Kapitel 18

»Nur selten fragt jemand: Was lernt unsere Kinder?«

George W. Bush

Florence, South Carolina, 11. Januar 2000

Drei Wochen waren vergangen. Die Klappstuhlaufständischen malten und dekorierten unser Regierungsgebäude in Sonnen- und Mimosenfarben. In den Zierteichen hatten sie Reis gepflanzt. Sie ließen sich nicht von dem Manöver täuschen, dass der Zechkumpan des bösen Satellitenschüsselzaren durch den Schwager des Zaren ersetzt werden sollte. Also gruben sie sich ein und veranstalteten Abendkurse zur Kunst der Herstellung pingpongballkleiner Rauchbomben. Das Land schlotterte ob ihrer eindrucksvollen Macht.

Die Monsunzeit stand bevor, nur wusste keiner, wann sie kommen würde. Käpt’n Kow meinte, die Einheimischen könnten das Wetter nicht mehr voraussagen. Er sagte, es hätte Zeiten gegeben, in denen jeder Fischer die Zeichen lesen konnte, wenn die Krebse aus dem Sand krabbelten, wenn die Seeschwalben zogen. Aber jetzt hörten sie alle Radio, genau wie die Leute in der Stadt. Die Welt war nicht zu retten. Und falls Stürme aufkommen sollten, ließ das Meer es sich nicht anmerken. Es war doch schier unmöglich, dass eine derart unermessliche Wassermenge dermaßen höflich sein konnte. Ich hörte das leise Flüstern der verschämten Flut, die auf dem feinen Kies kam und ging. »Ich bin hier, schsch. – Nein, ich bin hier, schsch.« Dann eine lange Pause vor dem nächsten Flüstern. Ich bewunderte das Ausmaß der Szenerie um mich herum und staunte, dass ich erkennen konnte, wo Meer und Himmel aneinanderstießen. In Chiang Mai sah man den Horizont im Grunde nie. Man glaubte, man könnte ihn sehen, bis sich eines Tages die dreckige Luft klärte und plötzlich eine gewaltige Bergkette vor einem aufragte. In Maprao jedoch, wo sich der Golf trügerisch weit erstreckte, kannte man diese Linie, für die man einen langen Hals machen musste, um sie ganz zu sehen, von links nach rechts, diese Linie, die den Rand der Welt darstellte. Man konnte auf dem hinteren Balkon sitzen und sich ansehen, wie ein Hurrikan über Kambodscha hinwegzog, wie die riesigen Kreuzfahrtschiffe zu einem Nichts schrumpften, wie die Sonne sahnig pink über einem gänzlich anderen Kontinent aufging.

Irgendetwas in mir hatte sich verändert. Langsam begriff ich, wieso alle Leute in einem Radius von zwanzig Kilo-
metern Idioten waren. Aus demselben Grund, aus dem man jahrelang in einem Apartment wohnen konnte, ohne mitzubekommen, dass der Nachbar in seinem Kühlschrank Leichenteile stapelte. Aus Ignoranz wächst Ignoranz. Wenn die Welt so schmal sein soll wie der eigene Verstand, so ist das eine persönliche Entscheidung. Ich hatte angenommen, ich wäre jedermann in Maprao überlegen, und hatte deshalb keinen Grund gesehen, meine Überlegenheit zu testen, indem ich mich mit den Menschen unterhielt. Wenn man sie allerdings erst mal kennenlernte, wurde einem seltsamerweise bewusst, dass hier mehr gesunder Menschenverstand vorhanden war als in einer ganzen Stadt voll gebildeter, aber erstickender Menschen. Ganz bestimmt mehr als in einer Fuhre korrupter Politiker. Sein Leben zu leben bedeutete für die Bevölkerung von Maprao nicht Verzweiflung – es war eine vernünftige Entscheidung eines sehr stolzen Volks.

Eine Weile war ich prominent. Drei staatliche Fernsehsender kamen, um mich zu meiner Rolle in der Aufklärung des Mords an dem Abt zu interviewen. Ohne das bizarre Ableben Mika Mikatas wäre der Vorfall vielleicht unbemerkt geblieben. Das Video ihres Selbstmords kam von ihrer Website und erfreute sich auf YouTube nie dagewesener Beliebtheit. Mikata hatte nicht die Absicht, sich lebend fassen zu lassen. Mit ihren Kameras vor der Brust und ihrem spektakulären, orangefarbenen Hut wurde sie von einem motorisierten Hängegleiter auf der obersten Plattform des Tokyo Tower abgesetzt, des größten orangefarbenen Gebäudes der Welt. Dort hielt sie eine herzzerreißende, aber praktisch unverständliche Rede und stürzte sich über die Brüstung. Ohrenzeugen konnten Fetzen von »Killing Me Softly« ausmachen, auf Japanisch, während sie in der Luft Purzelbäume schlug. Da jedoch sowohl Fotoapparat als auch Videokamera zerstört wurden, als sie von der vorstehenden Aussichtsplattform abprallte, konnte ihr eigentlicher Tod nicht aufgezeichnet werden, was für ihre Fans sicher eine große Enttäuschung war. Doch Liveaufzeichnung oder nicht – Mika Mikatas Tod war so farbenfroh wie ihre Morde.

Meine Artikel über die Ermittlungen und die daraufhin erfolgte Entlarvung der Mörderin wurden sehr gut aufgenommen. Ich hatte sogar eine Doppelseite in der Zeitschrift Matichon Weekly. Mir wurden Vollzeitstellen angeboten, die man nicht ausschlagen konnte. Ich bekam Anrufe von Chefredakteuren bei Tageszeitungen, neben denen die Mail wie Altpapier aussah. Oh, ich dachte darüber nach. Ich hatte schlaflose Nächte. Oft genug wählte ich alle Ziffern ihrer Telefonnummern, bis auf die letzte. Aber … na ja, wir mussten uns um unseren Laden kümmern. Unsere verschlafene Provinz, die vorübergehend vom Kuss des Todesengels aufgeweckt worden war, hatte beschlossen, die Schlummertaste zu drücken und weiterzuschlafen. Ich las weniger Zeitungen und nahm mehr Makrelen aus. In Ermangelung mieser Machenschaften konnte ich mehr Zeit und Mühe in unsere Ferienanlage investieren. Die Kundenfrequenz im Laden war zu einem Schnitt von sieben Leuten pro Tag in die Höhe geschnellt. Mit Gaews Hilfe hatte Arny die durchschnittliche Zimmerbelegung einer fünftägigen Berechnungsphase von eins auf eins Komma sieben erhöht, und zwar durch die schlichte Hinzufügung eines Schilds: LETZTE UNTERKUNFT UND VERPFLEGUNG AUF DEN NÄCHSTEN 100 KILOMETERN. Es stimmte nicht so ganz, oder besser gesagt: Es war eine dreiste Lüge, aber Reisende, die dumm genug waren, sich spätabends auf diesen abgelegenen Straßen her-
umzutreiben, würden uns nachträglich sicher nicht verklagen. Außerdem hatte Arny an Lonely Planet geschrieben, dass sie uns in ihre 2010er Ausgabe aufnehmen sollten. Das war ungefähr so, als würde ich an Mister Pulitzer schreiben und ihn bitten, mich auf die Liste zu setzen, aber ich bewunderte den Mumm meines Bruders.

Und ich? Ich kochte. Ich fing etwas an, das man eines Tages als Garten bezeichnen würde. Und ich fütterte die Hunde. Ja, das war ein Plural. Reisbällchen kam durch. Eines Tages trat er um sich wie eine kleine Kuh, kam zu sich wie ein wiedergeborener Köter und hat es seither kaum gewagt, in die Welt des Schlafs zurückzukehren. Vermutlich war mein Knöchel das Erste, was er gesehen hat, als er zu sich kam, denn er bleibt ihm so nah, dass ich nach jedem Gang durch den Garten Sabber von der Hose wischen muss. Es ist ein wenig jämmerlich, aber liebenswert, und ich muss zugeben, dass ich mich hin und wieder dabei erwische, wie ich ihn an mich drücke, aber nur solange er in der Reha ist. Gogo betrachtet mich nach wie vor finsteren Blicks und wahrt ihre Sphäre.

Was habe ich noch gemacht? Wohl nichts. Oh, doch. Ich bin zu einer Lösung gekommen, was das Geheimnis vom vergrabenen VW-Bus angeht. Die Welt hat nichts davon erfahren, und die Story bekam nicht einmal eine Fortsetzung in Thai Rat. Leser haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, und die Mühe, die Geschichte noch einmal zu erzählen, war den Redakteuren zu viel. Doch die Diva in mir hat angefangen, daraus ein Drehbuch für Clint zu machen. Es wird sensationell. Obwohl die Polizei den Fall aufgegeben hatte, war ich entschlossen, ihn am Leben zu erhalten. Ich hatte alles an Flussdiagrammen und Brainstormings und Beweismittelprüfungen vorgenommen und stand mit dem Rücken zur Wand. Es gab nur eine Sache, die ich sicher wusste: dass das Pärchen im vergrabenen VW-Bus nicht das Pärchen war, das man gebeten hatte, gegen Tan Sugit auszusagen. Allerdings gab es eine eindrucksvolle Liste von Dingen, die ich nicht wusste. Ich wusste nicht, wohin der erste VW-Bus verschwunden war, nachdem er kurz auf dem Polizeiparkplatz gestanden hatte, wer den zweiten VW-Bus gemietet hatte und wohin er gefahren war, was Tante Chainawat damit zu tun und wieso sie das kleine Grundstück an Old Mel verkauft hatte, wie der VW-Bus in die Erde gekommen war und alles Mögliche andere. Denn um die Wahrheit zu sagen, wusste ich in diesem Stadium nichts. Ich kann nicht sagen, dass es mir keine Sorgen bereitete, aber mir waren buchstäblich keine Spuren mehr geblieben, die ich verfolgen konnte. Sissi hatte das Internet durchsucht und war in die private Korrespondenz des einen oder anderen hochrangigen Polizisten eingetaucht, hatte jedoch nichts Entscheidendes gefunden. Vermutlich hätte ich es dabei belassen können, wäre da nicht die Erinnerung an den Fahrer und seine Freundin gewesen, die reglos auf ihren Sitzen saßen. Irgendwo gab es Familien, die sich fragten, was aus ihren Lieben geworden war. Was war mit ihren Seelen? Ich weiß. Das klingt nicht nach mir, oder? Aber das ewige Rumhängen in Tempeln … na ja, irgendwas muss da wohl abfärben.

Ein blöder Spruch, der mir immer wieder durch den Kopf ging, war das, was die alte Chinesin an dem Tag gesagt hatte, als ich von ihr wissen wollte, wieso sie das Stück Land verkauft hatte. Selbst angesichts ihres schlechten Thailändisch klang es immer noch wie eine Zeile aus einem zweitklassigen Kung-Fu-Film: »Menschen, die Vergangenheit und Zukunft verbinden, erfahren vielleicht etwas über Gegenwart.« Ich hatte schon daran gedacht, wieder rüber nach Ranong zu fahren und mit einem Baseballschläger aus ihr herauszuprügeln, was sie damit meinte, aber das war an einem der sehr seltenen Tage, an denen es bei uns rotes Fleisch gab.

Also begann ich mit der Vergangenheit. Ich wusste bereits, dass das Land um uns herum vor dem Bau der Brücke über den Fluss kaum erschlossen war. Bevor sich die Shrimps-Farmen ansiedelten, wuchsen hier noch Mangroven, und die ganze Gegend war von dichter Vegetation überwuchert. Riesige Ländereien wurden von thaichinesischen Spekulanten aufgekauft, die darauf warteten, dass die Zeit verging, was unausweichlich geschehen würde. Es gab keine befestigten Straßen, und Siedlungen fanden sich nur an der Küste. Die Kokos- und Palmenplantagen sollten erst noch kommen. Als es so weit war, gehörte Old Mel zu den Pionieren, und ich musste mir bildlich vorstellen, wie die Landschaft damals aussah, als er mit seiner Familie hierhergezogen war.

Das Grundbuchamt gehörte zu einem Pulk schlichter Regierungsgebäude um das Stadion von Lang Suan herum – Fassungsvermögen zwölftausend, größtenteils Stehplätze. Das Amt befand sich in einem von zahlreichen ramponierten Bauten, die nicht schon wieder weiß gestrichen werden wollten. Jeder konnte in den ersten Stock spazieren und sich die quadratmetergroßen Pläne ansehen, auf denen die Parzellen und deren Grenzen eingezeichnet waren. Die beiden Grundstücke, die ich suchte, waren deutlich erkennbar mit ihren momentanen Grenzen eingetragen. Ich sah, wie sie sich in das allgemeine Landkauf-Mosaik einfügten. Hätte ich gewollt, hätte ich nach den Namen sämtlicher angrenzender Landbesitzer fragen können und deren Daten bekommen. Das Grundbuchamt tat alles dafür, dass die Schollen gekauft und weiterverkauft wurden.

In einem Hinterzimmer gab es große Papprollen, die ältere und immer ältere Versionen dieser Pläne enthielten. Ich grub tief und fand mich in den Achtzigerjahren wieder, wo ich auf die Grundstücksaufteilung vor dem Verkauf durch die Chainawats stieß. Es gab zwei interessante Unterschiede in den umliegenden Parzellen. Zum einen waren diese erheblich größer. Damals hatten die Immobiliendämonen noch nicht damit begonnen, ihre Parzellen aufzuteilen, zu zocken und sie zu überhöhten Preisen zu verkaufen. Zweitens fiel mir auf, dass sich fast alle Parzellen an einer langen, durchgehenden Grenze orientierten, als hätte jemand wahllos eine ungleichmäßige Linie quer durch die Karte gezeichnet und allen gesagt, sie sollten auf der einen oder anderen Seite bleiben. Ich fragte die Sekretärin, woran das lag, aber sie war jung und interessierte sich mehr für ihre Fingernägel. Sie meinte, ich sollte mal einen Blick auf die geologischen Karten der Gegend werfen.

Meine Suche führte mich zu Professor Woot Juntasa beim Geologischen Institut der Mae-Jo-Universität. Es war ein hübscher, aber unbedeutender Campus der Mutter Mae Jo in Chiang Mai, und immer wenn ich daran vorbeikam, wirkte er menschenleer. Der Tag meines Besuchs bildete da keine Ausnahme. Ich lief von einem Gebäude zum nächsten, auf der Suche nach jemandem, der mir den Weg zum Büro des Professors weisen konnte. Das erste menschliche Wesen, das ich fand, war der beleibte Professor selbst. Sein Gesicht war eine rot glänzende Maske, die auf entweder zu viel Feldforschung in der Mittagssonne oder auf Hautausschlag hindeutete. So oder so hatte ich das Gefühl, er wäre auf einem Campus in Skandinavien glücklicher gewesen. Selbst bei den finnischen Temperaturen aus seiner Klimaanlage kämpften sich seine Achselhöhlen durch einen tropischen Dschungel. Seine Augenbrauen saßen zu hoch auf der Stirn, wodurch sein Gesichtsausdruck immer etwas Überraschtes an sich hatte.

Er wirkte ehrlich begeistert, etwas Substantielleres zu tun, als gelangweilte Studenten in Bodenerosion zu unterrichten. Ich erzählte ihm von der Region, die mich interessierte, und er lächelte dieses wissende Lächeln eines Experten. Er erklärte mir, er besäße nicht nur große Karten vom Flussbecken des Lang Suan, sondern außerdem Luftaufnahmen, die mir gefallen könnten. Er begann mit einer Beschreibung der Region in der Altsteinzeit, und wir zogen uns in einen kleinen Seminarraum zurück, wo er seine Karten auf einem Tisch ausbreitete.

»Könnten Sie mir vielleicht zeigen, für welches Terrain Sie sich genau interessieren?«, sagte er.

Es war gar nicht einfach ohne die gekennzeichneten Grundstücksgrenzen, aber ich konnte Old Mels Land von der Biegung des Flusses und den Uferformationen vom wat Ny Kow her lokalisieren. Professor Woot legte eine Folie auf die Karte, und mit einem Filzer zeichnete ich die beiden Grundstücke ungefähr ein.

»Aha!«, sagte er. Es war dieser Sherlock-Holmes-Moment, in dem alles klar wird. »Soll ich Ihnen was sagen? Das ist eine faszinierende Gegend. Die meiste Zeit war der Großteil davon Nong Nam, so etwas wie Marschland. In der Regenzeit sickerte Wasser aus dem Fluss hinein, sodass es drei Monate lang ein Sumpf war. Der Grund dafür, dass die Parzellen, von denen Sie sprechen, eine festgelegte, gemeinsame Grenze haben, liegt darin, dass hier früher ein Seitenarm des Hauptflusses verlief.«

Er führte mich zu den Vermessungsfotos der Regierung.

»Die hier«, sagte er, »wurden Anfang der Sechzigerjahre aufgenommen. Hier sieht man deutlich, wie sich ein Fluss durch etwas zieht, das damals größtenteils Wildnis war. Wenn dieser Arm des Lang Suan über die Ufer trat, stand dort alles unter Wasser.«

»Aber wie kann ein ganzer Fluss verschwinden?«, fragte ich.

»Manchmal geschieht es auf natürliche Weise durch Erosion«, sagte er. »Im Fall des Lang Suan jedoch war das eine Folge des Ausbaggerns. Die größeren Fischfirmen wollten ihren Fang auf direktem Weg in die Stadt Lang Suan transportieren, damit er schneller nach Bangkok verschifft werden konnte. Der Sand und Schlick, den sie ausgebaggert haben, wurde am Ufer abgeladen. Es gab kein Verantwortungsgefühl. Wenn genug Geld im Spiel ist, kann man mit der Umwelt machen, was man will. Daran hat sich nichts geändert, wie ich leider sagen muss.«

»Und der Schlick hat die Mündung des Flussarms blockiert?«

»Genau. Er ist ausgetrocknet.«

»Und plötzlich stieg das Exsumpfland im Wert.«

»Auch das ist richtig. Und ich bezweifle, dass es Zufall war. Rechtzeitig ein kleiner Tipp, und schon kauft man spottbilliges Marschland.«

Das ergab keinen Sinn.

»Aber da ist kein ausgetrocknetes Flussbett zwischen den beiden Parzellen, die ich meine«, sagte ich.

»Natürlich nicht. Jetzt nicht. Nicht mehr seit der Sturmflut von 1978.«

»Sturmflut?«

»So ähnlich wie ein Unterwasser-Mini-Tsunami, der mit dem Wind kommt. Allerdings entsteht keine große Wasserwelle, sondern eine Druckwelle, die vom Meeresgrund aufwärtsdrängt, sobald sie die Küste erreicht. Manche Sturmfluten können das Meer um drei Meter oder mehr ansteigen lassen. Das Wasser steigt zwar allmählich, aber dramatisch. Während der Großen Flut von 1978 lag der Wasserstand des Meeres lange über dem des Flusses. Das Wasser, das den Fluss hinunterwollte, traf auf das Meer, das in die andere Richtung drückte. Es gab fürchterliche Überschwemmungen und einen Mahlstrom von Schlamm und Geröll. Oben in Lang Suan verloren die Menschen ihre Häuser, und viele wurden von der Flut fortgerissen. Die Katastrophe dauerte nicht länger als eine Stunde, aber zweihundertsechzig Hektar waren überflutet. Wie immer gab es einen landesweiten Aufschrei. Sobald das Wasser zurückgegangen war, machten die Landbarone Druck auf die Behörden, dass neu ausgebaggert und das Ufer befestigt werden sollte. Ingenieure sollten sicherstellen, dass außergewöhnliche Umstände wie 1978 nicht wieder ihre Investitionen gefährden konnten. Bis man den neuen Uferdamm gebaut und das Land entwässert hatte, war der alte Fluss komplett verschwunden, aufgefüllt mit Schlamm und Schlick.«

Also war das Land, das Chainawat an Old Mel verkauft hatte, einst ein Flussbett gewesen, ein Seitenarm des Lang Suan. Aber welcher Vorteil lag darin, es ihm zu verkaufen? Auch diese Antwort kam von meinem rotwangigen Professor.

»Jedes Jahr tritt der Lang Suan während der Monsunzeit über die Ufer«, sagte er. »Egal welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, Betonufer, Überlaufbecken … nichts funktioniert. Und der einfache Grund dafür ist, dass der Fluss zu lange braucht, um seinen Weg zum Meer zu finden. Im Jahr 2002 wurde der Vorschlag gemacht, einen Kanal zu graben, um den Druck auf den Hauptfluss zu verringern, damit er schneller ablaufen kann. Das geologische Forschungsteam fand heraus, dass es einen natürlichen Lauf gab, der sich als kostengünstigster und logischer Abfluss anbot: das Flussbett hinter Koon Mels Plantage. Die Besitzer hatten sich das Flussbett gesetzeswidrig angeeignet. Es waren keine Schadenersatzforderungen zu befürchten.«

Ich lächelte und rollte auf meinem Schreibtischstuhl zurück. Die gerissene, alte Hexe. Tante Chainawat hatte sich irgendwie eine Kopie des Gutachtens besorgt und wusste, dass möglicherweise ein Kanal durch ihr Land gebaut werden würde. Bevor dieser Umstand öffentlich wurde, hatte sie es schon verkauft. Drei Hektar von insgesamt vierzehntausend. Wie geldgeil kann man sein?

Es gab 1978 im Süden Thailands keine Flotte von VW-Bussen, vielleicht gab es sogar nur die beiden. Einen, der – gefahren von Sugits Hippie-Tochter – im Süden verschwand. Der andere? Nun, soweit wir wissen, wurde der andere von dem toten Pärchen gemietet. Ich habe es nie beweisen können, aber ich hatte so eine Theorie, was mit diesen Blumenkindern passiert war. Sie waren mit dem Bus glücklich wie zwei Bienen in einer Tüte mit gebrannten Mandeln. Sie fuhren mit ihrer Beute nordwärts zur Übergabe, wie sie es schon einige Male getan hatten. Doch diesmal war es anders. Diesmal war das Fahren selbst ein Ausdruck reinster Lebensfreude. Sie waren jung, auf der Suche nach Erfahrungen, Schönheit, Liebe. Auf der Suche nach der Wildheit, die sie in ihren Seelen vermuteten. Sie hielten sich auf ihrer Fahrt gen Norden an die Küstenstraße, um die Highway-Polizei zu meiden. Sie hatten die Abfahrt bei La Mae verpasst, und die befestigten Straßen verwandelten sich in rutschigen Lehm. Sie hätten umkehren sollen, aber der Ausblick im Sturm war grandios. Ihre Herzen rasten vor Begeisterung. Das war spannend für die beiden Stadtkinder, die ihre spannendsten Momente normalerweise im Kino erlebten. Der Lehm verwandelte sich in Morast, und es gab keine Möglichkeit, den Lang Suan so nah der Mündung zu überqueren. Sie drehten um, hielten an und beschlossen abzuwarten.

Ich würde es im Drehbuch noch etwas aufblasen und ein paar knurrige Momente für Eastwood einbauen, aber so stellte ich es mir vor:

DRAUSSEN: UNBEFESTIGTE STRASSE – TAG

Pip und Doom sitzen vorn in einem VW-Bus und fahren durch sintflutartigen Regen. Die Scheibenwischer kommen kaum hinterher. Die Straße ist ein aufgewühltes Meer, doch sie scheinen davon nichts zu merken. Doom hat ihre Hand auf dem Oberschenkel ihres Liebsten, und sie lächeln, als das große Blechtier durch eine Wasserwand nach der nächsten taucht. Sie lacht nervös. Die Räder drehen durch und schlittern, und sie schlingern hin und her. Dann plötzlich kommen sie zum Ufer eines wütenden Flusses und können gerade noch bremsen, um nicht in den Fluten zu versinken.

AUFBLENDE DRAUSSEN: FLUSSMITTE – SPÄTER

Wir sehen ein buntes, geschnitztes Schaukelpferd, das mit der Strömung des Flusses treibt wie ein Floß über Stromschnellen. Wir glauben nicht, dass es bei der Flut oben bleibt, während es bockt und taucht, doch der Pferdekopf kommt immer wieder hoch. Dann geschieht etwas Verblüffendes: Das Wasser des Flusses, das eben noch tobte, wird erst langsamer, dann fließt es nicht mehr weiter. Ein paar angespannte Sekunden lang treibt das Pferd wie im luftleeren Raum, still wie eine Pfütze. In der Ferne, am Ufer des Flusses, steht der VW-Bus. Es hat aufgehört zu regnen. Die untergehende Sonne hat einen Spalt in den Wolken gefunden und lässt die Szenerie in unwirklichem Orange erstrahlen. Und das Holzpferd, das sich langsam um sich selbst gedreht hat, treibt plötzlich wieder in die Richtung, aus der es gekommen war. Und der Wasserstand des Flusses steigt zügig am Ufer hinauf wie ein Zeitrafferfilm des Tidenhubs. Doch das Pärchen im VW-Bus nimmt von alledem nichts wahr. Jetzt ist alles still. Sie rauchen Ganja und starren wie gebannt in die atemberaubende Farbenpracht der Sonne. Unser Soundtrack ist »Can’t Find My Way Home« von Blind Faith, und der Song läuft durchgehend. Er läuft, als das Flussufer abbricht und die widerstreitenden Strömungen mitten im Fluss ihre Schlacht austragen. Der Fluss wird ein Hexenkessel bedrohlicher Trümmer. Die Katastrophe kommt plötzlich und dramatisch. Das Flussufer wird an seiner empfindlichsten Stelle wie ein Sandwall weggerissen. Der VW-Bus macht einen Ruck und stürzt in eine Riesenwoge, die das Ufer durchbricht, auf dem sie parken. Die Angst auf den Gesichtern unserer Protagonisten verwandelt sich in Begeisterung, als der Bus schwimmt und der Fluss ihn mit sich reißt. Mit einiger Mühe legen sie die Sicherheitsgurte an. Es schwankt und schwappt. Pip und Doom fahren wie auf einem Karussell, kreischen vor Freude und Entsetzen. Der ultimative Trip. Abrupt kommt der Bus zum Stehen. Sie sind untergetaucht, doch das Wasser reicht ihnen drinnen nur bis zu den Hüften. Sie sind in Sicherheit. Wir sehen ihre erleichterten Mienen. Doom will ihren Gurt lösen, doch sie hören ein langes, metallisches Knarren um sich herum, und die Schiebetür wird vom Druck der Fluten aus der Führung gepresst. Es dauert keine Sekunde, bis der Bus vollgelaufen ist, und wir wissen, dass das Pärchen sich keine Sonnenuntergänge mehr ansehen wird.

AUFBLENDE DRAUSSEN: FLUSSMITTE – SPÄTER

Wir sind unter Wasser und nähern uns dem VW-Bus von außen. Die Flut ist zurückgegangen, und durch die Windschutzscheibe sehen wir Doom und Pip auf ihren Sitzen, mit überraschten, aber friedlichen Mienen.

ENDE

Okay, übers Ende kann man noch reden, aber es wird klar, worauf ich hinauswill, oder?