Kapitel 1
»Familie ist, wo unsere Nation Hoffnung schöpft, wo Flügeln Träume wachsen.«
George W. Bush
LaCrosse, Wisconsin, 18. Oktober 2000
Der alte Mel heuerte einen Neffen von Da an, den minderbemittelten mit der Delle in der Stirn, damit dieser ihm hinter dem Haus einen Brunnen aushob. Die Bewässerungsgräben, die seine Familie zwischen den Reihen der Ölpalmen ausgehoben hatte, reichten nicht bis zum hinteren Zaun, und die jungen Palmwedel wurden schon braun, bevor sie sich entfalten konnten. Seit einem Monat hatte es nicht geregnet. Zwei Wochen lang hatte Mel Gießkannen geschleppt, und langsam knackten seine Rückenwirbel wie Mah-Jongg-Steine. Deshalb also ein Brunnen, eine billige, chinesische Pumpe und ein halbes Dutzend Sprinkler, dann musste er nur noch einen Schalter drücken. Ölpalmen waren pflegeleicht, wenn man sie oft genug wässerte und alle drei Monate düngte. Zwanzig Bäume gerettet, ohne sich den Rücken zu ruinieren. Es war den Preis mehr als wert.
So saß Mel also letzten Sonntag auf seinem Zaun und sah dem jungen Mann bei der Arbeit zu. Angesichts der Delle im Schädel des Neffen fragte sich Mel, ob er vielleicht eine Bocciakugel an den Kopf bekommen hatte. So groß war die Delle. Aber er beschloss, lieber nicht nachzufragen. Er wusste, dass die Antwort lang und feucht ausfallen würde, dass sein Neffe aufhören würde zu arbeiten, weil er nicht zwei Sachen gleichzeitig machen konnte. Also saß Mel nur da und beobachtete ihn beim Graben. Er hätte ein bisschen mit anfassen können, um ihm die Arbeit zu erleichtern, aber Old Mel vertrat die Ansicht, man solle sich keine Ziege leihen und dann selbst meckern.
Die bewährte, südthailändische Methode, einen Brunnen auszuheben, wäre in westlichen Ländern sicher nicht erlaubt, da dort bestimmte Vorstellungen von »Qualität« und »Sicherheit« eine entscheidende Rolle spielten. Vier Betonrohre von je einem Meter Länge lagen dort. Der Neffe sollte ein Loch graben, das breit und tief genug war, eines davon aufzunehmen. Dann würde er in das Loch springen und das Erdreich unter dem Rohr herausschaufeln. Wie ein sehr langsamer Fahrstuhl würde es sich in die Erde absenken. Sobald der obere Rand auf Höhe des Feldes war, käme das zweite Stück Rohr obendrauf, und das Ausheben konnte weitergehen. Der Boden war eine Mischung aus Erde und Sand, und sobald man das unentwirrbare Wurzelwerk hinter sich hatte, fiel das Graben nicht mehr schwer. Mit etwas Glück bekam man erst Probleme, wenn das dritte Rohrstück aufgesetzt wurde und das Wasser anstieg, was die Grube in ein Schlammbad verwandelte. Bis das vierte Segment auf gleicher Höhe mit dem Feld war, würde der arme Kerl die Hälfte seiner Zeit in trübem, braunem Wasser stehen.
An diesem trockenen Samstagmorgen jedoch wollte sich der Brunnen nicht ausheben lassen. Schon auf Hüfthöhe traf der Neffe mit der Hacke auf etwas Festes. Ein lauter, metallischer Gong vertrieb die schreckhaften Drongos aus den Bäumen. Eidechsen huschten unter Steinen hervor. Offenbar hatte der Neffe seinen Spaß daran, denn er schlug noch dreimal zu, bis Mel ihn überreden konnte, damit aufzuhören. Der alte Mann kletterte von seinem Zaun, hakte seine Zehen in die Sandalen und schlenderte zur Grube hinüber. Am Betonrand blieb er stehen und blickte auf die Füße seines Arbeiters hinab, zwischen denen überraschenderweise etwas Rostiges zu sehen war.
»Das kann nicht groß sein«, sagte Mel. »Wahrscheinlich der Deckel von einem Fass. Such den Rand. Dann kannst du die Hacke drunterschieben und das Ding anheben.«
Leicht gesagt. Der Neffe stocherte und bohrte, doch alle Versuche brachten nur dasselbe blecherne Geräusch. Es gab keinen Rand. Vielleicht reichte das Ding sogar vom Golf von Thailand bis zum Andamanen-Meer und war mit einer der Kontinentalplatten verbunden. Mel konnte nichts anderes denken, als dass diese Metallplatte zwischen ihm und seinen Rückenschmerzen stand. Er würde nicht kampflos aufgeben, und wenn es die Erde aus dem Lot brachte. Er ging zum Zaun, nahm eine stabile, schwarze Brechstange und hielt sie dem Jungen hin.
»Hier, nimm!«, sagte er. »Brich es auf!«
Ratlos starrte der Neffe das Werkzeug an. Es war nicht zu übersehen, wie schwerfällig sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Langsam wurde die Brechstange in Mels Hand schwer.
»Ich werde nur fürs Graben bezahlt«, sagte der Neffe schließlich. »Von Brechen hat mir keiner was gesagt. Das ist ein Job für einen Fachmann, das Brechen. Ich kann nur graben.«
»Mach schon, Junge! Sieh es dir an! Es ist total verrostet. Man könnte glatt ein Loch reinniesen.«
»Ich weiß nicht, Old Mel. Der Werkzeugverschleiß. Die ganze zusätzliche Zeit …«
Da lernte Mel seine Lektion. Eine Delle im Kopf hatte unter Umständen keinerlei Auswirkungen auf das erpresserische Talent junger Männer.
»Na gut, pass auf! Ich bezahl dich nicht dafür, dass du irgendwo anders den nächsten Brunnen anfängst. Wieso sagen wir nicht einfach … wie viel? Fünfzig Baht extra? Was meinst du?«
Damit war die Diskussion beendet. Eifrig schlug der Neffe mit der Brechstange auf die Metallplatte ein. In Vorfreude auf weitere fünfzig Baht arbeitete er wie ein übereifriger Dosenöffner. Er stand mitten in der Grube und meißelte sich durch das Blech. Genau wie Mel hatte auch er wahrscheinlich erwartet, er würde ein rundes, rostiges Stück herausnehmen und könnte darunter ungestört weitergraben. Er war davon ausgegangen, dass sich unter dem Metall fester Boden befand. Vermutlich hätte er nicht einmal in seinen wildesten Träumen dieses zähneknirschende Knarren erwartet oder dass das Metall, auf dem er stand, wie eine Falltür nachgeben würde. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er in der Luft zu hängen, dann stürzte er in dunkle Leere.
In der heißen Morgenluft zog sich die Stille wie warmer Nudelteig. Vögel und Grillen hielten den Atem an. Über ihnen hingen Wolkenfetzen. Mel beugte sich leicht vor, um einen Blick in die Grube zu werfen, doch er sah nur Schwarz. Er wusste nicht mehr, wie der Junge hieß, also rief er irgendwas.
»Alles okay da unten?«, fragte er. Dann, als ihm bewusst wurde, dass der Schacht vielleicht sehr tief war, rief er lauter: »ALLES OKAY?«
Es kam keine Antwort.
In einer Reihe von Ländern rund um den Globus gibt es etwas, das man als südliches Temperament bezeichnet. Thailand bildet da keine Ausnahme. Sicher hätte Old Mel weglaufen und um Hilfe rufen können. Er hätte laut an die alte Blechwanne schlagen können, die vom Balkon hing, oder die zwei Kilometer zum nächsten Münztelefon laufen. Aber er war Südländer. Er brach einen Grashalm ab und kaute darauf herum, während er auf dem Betonrohr saß und in den Abgrund blickte. Da gab es einiges zu bedenken. Vielleicht war es im Grunde ein Segen. Er überlegte, ob sie möglicherweise auf einen alten Brunnenschacht gestoßen waren. Es würde ihnen viel Zeit ersparen. Aber er hatte kein Platschen gehört. Vermutlich war alles trocken. Das war Pech.
»Junger Mann?«, rief er noch einmal, eher halbherzig.
Noch immer keine Antwort.
Mel fragte sich, welcher Zeitraum wohl angemessen war, bevor man sich Sorgen machen musste. Schon schmiedete er an einem Plan herum. Geh rüber zum Schuppen. Hol ein Seil. Binde es an den Zaun. Lass es in das Loch hinunter und … Doch da war das Problem mit seinem Rücken. Das würde nichts werden. Er musste Gai, seinen Nachbarn, rufen, um …
»Old Mel!«
Die Stimme klang seltsam, hallte wie die einer einsamen Sardine in der Dose.
»Old Mel. Bist du da?«
»Was treibst du da unten?«, fragte Mel. »Sitzt du fest?«
»Nein, nein. Mir ist nur gerade die Luft weggeblieben, aber ich hatte Glück. Ich sitze auf … einem Bett.«
»Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung, Junge. Du brauchst einen …«
»Nein. Ich sitze auf einem Bett. Wirklich wahr.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kann die Federn spüren.«
»Pflanzenwurzeln, Junge. Kann man leicht mit Bettfedern verwechseln.«
Mel dachte, dass eine Gehirnerschütterung bei diesem Jungen keinen großen Unterschied machen würde.
»Okay, hör zu. Ich muss Hilfe holen«, sagte er.
»Ich glaube, ich kann mich selbst befreien, Old Mel. Ich sitz nicht weit vom Loch. Ich sehe es direkt über mir.«
»Bist du verletzt?«
»Nein, aber mein Hemd ist an einer Feder hängen geblieben. Du solltest runterkommen und es dir ansehen. Es ist ganz merkwürdig, Old Mel. Und je mehr sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, desto merkwürdiger wird es.«
»Was kannst du erkennen, Junge?«
»Fenster.«
Old Mel schnaubte. »Du sitzt auf einem Bett und bist von Fenstern umgeben? Klingt ja fast, als wärst du auf ein unterirdisches Schlafzimmer gestoßen. Eher unwahrscheinlich, oder?«
Er überlegte, wo die nächste psychiatrische Notaufnahme sein mochte. Ob die normale Krankenversicherung für monatlich dreißig Baht auch für eine Analyse aufkam.
»Und da ist …«, begann der Neffe.
»Eine Nachttischlampe?«
»O nein. Old Mel. Old Mel!« Seine Stimme bekam etwas Panisches.
»Was? Was ist?«
»Hier unten sind Skelette.«
Mel hoffte, man würde nicht ausgerechnet ihm die Wiedereingliederung des Jungen übertragen. Von ihm verlangen, den Neffen zu subalternen Tätigkeiten heranzuziehen, bei denen sein Defekt kein allzu großer Nachteil war. Als Vogelscheuche zum Beispiel. Vielleicht fand er einen Zeugen, der beschwören konnte, dass der Junge schon halb hirntot gewesen war, bevor er in den alten Brunnenschacht fiel. Angesichts der vielen arbeitslosen Anwälte heutzutage konnte man nicht vorsichtig genug sein. Alles Schweinepriester, diese Anwälte.
»Sind das Tierknochen, Junge?«, fragte er, um ihn nicht zu provozieren.
»Nein, Old Mel. Es sind Menschen.«
»Woran siehst du das?«
»Der eine hat einen Hut auf.«
So weit war ich mit meiner Prosaversion gekommen. Es wird einem glatt ausgetrieben, das Schreiben mit Herzblut. Und diese Version war auch eigentlich nur für mich gedacht. Um mir zu beweisen, dass die Diva in mir die Tastatur noch immer lieben kann, sofern ihr danach zumute ist. Wenn ich für Zeitungen schreibe, muss ich die Diva fesseln und knebeln. Dort mag man sie überhaupt nicht. Diese Leute wollen keine Liebe. Sie wollen ein kurzes Schäferstündchen, das schon bald vergessen ist. Sie wollen Daten und Zeiten, Zahlen und Fakten – und Statistiken. Sie wollen die Namen und das Alter der Opfer und der Täter, den Rang jedes einzelnen Polizeibeamten, der irgendwie mit dem Fall zu tun hatte, die wortgetreuen Zitate von Experten und die grammatikalisch unpräzisen Fehlaussagen der Augenzeugen. Es ist ihnen egal, was ich denke. Ich bin nur diese komische Kriminalreporterin, oder zumindest war ich das. Hin und wieder versuchte ich, eine Metapher einfließen zu lassen, doch die Mail ließ ihre redaktionelle Medusa auf mich los, bis mein Text aussah wie ein Lexikon kriminalistischer Begriffe mit Ortsnamen. Das Ergebnis landete sonntagmorgens am Zeitschriftenstand.
ZWEI LEICHEN
IN VERGRABENEM FAHRZEUG
Provinz Chumphon. Zwei bisher nicht identifizierte Leichen wurden gestern in einem VW-Bus Typ 2 mit dem Kennzeichen Or Por 243 aus der Provinz Surat Thani gefunden, vergraben am Rande einer Ölpalmplantage im Unterdistrikt Bang Ka, Distrikt Lang Suan, in der Provinz Chumphon. Generalmajor Suvit Pamaluang von der Polizei in Lang Suan erklärte, die Leichen seien am Samstag, dem 23. August, um 08.00 Uhr morgens, von Mr. Mel Phumihan, dem Besitzer des Geländes, entdeckt worden. Bisher konnten die Toten nicht identifiziert werden, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, wie das Fahrzeug dorthin gelangen konnte.
Um 10.00 Uhr erhielten Constable Ma Yai und Constable Ma Lek vom Polizeirevier der Untergemeinde Pak Nam im Distrikt Lang Suan den Auftrag, nach Bang Ka zu fahren, nachdem dort um 09.23 Uhr ein Anruf eingegangen war. Bei ihrem Eintreffen auf Mr. Mels Plantage wurden sie von Mr. Mel (68) und seinem Tagelöhner, Mr. Anuphong Wiset (22), in Empfang genommen. Die beiden Männer hatten einen Brunnen ausgehoben und waren im Erdreich auf ein unerwartetes Hindernis in Form eines vollständig erhaltenen VW-Busses, Baujahr 1972, gestoßen, allgemein als »Bulli« bekannt, rot und beige lackiert. Die Beschreibung des Fahrzeugs wurde an das Polizeirevier in Surat durchgegeben, und noch immer sind die Beamten damit beschäftigt, vermisste Fahrzeuge aufzuspüren, auf die diese Beschreibung passt. Der diensthabende Sergeant Monluk Pradibat von der zentralen Kraftfahrzeugmeldestelle in Bangkok teilte unserer Zeitung mit: »Dieses Fahrzeug wird besonders schwer zu finden sein, weil unsere computerisierten Daten vermisster Fahrzeuge nur bis 1994 zurückreichen. Die Unterlagen aus der Zeit davor befinden sich in Aktenordnern in unserem Zentrallager.«
Was die Identität der Toten angeht, so erklärte Police Major Mana Sachawarapong, der Chef des Reviers von Pak Nam, in dessen Zuständigkeitsbereich die Entdeckung gemacht wurde: »Die Identität der Leichen und die Todesursache werden noch untersucht, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass es sich hierbei um einen Unfall, einen Mord oder die Folge eines Unglücks handeln dürfte.« Doch auch einen Selbstmord konnte der Revierleiter nicht ausschließen.
So machte sie es immer, die thailändische Polizei. Alle Möglichkeiten offenhalten. Viermal ins Gesicht geschossen, in einem Zeitraum von zwanzig Minuten? Selbstmord ist nicht auszuschließen. Kürzlich hatten sie einen Kopf in einer Plastiktüte gefunden, die in Bangkok am Seil von einer Brücke hing, und wollten auch hier einen Selbstmord nicht ausschließen. Damit die öffentlichkeitsgeilen Polizeichefs der Presse etwas zu erzählen hatten. Damit sie wichtiger klangen. Statt zuzugeben: »Wir haben keinen Schimmer«, ging der zuständige Abteilungsleiter die Liste offensichtlicher Möglichkeiten durch, selbst wenn er gar nicht am Tatort gewesen war. Solange du seinen Namen richtig buchstabiertest, unterhielt er sich den ganzen Tag mit dir. Vielleicht merkt man mir an, dass ich unseren Herren in Kaki gegenüber eher düstere Gefühle hege.
Aber es hatte auch was Positives: Ich war wieder da. Na gut, mein Name wurde nicht genannt, weil die thailändischen Tageszeitungen kein Verständnis für die Eitelkeiten ihrer Reporter haben, doch die Nachricht würde sich verbreiten, dass ich von den Toten auferstanden war. Ich mochte am Arsch der Welt wohnen, aber ich hatte immer noch ein Näschen für eine gute Geschichte. Nach neun Monaten Berichterstattung über Auffahrunfälle und Kokosnuss-Statistiken war ich geradezu begeistert, als ich hörte, dass man diese Leichen gefunden hatte. Bitte lass sie Mordopfer sein!, betete ich. Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich bin nicht blutrünstig. Ich brauchte nur eine Bestätigung, dass sich der Mensch anderen Menschen gegenüber nach wie vor unmenschlich verhielt. Mittlerweile waren mir direkt Zweifel gekommen.
Ich hatte in einer unserer Grasdachhütten mit Blick auf die Bucht gesessen und Makrelen ausgenommen, als ich die Nachricht von Old Mels Bulli hörte. Sofern wir nicht ein paar Zackenbarsche oder leckere Sardellen reinbekommen, stellt das Ausnehmen einer Makrele in unserem Dorf am Ende aller Straßen für gewöhnlich den Höhepunkt der Woche dar. Kow, der Tintenfischkapitän, kam auf seiner Honda Dream mit Fischfrikadellen vorbei. Er ist unser ortseigener Paul Revere. Man braucht kein Handy und kein Internet, wenn man jemanden wie Käpt’n Kow in der Nähe hat. Ich habe keine Ahnung, woher er das alles weiß, aber ich schätze mal, bei den meisten Nachrichten dürfte er der BBC wohl eine gute Stunde voraus sein.
»Schon gehört?«, rief er.
Natürlich hatte ich es nicht gehört. Ich höre nie irgendwas.
»In Mels Hinterhof haben sie ein Auto mit zwei Leichen gefunden.« Er lächelte. Er hat eine Art Briefschlitz, wo seine Vorderzähne sein sollten. Schon deshalb möchte man gern an ihm zweifeln, aber er hat ausnahmslos recht. Sein südlicher Akzent ist so ausgeprägt, dass ich ein paar Sekunden brauchte, bis ich seine Worte entschlüsselt hatte.
»Wer ist Old Mel?«, fragte ich.
»Hat zwanzig Hektar draußen an der Straße von Bang Ka, kurz vor Bang Ga.«
Ich war freudig erregt. Es war der erste Ausdruck von Begeisterung, den ich in diesem Jahr verspürte. Ich musste da hin! Mein kleiner Bruder Arnon, scherzhaft Arny genannt, war irgendwo mit dem Pick-up unterwegs, und Opa Jah hatte das Moped. Mir blieb nur Mairs klappriges Fahrrad mit dem Korb vorn am Lenker. Ich rief meiner Mutter zu, dass ich es mir nehmen wollte, und hörte ein leises: »Vergiss nur nicht zu tanken« von drinnen aus unserem Laden. Schon klar, Mair.
Abgesehen von der Brücke über den Fluss Lang Suan sind die Straßen hier in der Gegend meist flach und führen durch Palmenwälder und Kokosnussplantagen. Ganz hübsch, wenn man Grün mag – ich nicht. Hier und da ragen Kalksteinklippen auf, was irgendwie ungepflegt aussieht, aber Hügel gibt es eigentlich keine. Old Mels Haus lag etwa zehn Kilometer entfernt, und Sport war nicht gerade eine meiner Stärken. Aber man weiß ja, wie es ist, wenn man erst mal Blut geleckt hat. Meine kurzen Beine strampelten auf die Pedale ein, Adrenalin durchströmte meine Adern, und urplötzlich – mit überschäumender Klarheit – fielen mir meine glorreichsten Augenblicke ein. Die wunderbaren Verbrechen, über die ich berichtet hatte, die zahllosen Leichen, über die ich gestiegen war, immer vorsichtig, um nicht ins Blut zu treten, die kastrierten Ehemänner, die aufgebrochenen Geldautomaten, die Junkies, die lesbischen Hochhaus-Selbstmörderinnen, die mörderischen Moped-Gangs, die Schmuggler mit ihren Lastwagen, die mysteriös verstümmelten Tramper, die Unfälle bei Schulbusrennen, die schmierigen Pseudowahrsager, Gangster, die ich überführt hatte – wenn auch anonym –, die Morde durch Erstechen, Ersticken, Erdrosseln … Ach, ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll!
Was für eine Karriere ich vor mir hatte! Mein Name, Jimm Juree, war in ganz Thailand ein Synonym für vorbildliche Kriminalreportagen. Nicht einmal die schlichte Kost, die übrig blieb, nachdem die Medusa über mich hergefallen war, konnte von meiner offensichtlichen Affinität zu meinem Job ablenken. Man respektierte mich. Fast saß ich schon auf dem Ledersessel des leitenden Kriminalreporters. Saeng Thip konnte seine Aufgabe kaum noch erfüllen, und alle wussten, dass es um seine Gesundheit nicht gut bestellt war und ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Man gab ihm noch ein halbes Jahr. Dann wäre ich dran. Man musste mich nur noch abnicken. Die erste Leitende Kriminalreporterin in der Geschichte der Chiang Mai Mail. Landesweit erst die zweite. Ich. Auf Höhenflug.
Und dann, eines heißen Frühabends im August letzten Jahres, stand mein kleiner Reispapierballon plötzlich in Flammen und stürzte ab. Offenbar hatte ich den entscheidenden Leuten in einem früheren Leben nicht genug Schmiergeld gezahlt. Obwohl die Beteiligung unserer Mutter – Mair – an der ganzen Sache nicht zu leugnen war, behauptete sie nach wie vor, es sei Schicksal gewesen. Sie sprach von »Karma«, aber es kann wohl kein Zufall gewesen sein, dass sie den Buddhismus etwa zur selben Zeit für sich wiederentdeckte, als sie dement wurde.
Dieser Abend vor ziemlich genau einem Jahr hat sich für alle Zeit auf die DVD meiner Seele gebrannt. Sie läuft ununterbrochen, selbst wenn ich aus bin. Ich sehe die Bilder. Höre den Soundtrack. Ich weiß genau, bei welcher Szene der Film stehen bleibt, mit dem Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens auf meinem Gesicht.
Ich hatte einen erfolgreichen Tag gehabt, was alles nur noch schlimmer machte. Ich meine, einen echt erfolgreichen Tag. In Maerim war ein alter Mann tot aufgefunden worden, dem jemand mit einer Stiftpistole in die Schläfe geschossen hatte. Die Polizei verhaftete den Teenager von nebenan, der als Unruhestifter bekannt war und an der Schulter die Tätowierung eines gepfählten Kätzchens trug. Ich hatte schon früher mit ihm zu tun gehabt. Ich wusste, dass er ein Teufelsbraten war, hatte aber meine Zweifel, dass er einen Mord begehen würde. Dafür muss man dann doch ein gänzlich anderer Mensch sein.
In den letzten dreizehn Jahren hatten seine Großeltern ihn mehr schlecht als recht aufgezogen, seit seine Mutter, ein Barmädchen, ihn sitzen gelassen hatte und spurlos verschwunden war. Augenscheinlich waren sie der Aufgabe ebenso wenig gewachsen gewesen wie bei ihrer Tochter. Ich interviewte die Großeltern. Die Polizeiakte war offiziell geschlossen, und der Junge stand vor einem langen, düsteren Tunnel, der ihn am Ende wegen Mordes in einem Gefängnis für Erwachsene ausspucken würde. Er hatte den alten Mann vor Zeugen bedroht, und die Polizei hatte die Tatwaffe unter seiner Matratze gefunden. Sie suchten gar nicht weiter. Bitterarme Familie. Kein Geld für einen Anwalt. Ein hübscher Erfolg für die Statistik dieses Monats. Die Großmutter war außer sich – stand für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Aber der Großvater wirkte irgendwie nervös. Er war der Trinkkumpan des alten Mannes gewesen. Sie waren schon seit der Grundschule befreundet. Ich hätte seine knurrigen Antworten und den Mangel an Blickkontakt auf eine Angina Pectoris oder den Umstand zurückgeführt, dass er seinen besten Freund verloren hatte, aber ich spürte, dass da noch was anderes sein musste. Er war ein Mann, der reden wollte.
Ich ging zum Getränkestand an der Ecke und kam mit einer halben Flasche Mekhong-Whiskey zurück. Ich schlug vor, auf den Verblichenen anzustoßen und ihm auf dem Weg durchs Nirwana zur nächsten Inkarnation alles Gute zu wünschen. Hoffen wir, dass es ihm dort besser ergeht. Der Großvater schenkte ein, ohne ein Wort zu sagen. Seine Hand zitterte leicht, als er mir mein Glas reichte. Er hob seinen Drink an die Lippen, hielt ihn dort. Er roch daran und blickte in die glasig braune Flüssigkeit, als könnte er darin sein Gewissen sehen.
»Wir waren an diesem Abend betrunken«, sagte er mehr zum Whiskey als zu mir.
Ich ließ mein Glas sinken, um ihm zuzuhören.
»Wir haben uns oft betrunken, aber dieser Abend war verrückter als sonst. Er kam gerade aus Fang zurück, mit einem halben Dutzend Flaschen Fusel und diesem verfluchten Amulett. Er meinte, er hätte es jemandem vom Stamm der Akha aus den Bergen abgekauft. Er meinte, es besäße Zauberkräfte. Er hat geschworen, er hätte gesehen, wie der Mann in einen Gewehrlauf gestarrt und nicht mal gezuckt hatte, als seine Frau auf ihn schoss. Er meinte, die Kugel sei einfach von ihm … abgeprallt.«
So fing das Geständnis an, und dabei rührten wir beide den Whiskey gar nicht an. Dennoch fand ich die zweiundachtzig Baht gut investiert. Es stellte sich heraus, dass der alte Mann davon überzeugt gewesen war, das Amulett mache ihn kugelsicher, und als der Abend fortgeschritten war und sie immer betrunkener wurden, stiftete der Nachbar seinen Freund an: »Mach schon! Schieß auf mich! Schieß doch, wenn du mir nicht glaubst!«
»Anfangs habe ich ihn ignoriert«, sagte der Großvater. »Aber er hat nicht aufgehört damit. Ich wusste, dass der Junge eine Stiftpistole hat. Ich hatte sie schon mal gesehen. Ich nahm sie – eher um ihm zu drohen als sonst was. Um zu bluffen. Um ihn zum Schweigen zu bringen. Wissen Sie? Aber als er die Waffe sah, wurde er nur noch aufgeregter. ›Mach schon!‹, sagte er. ›Ich weiß, du glaubst mir nicht. Mach schon, Feigling, tu es!‹«
»Und Sie haben es getan«, sagte ich.
»Ja.«
Der Junge kam frei, und sein Großvater wurde der fahrlässigen Tötung angeklagt. Die Mail ließ mich den Fall als persönlichen Bericht abfassen. Das wiederum gefiel der Medusa nicht. Sie strich alle meine Adjektive und vereinfachte den Artikel, aber es blieb noch immer meine Geschichte: Wie ich einen Fall löste, den die Polizei schon abgeschlossen hatte. Man kann gar nicht beschreiben, wie es sich anfühlt. Es hätte der glücklichste Tag der Woche sein sollen. Zur Feier des Tages kaufte ich einen Fünf-Liter-Kanister roten Mont Clair und zwei Päckchen Schokoladenkekse. Ich stellte mir vor, wir würden alle um den Küchentisch sitzen, einen picheln und über Mair lachen, die ein völlig anderer Mensch wurde, sobald Alkohol auch nur ihre Lippen benetzte.
Wir hatten einen kleinen Laden gleich neben dem Campus der Chiang-Mai-Universität. Abends hörte man oft das Kreischen der Cheerleader beim Training – manche davon weiblich – und nachts die Betrunkenen, die mit ihren Motorrädern durch die Blumenbeete rasten. Ernsthafte Studenten zogen sich ins Starbucks zurück, wenn sie Ruhe und Schokoladencroissants brauchten. Manches hatte sich verändert, seit ich dort studiert hatte. In unserem Laden gab es nicht viel: Instant-Nudelsuppen, Reiscracker, klebrige Moskitospiralen, Shampoo, Bier, solche Sachen. Wir waren so etwas wie rustikaler 7-Eleven. Mair hatte ein paar Waschmaschinen aufgestellt, damit die Studenten ihre Wäsche abgeben konnten, und unweigerlich aßen und tranken sie dann auch etwas. Und wir waren gleich neben einem Wohnheim voller farang, weißhäutiger Ausländer, die sich einen Fernsehabend ohne ein halbes Dutzend Singha-Biere schlicht nicht vorstellen konnten. So sah unser Kundenstamm aus. Wir würden es nicht bis ins Forbes Magazine schaffen, aber wir kamen zurecht. Der Bungalow, in dem wir aufwuchsen, das einzige Zuhause, das wir je hatten, befand sich direkt hinter dem Laden.
Ich hatte die Abkürzung durch die Universität genommen, was immer etwas problematisch war, weil die Wachen oft früher Feierabend machten, um nicht im Verkehr stecken zu bleiben. Es war noch nicht mal zehn vor fünf, doch die Seitentore waren schon geschlossen. Die Kette mit dem Vorhängeschloss war nur locker darum herumgelegt. Schlanke Thai-Studenten konnten sich durch den Spalt zwängen, grobschlächtige, übergewichtige Vergewaltiger nicht. Die Mädchen konnten in ihren Wohnheimen ruhig schlafen. Ich parkte mein Moped neben dem Wachhäuschen und schob mich durch das Tor. Noch ein paar Pizzen mehr, und ich würde den Umweg nehmen müssen.
Ich wusste, dass etwas passiert sein musste, als ich Opa Jah auf dem Kantstein vor unserem Laden sitzen sah. Er trug Unterhemd und Shorts und saß mit nackten Füßen im Rinnstein da. Weder sein Aufzug noch sein Verhalten war ungewöhnlich. Er hockte gern am Straßenrand. Seit einigen Jahren bestand sein Lebenszweck darin, sich jedes Fahrzeug genau anzusehen, das vor unserem Laden vorbeifuhr, sich das Kennzeichen zu merken, den Zustand der Karosserie zu begutachten und den Fahrer böse anzufunkeln. Es herrschte Feierabendverkehr, was seine liebste Tageszeit war, doch er ließ den Kopf hängen und verpasste ein paar faszinierende Anblicke.
Ich fragte ihn, ob alles okay sei, doch er zuckte nur mit den Schultern und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Opa Jah war kein großer Redner, und ich hatte keine Ahnung, was mir diese Geste sagen sollte. Vielleicht wollte er mich auf die beiden Kunden aufmerksam machen, die im Laden warteten, weil keiner da war, um sie zu bedienen. Undenkbar, dass er vielleicht mal seinen Hintern hochbekam und sich zur Abwechslung ein bisschen nützlich machte. Nein. Dafür fuhren zu viele Autos vorbei, die beobachtet werden wollten. Ich rief nach Mair, aber es kam niemand, also bediente ich die Kunden selbst und ging über den betonierten Hof in unsere Küche. Ich stieß auf einen Anblick, der mich an ein Militärgericht erinnerte.
Am einen Ende des Küchentischs saß meine Schwester Sissi, die früher mein älterer Bruder Somkiet gewesen war. Den Platz am anderen Ende des Tischs nahm mein derzeitiger Bruder Arny ein. Er war das, was man allgemein als Bodybuilder bezeichnete, und heute Abend spannte sich das T-Shirt derart stramm über seine Muskeln, dass es wie aufgemalt aussah. Er hielt einen Klumpen Taschentücher in der rechten Hand, und es war nicht zu übersehen, dass er geweint hatte.
Zwischen den beiden saß Mair, meine Mutter. Sie trug ein förmliches schwarzes Kostüm, das normalerweise traurigen Anlässen vorbehalten war. Sie hatte etwas Make-up aufgetragen, ihr Haar zu einem laotischen Knoten hochgebunden und sah aus wie eine elegante Bestattungsunternehmerin in den besten Jahren, schöner als ich sie seit Monaten gesehen hatte. Allerdings fiel mir auf, dass die weiße Bluse, die sie unter ihrer Jacke trug, falsch geknöpft war. Es mochte ein Fashion Statement sein, aber ich wusste es besser. Ich konnte die Stille nicht ertragen.
»Jemand gestorben?«, fragte ich.
»Wir«, sagte Sissi und starrte geflissentlich zu den Deckenbalken hinauf. Die Temperaturen lagen an diesem Tag bei bis zu vierunddreißig Grad im Schatten, doch wie üblich trug sie eine Sonnenbrille und einen dicken Schal, weil sie nicht davon abzubringen war, dass sie mit der schlabberigen Haut an ihrem Hals wie ein Truthahn aussah. Das war nicht der Fall, ihr Hals war okay. Es gab wirklich nichts Traurigeres als eine alternde, transsexuelle Ex-Schönheitskönigin. Zumindest dachte ich das früher.
»Möchte mir vielleicht jemand erzählen, was hier passiert ist?«, flehte ich. Offenbar nicht. Keiner sagte was. Die Eidechsen an der Decke gingen um die – bislang dunkle – Neonröhre über unseren Köpfen in Stellung und zuckten aus Vorfreude auf das bevorstehende Festmahl. Doch meine Familie schwieg.
»Sie hat uns verkauft.«
Die Stimme kam von hinter mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass Opa Jah mir gefolgt war, doch nun stand er mit verschränkten Armen in der Tür. Es war so lange her, seit ich ihn zuletzt hatte sprechen hören, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie seine Stimme klang. Jetzt war die Familie vollständig, wenn auch jeder für sich. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Mair an. Die wundervollste, wenn auch manchmal unheimlichste Eigenschaft meiner Mutter war, dass nichts sie jemals aus der Fassung zu bringen schien. Selbst grauenvollsten Momenten – Tragödien oder Unfällen – begegnete sie mit dem immer gleichen, dürren Lächeln. Dann funkelten ihre hübschen Augen, und kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Schon oft hatte ich mir vorgestellt, wie sie mit der Titanic unterging, Leonardo DiCaprio neben ihr strampelte und Wasser spuckte und Mairs rätselhaftes Lächeln langsam in den eisigen Fluten versank. Dort an unserem Küchentisch trug sie ihr Titanic-Lächeln, und ich wusste, dass sich dahinter etwas Grauenvolles verbarg.
»Mair, was hast du getan?«, fragte ich.
»Ich …«
»Sie hat alles verkauft«, platzte Sissi heraus. »Das Haus, den Laden, alles.«
Das konnte unmöglich stimmen.
»Mair?« Wieder sah ich sie an. Sie zog eine Augenbraue hoch, nur ein Stückchen. Kein Dementi. Ich fühlte mich, als würden mir die Dielen unter den Füßen weggerissen. Ich ließ mich auf einen der leeren Stühle sinken.
»Wir werden ein besseres Leben haben«, sagte Mair. »Ich habe beschlossen, dass es Zeit wird wegzuziehen.«
»Beachte bitte das hohe Maß an Rücksprache«, fauchte Sissi.
»Wie konntest du so eine Entscheidung fällen, ohne mit uns zu sprechen?«, fragte ich. »Das ist unser Zuhause. Wir sind hier alle aufgewachsen.«
»Und wir sollten hier alle sterben«, fügte Opa hinzu.
»Eine Veränderung ist so gut wie ein Urlaub«, sagte Mair. »Ich denke dabei an euch alle. Ihr werdet mir dafür noch danken.«
»Können wir es nicht mehr rückgängig machen?«, fragte ich Sissi. Sie war unsere Vertragsspezialistin, unsere unbezahlte Sekretärin und Buchhalterin. Bestimmt hatte sie die Unterlagen geprüft.
Sie zog einen Stapel von Dokumenten aus ihrer nachgemachten Louis-Vuitton-Handtasche und legte ihn auf den Tisch. »Die Urkunde ist unterzeichnet, beglaubigt und unanfechtbar«, sagte sie. Ein bebender Seufzer kam von Arny am Ende des Tischs. Opa stand schäumend in der Tür. Wir alle wussten, dass die Eigentumsdokumente noch auf seinen Namen ausgestellt wären, hätte er nicht auf Oma gehört, als sie auf ihrem Sterbebett lag. Es war das erste Mal gewesen, dass er auf sie gehört hatte.
»Überschreib alles dem Mädchen!«, hatte sie gesagt. »Du könntest jeden Moment tot umfallen, und dann würden die Schweine im Rathaus nur Steuern und Zinsen kassieren. Am Ende bleibt nichts übrig. Überschreib es dem Mädchen!«
Und das hatte er dann getan, ein letztes Versprechen an eine Frau, auf die er nie gehört, der er nie gehorcht hatte. Ein einziges Mal hatte er getan, worum sie ihn bat, und das war nun dabei herausgekommen. Als einzige Eigentümerin bestand für seine Tochter rechtlich gesehen keinerlei Verpflichtung, die anderen in ihre Entscheidung mit einzubeziehen. Rechtlich gesehen.
Ich brauchte einen Moment, um nachzudenken. »Okay«, sagte ich schließlich. »Pass auf. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.«
»Ach nein?« Sissi brodelte förmlich.
»Nein.«
Natürlich log ich. Ich war genauso aufgebracht wie alle anderen, aber ich musste erst mal ein paar Sachen geraderücken.
»Nein. Überlegt doch mal! Wir wissen alle, dass man in dieses Haus viel Arbeit stecken müsste«, sagte ich mit wissendem Blick auf meiner ungewissen Miene. »Das Dach leckt, auch wenn es gar nicht regnet, und wir beherbergen einen ganzen Termitenstaat. Mit dem Geld aus dem Verkauf könnten wir uns was Besseres suchen …« Im Augenwinkel sah ich, dass Arny den Kopf schüttelte. Ich dachte, wenn ich ihn ignorierte, würde dieses Kopfschütteln unter Umständen verschwinden. »Vielleicht etwas außerhalb der Stadt, nur ein kleines Stück. Wir könnten sogar einen Garten mit …«
Sissi stieß dieses hochmütige Lachen aus, das sie bei ihrer Seifenoper gelernt hatte. »Oho. Aber das Beste weißt du ja noch gar nicht«, sagte sie. »Es geht noch weiter. Der Umzug ist schon arrangiert, Schwesterherz.«
»Verstehe ich nicht«, räumte ich ein.
»Das Geld, das der alte Laden hier gebracht hat, habe ich bereits in eine zauberhafte Ferienanlage im Süden investiert.« Mair leuchtete vor Stolz. »Wir werden es ganz bestimmt wundervoll haben. Ein Traum wird wahr.«
Es war einer dieser Träume, die man bekommt, wenn man kurz vorm Schlafengehen scharf gewürztes Hoor Mok mit klebrigem Reis isst. Ich spürte den Knoten direkt. Im Süden? Im Süden sprengten sich die Leute gegenseitig in die Luft. Alle flohen nach Norden, aber wir sollten in den Süden ziehen.
»Wie weit südlich?«, fragte ich.
»Ziemlich weit«, sagte sie.