websites leicht zu knacken sind. Jeder Affe könnte ins innerste Heiligtum vordringen. Die meinen, sie bräuchten keinen Schutz, weil eine Höhere Firewall sie schützt. Es ist ein wahrer Spielplatz für Agnostiker. Möchtest du, dass ich ein paar mystische Symbole hinterlasse, um sie zu verwirren?«

»Nein, eine kleine Stippvisite würde genügen. Danke.«

Als ich auflegte, war es halb elf, eine halbe Stunde nach meiner üblichen Schlafenszeit. Eben wollte ich unter die Dusche und mich verzweifelt im großen Spiegel betrachten, als mein Handy wieder ging. Ich hatte vergessen, es abzustellen.

»Hallo?«

»Kleine Journaille? Sind Sie noch wach?«

»Chompu? Was ist los? Sind Sie einsam?«

»Kaum. Ich bin von uniformierten Männern umgeben.«

»Fantasieren Sie?«

»Nein, ich telefoniere über die Freisprechanlage. Wir dachten gerade, ob Sie vielleicht mal rüber ins Revier kommen könnten.«

»Was? Jetzt?«

»Es gab da einen Zwischenfall.«