Kapitel 3
»Es ist eine Zeit des Kummers und der Trauer, wenn wir den Verlust eines Lebens verlieren.«
George W. Bush
Washington, D. C., 21. Dezember 2004
Einen Tag nach seiner Entdeckung hatten sie den VW-Bus ausgegraben und die Knochen ins Militärkrankenhaus von Prajuab gebracht. Es hieß, die Polizei von Lang Suan, der nächstgelegenen Stadt – ’tschuldigung, hab schon wieder gekichert –, würde den Fall übernehmen. Zwar waren es nur zwanzig Kilometer bis dorthin, doch das durfte ich nicht zulassen. Es war mein Fall, und ich wollte, dass er eine lokale Angelegenheit blieb – günstig mit dem Fahrrad zu erreichen. Viermal hatte ich seit Samstagnachmittag schon im Revier von Pak Nam angerufen, doch man hatte mir nur mitgeteilt, es habe sich in dieser Sache noch nichts weiter ergeben und ich solle mich in Geduld üben. Meine Geduld war am Ende. Ich beherrschte mich und warnte sie vor, dass ich am Sonntag mal reinschauen würde.
Um zehn Uhr traf ich im Revier von Pak Nam ein. Das Gebäude war der übliche weiße, zweistöckige Betonklotz mit einem breiten Platz davor, eingefasst von Blumenbeeten: entweder ein kleiner, psychologischer Trick, um gewalttätige Verbrecher zu besänftigen, oder ein Zeichen dafür, dass sie sonst nichts zu tun hatten. Der ältere Herr am Tresen – Sergeant Phoom, wie er sagte – strahlte vor ehrlicher Begeisterung, als ich ihm erzählte, wer ich bin. Er war ein weichherziger Onkeltyp mit kurzen weißen Haaren und Zähnen wie aus feuchtem Latex, das zum Trocknen auf der Leine hing.
»Die Constables Ma Yai und Ma Lek haben mir alles über Sie erzählt«, sagte er. »Sie haben die beiden bei der Ausgrabung kennengelernt. Sie erinnern sich? Die sind bestimmt hier irgendwo. Von der Zeitung Thai Rat, stimmt’s? Du meine Güte, für jemanden, der so jung ist, führen Sie bestimmt ein aufregendes Leben … mit vielen Prominenten und Politikern.«
Mir rutschte ein Lachen heraus.
»Ich war … bin Kriminalreporterin«, erklärte ich. »Ich schlage mich mit den gleichen Strolchen herum wie Sie: Kriminelle, Mörder …«
»Hier?« Er wirkte überrascht. »Seit der Ausgangssperre für birmanische Fischer 2005 ist hier nicht mehr viel passiert. Ein Mörder in den letzten drei Jahren, und der war so betrunken, dass er am Tatort auf uns gewartet hat. Hat geschlafen wie ein Baby. Hin und wieder gibt es familiären Unfrieden, Kids, die Ganja rauchen und lustige Kratom-Blätter kauen. Das war’s eigentlich schon.«
Mich verließ der Mut.
»Im Grunde passen wir nur auf, dass alles seine Ordnung hat«, fuhr er fort. »Versammlungen, Verkehrskontrollen, das Jugendzentrum, Fußballverein. Aber diese Sache mit dem VW-Bus, das kann ich Ihnen sagen, davon werden wir alle noch lange sprechen. Natürlich auch, weil Sie da sind.«
Ich bekam vor Verlegenheit glatt einen Frosch im Hals.
»Ich fürchte, der Major ist heute leider nicht da. Eigentlich sollte heute sein freier Tag sein, aber er musste zu einem Notfall nach Lang Suan. Er hätte Sie sicher gern gesehen.«
Da war ich nicht so sicher, aber ich nahm erleichtert zur Kenntnis, dass er sich aus der Toilette befreit hatte.
»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie gekommen sind, um sich auf den neuesten Stand zu bringen.« Sergeant Phoom war ein Freund vieler Worte. »Wir sind losgegangen und haben ein paar Pepsis besorgt, als wir hörten, dass Sie uns besuchen kommen. Hoffentlich haben Sie Durst. Wir wussten nicht genau, was Sie mögen, also haben wir auch Cola geholt. Man kann nie aufmerksam genug sein. Ich glaube, es ist Cola light, für den Fall, dass Sie abnehmen wollen. Aber wie ich sehe, haben Sie das nicht nötig.«
In all den Jahren auf Polizeirevieren in Chiang Mai war ich als Vertreterin der Presse nie so freundlich empfangen worden. Der Sergeant bot an, mich in den Einsatzraum zu führen, aber es schien ihm nicht ganz recht zu sein, dass er seinen Tresen unbeaufsichtigt lassen sollte, also versicherte ich ihm, dass ich mich schon zurechtfinden würde. Die meisten Polizeireviere haben denselben fantasielosen Grundriss. Unten ein offener Empfangsbereich mit Busbahnhofsitzen vor dem Tresen, rechts und links Verhörzimmer, Bußgelder sind an der Kasse hinter dem Empfang zu begleichen, oben Büros, der Einsatzraum am Ende, nach hinten raus zwei kleine Zellen. Es war ein weiteres Beispiel für den Mangel an Individualität, der meiner Ansicht nach für die thailändische Polizei so typisch war. Wo blieb der Farbklecks, der Frohsinn? Die Antwort auf diese Frage fand ich am Ende des Flurs.
Das Schild mit der Aufschrift EINSITZZENTRALE über der Tür war so klein, dass einem der Fehler kaum auffiel. Die Tür stand offen, und drinnen saßen Constable Ma Yai und ein weiterer Polizist mit den Abzeichen eines Leutnants und dem Gebaren einer Tunte. Er stand auf und klatschte zartfühlend in die Hände.
»Da kommt ja unser Engelchen!«, sagte er.
Ich hatte schon schwule Polizisten kennengelernt. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als Cabaret-Star hatte mir Sissi einige ihrer Freunde vorgestellt. Sie stand auf Uniformen. Sie hatte mit Postbeamten angefangen, sich dann durch die Polizeidienstgrade hochgearbeitet, bis zu ihrem absoluten Highlight: einem Air-Force-Kampfpiloten namens Bin. Doch – von Postbeamten abgesehen – hatte ich noch keinen uniformierten Mann erlebt, der im Dienst nicht seinen Testosteronmangel überkompensierte. Dieser Polizist allerdings machte niemandem was vor. Er stellte sich mir als Lieutenant Chompu vor und begrüßte mich mit einem tiefen wai, fast schon wie ein Hofknicks. Ich mochte ihn sofort. Ich hatte keine Ahnung, wie Lieutenant Chompu die medizinischen und theoretischen Prüfungen bestanden hatte und wieso er immer noch bei einer Polizeitruppe arbeitete, die Bewerber schon aus den nichtigsten Gründen ablehnte, doch in diesem Moment musste ich direkt lächeln, voll der Bewunderung für diesen Mann, dem seine Weiblichkeit offensichtlich kein bisschen peinlich war. Sein vornehmer, zentralthailändischer Akzent deutete an, dass Chompu am Ende seiner Fahnenstange angekommen war, von den großen Polizeistationen immer weiter abgeschoben, bis es nicht mehr weiterging. Hier saß er nun auf dem Abstellgleis in Pak Nam und konnte nirgendwo mehr hin.
Wir tauschten Höflichkeiten und launige Bemerkungen und setzten uns an den großen Resopaltisch, auf dem uns schon umgedrehte Gläser, Wasserflaschen, Süßigkeiten, monströse Pepsis und Colas und künstliche Blumen erwarteten.
»Constable Yai wird uns einweihen«, sagte Chompu. »Er hat eine beneidenswerte Sprechstimme. Unsere Sekretärin schmilzt fast dahin, wenn sie ihn hört. So heiser.«
Der Constable errötete, schien sich jedoch über das Kompliment zu freuen. Vor ihm lag eine eher unterernährte Akte. Als er sie aufschlug, schien sie nur zwei Seiten zu enthalten.
»Sie müssen wissen«, sagte er, »wenn der Fall erst bei einer zentralen Polizeibehörde wie dem Archiv des CSD in Bangkok landet, ist diese nicht verpflichtet, uns über die Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Das hier sind nur die Ergebnisse unserer eigenen Nachforschungen und Hinweise, die wir aufgeschnappt haben, vom Hörensagen sozusagen.«
Ich kannte das Archiv. Es war der Elefantenfriedhof, den die alten Fälle aufsuchten, um dort zu sterben. Ich hatte einen Artikel darüber für die Mail geschrieben. War mit dem Zug nach Bangkok gefahren und hatte mich mit dem Direktor getroffen. Sobald irgendwelche Hinweise auf historische Missetaten ans Licht kamen, lasen sie die Akte durch und prüften oberflächlich ihre Computerdateien. Wenn nichts darauf hindeutete, dass die Akte mit laufenden Ermittlungen in Verbindung stand, begrub man die Karteileiche und ging zum nächsten Fall über. Man durfte nicht vergessen, dass sie nicht mal ihre aktuellen Fälle in den Griff bekamen. Wer sollte sich für dreißig Jahre alte Skelette interessieren? Im Übrigen hatte die Medusa beschlossen, den CSD-Artikel zu massakrieren, weil die Polizei darin in trübem Licht dargestellt wurde. Ich sparte mir die Mühe, darauf hinzuweisen, dass die meisten Lichter bei der Polizei sowieso eher trübe waren.
Ich wusste, dass die beiden Zettel, die Constable Ma Yai vor seine Brust hielt, alles waren, worauf wir aufbauen konnten.
»Erstens«, sagte er, »das Fahrzeug. Nichts.«
»Nichts?«, fragte ich.
»Das Kennzeichen ist von 1972. Das Verkehrsamt von Surat hat erst 1994 angefangen, seine Akten zu digitalisieren. Davor stand alles auf Kärtchen.«
»Spricht er nicht schön?«, sagte Chompu. »Verschwendung … bei einem Constable die reine Verschwendung. Er sollte beim Radio sein.«
Ich musste lächeln. Mit so unpassenden Bemerkungen war ich aufgewachsen. Sie fehlten mir.
»Wo sind diese Kärtchen?«, fragte ich.
»Nun, Sie müssen bedenken: Wir sind hier im Süden. Die Karten haben schon einiges hinter sich. Dreißig Monsunzeiten. Eingesperrt in feuchte, rostige Aktenschränke.«
»Sie wurden vernichtet?«
»Nicht von Menschenhand, würde ich sagen. Eher von der Natur. Die wenigen, die noch lesbar sind, wurden vielleicht irgendwo in Kisten verstaut, aber ich bin mir nicht mal sicher, wo man suchen müsste.«
»Das Verkehrsamt von Surat wusste es nicht?«
»Die haben gesagt, ihre überlebenden Karteikarten wurden vor zehn Jahren nach Bangkok geschickt.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass da irgendwo eine arme, kleine Sekretärin alte Kennzeichen in eine Datenbank tippt«, sagte Chompu. »Wahrscheinlich bezahlt man sie schlecht und behandelt sie mies. Sollte mich nicht wundern, wenn sie gepeitscht wird.«
Es hätte mich wohl nicht überraschen sollen. Es gab eine Kurzgeschichte von Stephen King über den Rand der Zeit, wo die Vergangenheit gleich hinter einem zerkrümelt. In Thailand war alles aus der Zeit vor der Digitalisierung dem Verfall preisgegeben. Niemand verspürte den Drang, durch stockige, schimmlige, stinkende Akten zu waten. Alles neu. Alles frisch. Vergesst die Fehler der Vergangenheit und lasst uns unsere eigenen, nagelneuen Fehler für die Zukunft machen! Aber was wurde dann aus unserem Bulli?
»Haben Sie die Motor- und Fahrgestellnummern?«, fragte ich.
Mit gespielter Bewunderung sahen sich die beiden Polizisten an. Man lernte, damit zu leben. Yai kopierte die beiden Zahlen aus seiner Akte und reichte mir den kleinen Zettel.
»Haben Sie schon Kontakt zu VW Thailand aufgenommen?«, fragte ich.
»Die sitzen in Bangkok«, sagte der Constable, als wäre das Grund genug, es gar nicht erst zu probieren. Ferngespräche. Komische Akzente. Formulare ausfüllen. Umstände. Als sollten sie sich mit Rio de Janeiro in Verbindung setzen. Ich erklärte ihnen, ich wolle versuchen, ob ich jemanden erreichte.
»Und damit kommen wir zu den Leichen«, sagte der Constable und blätterte zur zweiten Seite. »Da man keine Organe mehr untersuchen kann, kein Muskelgewebe, weder Hirnsubstanz noch Mageninhalt, konnte der Militärpathologe aus Prajuab nur mit Gewissheit sagen, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelt. Er war nicht mal sicher, wie alt sie waren. Er fand keine erkennbaren Traumata und daher auch keine offensichtliche Todesursache. Doch die Leiterin des Nationalen Gerichtsmedizinischen Instituts soll in den nächsten Tagen hier eintreffen und will vielleicht mal einen Blick darauf werfen.« Er klappte die Akte zu.
»Das ist alles?«, fragte ich.
»Finden Sie es nicht faszinierend, dass man allein anhand der Knochen erkennt, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt?«, fragte Lieutenant Chompu. »Und dann lagen sie auch noch lose herum.«
»Sie gucken nicht viel Fernsehen, oder?«, meinte ich.
»Doch. Wieso?«, erwiderte er. »Kann uns das hier helfen?«
Verstehe. Das Landleben. Nur thailändische Seifenopern und Gameshows. Der gesunden Satellitenversorgung mit forensischer Wissenschaft beraubt. Diesen Leuten war nicht klar, dass man das Alter, die Nationalität, Religion, Gürtelgröße und sexuelle Orientierung eines Menschen an dem Stück Seife erkennen konnte, mit dem er sich am Morgen gewaschen hatte. Wir hatten zwei vollständige Skelette und konnten rein gar nichts darüber sagen. Wo war Kathy Reichs, wenn man sie brauchte?
»Zwischen den Kleidungsfetzen wurde ein Etikett gefunden«, sagte Yai hoffnungsvoll. »Darauf stand: ›Made in India‹.«
Mir fiel ein Selbstmord in Chiang Rai vor ein paar Jahren ein, bei dem man einen Ausländer als Italiener identifizierte, weil sein Name auf dem Etikett in seinem Hemd stand: Signore Armani.
»Etiketten können irreführend sein«, sagte ich.
»Da haben Sie natürlich recht«, sagte der Lieutenant. »War das denn überhaupt irgendeine Hilfe für Sie?«
»Nein.«
»Möchten Sie mitkommen und sich den VW-Bus ansehen, nachdem er jetzt ausgegraben ist?«, fragte er. »Ich könnte Sie hinfahren.«
Ich sollte Anschlussartikel für drei Zeitungen schreiben und hatte noch nichts zu erzählen. Ich hegte kaum Hoffnung, dass mir der ausgegrabene VW genügend Einblicke bieten würde, um auch nur eine Spalte vollzukriegen. Zeitungen merkten, wenn jemand schwafelte, und als Reporterin vom Lande würden die bösen Redakteure mein Angebot sehr genau prüfen. Meine Geschichte würde sang- und klanglos untergehen. Dann konnte ich mich gleich wieder begraben lassen.
Lieutenant Chompu verschwand kurz für kleine Polizisten, um sich ein wenig frisch zu machen, und ich wollte gerade raus zum Parkplatz, als ich Major Manas donnernde Stimme hörte. Ich drückte mich hinter eine Säule.
»Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass Sie heute noch zurückkommen würden, Sir«, sagte Sergeant Phoom nach wie vor gut gelaunt.
»Ich wäre überall lieber als hier, angesichts der Vorfälle«, sagte der Major.
»Etwas Ernstes, Sir?«
Aus meiner Nische zwischen den Säulen, hinter einem Pappschild mit Werbung für sicheres Autofahren, konnte ich sehen, wie der Major an den Tresen trat, sich zum Sergeant vorbeugte und etwas flüsterte. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber mir fiel auf, dass der Sergeant zurückschreckte, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Dieses Geheimnis hätte ich auch gern gewusst. Ich wartete, bis der Major die Treppe hinauflief, wobei er immer drei Stufen auf einmal nahm. Dann schlenderte ich zum Tresen.
»Haben Sie schon gehört?«, fragte ich.
»Was gehört?«, fragte Sergeant Phoom noch immer blass von dem, was er eben gehört hatte.
»Oh, tut mir leid. Ich dachte, der Major hätte es Ihnen inzwischen erzählt.«
»Nun … das kommt darauf an.«
»Ach, vergessen Sie’s. Ich glaube, ich darf es Ihnen gar nicht anvertrauen, wenn Major Mana nichts gesagt hat.«
Ich drehte mich um und hielt auf den Parkplatz zu, konnte aber hören, wie sein Verstand hinter mir im Leerlauf tuckerte.
»Es hat nicht zufällig etwas zu tun mit …«, und er sprach leiser, »… dem Abt?«
»Sehen Sie? Sie wissen es doch.« Ich lächelte. »Sie spielen nur mit mir.« Ich machte kehrt.
»Schreckliche Sache, nicht?«, sagte er.
»Ich war schockiert. Schockiert – das kann ich Ihnen sagen.«
»Drei Jahre haben wir hier kaum ein blaues Auge, und dann – peng – zwei Fälle am selben Tag.«
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, aber ich musste jetzt vorsichtig sein. Ich wollte nicht gleich einen meiner neuen Freunde bei der Polizei vor den Kopf stoßen. Und doch musste ich weiterfischen.
»Was glauben Sie, was passiert ist?«, fragte ich und lehnte mich an den Tresen.
»Moment mal«, sagte er. »Woher wissen Sie davon?«
»Sergeant Phoom«, sagte ich mit meiner ehrlichsten Miene, »ich arbeite als Reporterin für die internationale Presse.«
»Aber angeblich herrscht doch Nachrichtensperre.«
»Unterschätzen Sie nie den Einfluss der Medien. Kommen Sie, wie lautet Ihre Theorie?«
Ich konnte Chompu oben reden hören. Meine Zeit lief.
»Nun, ich kenne nicht viele Fakten«, räumte er ein.
»Aber?«
Es schien, als hinge dieses Wort unendlich lange in der Luft, bis …
»Aber wenn ein Abt erstochen wird, dann deutet das für mich auf einen persönlichen Konflikt hin.«
Ein Abt wurde erstochen? Heiliger Heilbutt. Urplötzlich befand ich mich in der Verbrechenshauptstadt der Ostküste. Ich war dermaßen aufgeregt, dass meine Blase drückte. Pulitzer-Preis, ich komme! In Gedanken machte ich wegen meines Mangels an Respekt vor dem Abt einen wai.
Und ein letztes Mal warf ich mein Netz aus. »Augenblick mal, liegt das nicht außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs?«
»Ganz und gar nicht. Wat Feuang Fa liegt gerade noch auf unserer Seite der Straße 436. Da ist die Grenze. Alles dahinter wird von Lang Suan geregelt.«
Chompu kam die Treppe heruntergetrippelt, und ich holte mein Netz ein. Ich hatte alles, was ich brauchte. Der Lieutenant schüttelte seine Hände vor dem Bauch. Vermutlich war er einer von denen, die kein Vertrauen in Behördenhandtücher hatten.
»Bereit?«, fragte er.
Unser Ausflug zum Bulli hatte seine Dringlichkeit in den letzten paar Minuten erheblich eingebüßt, aber es wäre verdächtig gewesen, hätte ich abgesagt.
»Bereit und willens«, sagte ich.
Old Mel saß auf dem hinteren Zaun seiner Plantage und fragte sich, wo Ruhe und Frieden geblieben waren. Er betrachtete das Wasser, das aus einem Dutzend Sprinklern spritzte. Der blaue Plastikschlauch, an dem sie befestigt waren, schlängelte sich zwischen den Palmen hindurch bis zu einer chinesischen Motorpumpe. Diese holte das Wasser aus einem neuen Teich, in dessen Mitte ein rostiger, wenn auch überraschend intakter VW-Bus stand.
»Guten Morgen, Mel«, sagte Lieutenant Chompu.
»Morgen«, sagte Mel.
Der alte Mann kannte mich noch von der Ausgrabung am Tag zuvor. Er schlug nur kurz die Hände zusammen, als Antwort auf meinen wai. Ich schätze, er hatte wohl am Morgen meinen Artikel gelesen, in dem das halbstündige Interview, das ich am Samstag mit ihm geführt hatte, kaum vorkam.
»Ihr Brunnen ist bestimmt der Stolz unserer Provinz«, lächelte Chompu. »Ein wahrhaft imposantes Gebilde.«
»Witzig«, knurrte Mel. »Bis alle meine Palmen vom Rost eingegangen sind.«
»Ach was«, sagte der Polizist. »Bei dem vielen Eisen … Die blühen und gedeihen noch. Sie werden sehen.«
Der alte Mann hatte es eilig gehabt, seine Sprinkler in Gang zu bringen. Ich sah mich auf der Plantage um. Tiefe Gräben verliefen zwischen den Palmenreihen, von der Straße bis etwa zwanzig Meter vor dem hinteren Zaun. In allen stand flaches Wasser. Es war eine verwirrende Anlage. Sie schien mir wenig sinnvoll.
»Koon Mel«, sagte ich – und zog das höfliche »Herr« dem eher unhöflichen »Old« vor –, »können Sie mir sagen, wieso die Gräben nicht bis ganz zum hinteren Zaun reichen?«
»Ach«, sagte Mel. »Die Gräben haben wir vor fünfzehn Jahren angelegt. Damals stand ich noch voll im Saft. Meine Brüder und ich haben sie per Hand ausgehoben. Ohne Bagger. Damals haben alle immer noch Kokospalmen gepflanzt. Nur wenige waren so vorausschauend, dass sie die Zukunft im Palmenöl gesehen haben. Jetzt fällen alle Leute ihre Kokospalmen und pflanzen Ölpalmen. Wir waren die Ersten.«
»Aber wieso …?«, drängte ich.
»Ach ja. Nun, damals reichten die Gräben bis ganz zum hinteren Zaun. Vor ungefähr sieben Jahren kamen die Besitzer von dem Grundstück da drüben vorbei und haben gefragt, ob ich noch drei Hektar kaufen wolle, um unsere Plantage zu vergrößern. Sie meinten, sie wollten bauen und müssten schnell was von ihrem Buschland verkaufen, weil sie drüben in Phuket irgendeine günstige Immobilie erwerben wollten. Sie brauchten Bargeld und haben mir einen guten Preis gemacht. Und weil wir gerade was auf der Bank hatten, haben wir Ja gesagt.«
Ich trat an die Grube und sah mir den rostigen VW an. »Also war dieses Fahrzeug eigentlich auf dem Nachbargrundstück vergraben.«
»Ja.«
Lieutenant Chompu hatte einen großen Schirm der Government Savings Bank aus dem Wagen geholt, den er inzwischen über uns hielt, um uns vor der Sonne zu schützen. Er schwieg, während ich meine Befragung fortsetzte.
»Und was wissen Sie über Ihre Nachbarn?«, fragte ich.
»Chinesen.«
Ich hatte das Wort »Chinesen« hier unten schon mehrfach gehört, nicht als Beschreibung einer ethnischen Zugehörigkeit, sondern als Erklärung für eine Fülle von Missständen. In vielen südostasiatischen Ländern gab es uns – die Einheimischen – und sie – die Gemeinschaft der chinesischen Geschäftsleute. Old Mel war zu dem Schluss gekommen, dass ich über seine Nachbarn nicht mehr wissen musste, als dass sie »Chinesen« waren. Das Land jenseits des Zauns bestand aus zwanzig Hektar überwuchertem Gras und Gestrüpp. Die Leute stellten das ganze Jahr über ihr Vieh dort ab, um es gratis grasen zu lassen.
»Haben Ihre Nachbarn Ihnen angeboten, dass Sie auch das ganze Gelände kaufen könnten?«, fragte ich.
»Nein.« Mel schüttelte den Kopf. »Ich habe gefragt, aber sie hatten kein Interesse.«
»Nur diese drei Hektar?«
»Ja.«
Nur den Streifen Land, auf dem sich zufällig zwei Leichen in einem VW-Bus befanden. Komischer Zufall. Ich fand, es wäre keine schlechte Idee, die Besitzer ausfindig zu machen und sich mal mit ihnen zu unterhalten.
»Kleine Bootsfahrt gefällig?«, fragte Chompu und nickte zum Bus hinüber.
Ich konnte nicht gerade sagen, dass mir die Idee gefiel, aber der nette Lieutenant hatte uns extra deswegen hierhergebracht. Vermutlich hatten die Ermittler inzwischen jeden Stein umgedreht, aber dennoch streifte ich meine Sandalen ab, krempelte die Hosenbeine meiner Jeans bis zu den Knien hoch und stieg in die warme Brühe. Das Wasser reichte mir nur bis zu den Schienbeinen, doch der Morast darunter war so weich, dass ich bis zu den Oberschenkeln einsank. Die Jeans war bestimmt hinüber. Dem Lieutenant musste man zugutehalten, dass er an meiner Seite blieb. Er watete einmal prüfend um den alten Bus herum. Irgendetwas glibberte um meine Füße. Ich wollte nach Hause. Fast erwartete ich schon so einen Transformer-Moment, bei dem der alte Bulli sich auf die Hinterräder stellte und nach uns schnappte, aber das passierte natürlich nicht.
Ich kam zu der Seite, auf der früher die Schiebetür gewesen war. Die lag nun zu meinen Füßen und gab mir festen Boden, auf dem ich stehen und mir ansehen konnte, wie hinüber meine Jeans waren. Ich kletterte in den Bauch des Ungeheuers und setzte mich auf einen der beiden Stumpen, die einmal die Vordersitze gewesen waren. In null Komma nichts würde die Salzluft das Museumsstück zerfressen, doch heute stand es trotzig da. Das Lenkrad stach spielerisch hervor. Ich griff danach, erwartete beinah, dass es zerkrümeln würde wie der Fahrer, doch es war überraschend stabil. Ein Beweis deutscher Ingenieurskunst. Auch der Sitz machte einen sicheren Eindruck. Zwar hatte sich die Rückenlehne aufgelöst, doch die Federn unter meinem Hintern quietschten noch, wenn ich mich bewegte. Meine Füße standen im Wasser, aber ich vermutete, dass es erst angestiegen war, als die Grube ausgehoben wurde, sonst hätte das Metall bestimmt nicht überlebt. Die Windschutzscheibe war unversehrt. Man sah nur eine Wand aus Dreck, aber ich hatte eine blühende Fantasie: ein Hippie und seine Hippiebraut.
»Bist du glücklich, Baby?«
»Absolut.«
»Froh, dass du mitgekommen bist?«
»Jep. Kannst du fahren?«
»Klar. Ist nicht viel Verkehr. Alles fließt.«
»Willst du noch was rauchen?«
»Keine schlechte Idee, Baby. Keine schlechte Idee.«
Mair hatte mir von den Hippies erzählt, den fremden
Habenichtsen, die hier durchgezogen waren. Sie kamen nicht wegen
der Natur und auch nicht wegen der Kultur. Sie kamen wegen des
Opiums und der Pilze. Mair hatte nie durchblicken lassen, ob sie da
mitgemacht hatte. Das blieb eine der Informationslücken, die ich
selbst ausfüllen musste. Mair war nicht wie die anderen. Sie war
schon so manches gewesen. Ich gehe davon aus, dass sie eine Weile
Kommunistin war und sich während der Militärdiktatur draußen im
Dschungel versteckt hat. Ich erinnere mich, gehört zu haben, dass
sie eine Weile Karaoke-Kellnerin war. Dann hat sie oben in
Kanchanaburi Grapefruits angebaut und – ich glaube – Schweine
gezüchtet. Am deutlichsten erinnere ich mich jedoch an ihre Zeit
als Reiseleiterin. Daher stammen die meisten ihrer Geschichten.
Damals lebte Oma Noi noch. Sie hat den Laden geschmissen. Opa Jah
war bei der Polizei. Die beiden haben auf uns aufgepasst, wenn Mair
unterwegs war. Wenn sie nach Hause kam, war es, als knipse
jemand einen Baum an, der mit bunten Lichtern übersät war. Dann
erzählte sie uns Geschichten über exotische, sonderbare Orte und
noch sonderbarere Leute. Sie brachte Tüten voll Süßigkeiten und
Souvenirs mit, handgearbeitete Tücher, bei denen sie zugesehen
hatte, wie sie gewoben wurden, Muscheln von den Inseln, Tiere aus
Stroh und wunderschöne, bunte Steine. Ich besaß eine Sammlung von
Erde aus allen Provinzen Thailands. Jedes Mal war es wie Neujahr,
wenn Mair nach Hause kam. Dann, eines Tages, kam sie zurück und
ging nicht wieder weg, und nach und nach gingen die bunten Lichter
aus.
Doch ich werde nie vergessen, wie Mair über die Entschlossenheit lachte, mit der die knauserigen Fremden, die man bei uns üblicherweise »Vogelschiss« nannte, ihr Gras hüteten. Ganja wuchs hier überall, doch in der drogeninduzierten Paranoia verteidigten sie ihren Vorrat unter Einsatz ihres Lebens. Es war ziemlich Opa-Jah-mäßig von mir, davon auszugehen, dass in den Siebzigerjahren alle Welt Dope geraucht hat. Doch angesichts der Kombination aus VW-Bus, langen Haaren und Perlen halfen mir meine Vorurteile in diesem Fall vielleicht weiter. Ich fragte mich, wo unser Pärchen sein Marihuana versteckt hatte.
»Wer hat den Bus durchsucht?«, fragte ich Chompu, der gerade die Schiebetür aus dem Morast zerrte.
»Der Chef hat Senior Sergeant Major Tort hergeschickt, damit er sich mal umsieht.«
»Und der ist Forensiker?«
»Nein. Er hält unsere Bücher in Ordnung.«
»Also hat keiner so richtig …«
»Nein.«
»Und wer leitet die Ermittlungen in diesem Fall?«
»Ich.«
»Und wieso haben Sie nicht …?«
»Weil Major Mana mir den Fall gerade eben erst oben vor der Toilettentür im Flur des Polizeireviers übergeben hat. Er will ihn nicht mehr haben. Es hat sich was anderes ergeben.«
Das konnte man so sagen. Doch angesichts der Tatsache, dass sich niemand den VW-Bus richtig angesehen hatte, schöpfte ich neue Hoffnung. Das Gras. Das Handschuhfach war ein klaffendes Loch. Was von der Matratze übrig war, samt den Spuren, die sie enthielt, befand sich wahrscheinlich in einem Container hinter dem Polizeirevier. Mir blieben nicht viele Stellen, wo ich suchen konnte. Ich tastete unter dem Sitz herum und wünschte gleich, ich hätte es nicht getan. Irgendwann kam mir in den Sinn, dass sich im Laufe der Jahre dort sämtliche Körperflüssigkeiten und lose Teile gesammelt hatten. Ich würde bestimmt nicht in die Brühe abtauchen, um dort herumzusuchen. Fast wollte ich schon aufgeben, als mir die Website einfiel. Ich hatte den Fahrzeugtyp nachschlagen müssen, bevor ich meinen Bericht einschickte. Auf der Website gab es Fotos einer Restaurierung, und hinter dem Fahrersitz befand sich eine Klappe – ein Stauraum für Werkzeug oder so etwas. Die war mir in Erinnerung geblieben. Sie musste sich direkt unter der Matratze befunden haben. Ein perfektes Versteck. Ich kletterte hinter die Sitze und langte in das flache Wasser.
»Sie sehen so inspiriert aus«, sagte Chompu.
Ich fand so was wie ein Schnappschloss und ein paar rostige Knöpfe.
»Haben Sie in Ihrem Wagen irgendwelches Werkzeug, Lieutenant?«, fragte ich. »Es könnte sein, dass wir hier was gefunden haben.«
»Arny, Arny, nicht jetzt.«
Mein Bruder wollte sich mitten in der Mittagshitze daranmachen, seinen Baumstamm über den Strand zu rollen. Es nervte langsam. Es grenzte an Selbstkasteiung oder Kreuztragen. Er blieb stehen, seufzte und kam über den hellen Sand zu mir herüber. Mein Bruder war eine Kreation, die Reaktion auf ein Problem. In der Schule hatte man ihn herumgeschubst, weil er sensibel war und sein vier Jahre älterer Bruder im Unterricht Lippenstift trug. Arny spielte mehr mit Mädchen als mit Jungen, sodass es für die Schlägertypen relativ einfach war, ihn von der Herde zu trennen. Wäre meine Mutter öfter zu Hause gewesen, hätte sie ihm beibringen können, wie man sich aus Schwierigkeiten herausredet oder einen wohlplatzierten Scherz einfügt. So blieb ihm nur Opa Jahs männliche Einbahnstraßenlogik, um sich zu sortieren. Um härter zu werden. Um zu lernen, wie man kämpfte. Natürlich lernte er nie wirklich, wie man kämpfte, aber er wurde kräftiger. Je größer sein Frust, desto heftiger ging er an die Gewichte. Er konnte die Jungen nicht traktieren, die sich über ihn lustig machten, also traktierte er sich selbst. Mit jeder Gemeinheit legte er ein weiteres Gewicht auf die Hantel. Und bald schon wurde der Kraftraum seine Zuflucht und sein Körper sein Schutzpanzer.
Und da war er nun, ein Mini-Mister-Universum. Und die Leute, die mit ihm zu tun haben wollten, sahen einen unglaublichen Klotz von einem Mann. Sie gingen davon aus, dass er ganze Schweine aß und Steine mit der Stirn zerschlug. Männer wollten ihn zum Freund haben, weil es unfassbar cool war, mit ihm gesehen zu werden. Aber Frauen? Vergiss es. Sobald die Liebe im Spiel war, gab es kein Halten mehr. Frauen hielten ihn für animalisch, doch in Wahrheit war Arny zart besaitet. Im Grunde war er ein Prachtbau aus Kartoffelchips. Aus der Ferne wirkte er unverwundbar, doch lehnte man sich nur ganz leicht an, brach er in sich zusammen. Man musste schon von einer besonderen Sorte Mensch sein, um sich mit solchen Widersprüchen anzufreunden.
Arny und ich standen uns nah. Früher waren wir unzertrennlich gewesen – jetzt standen wir uns nur noch nah. Seit wir Mair in die Welt der Ereignislosigkeit gefolgt waren, blieben wir seltsam distanziert. Wir waren beide zu sehr in unseren jeweiligen Gemütsverfassungen gefangen.
»Was ist, pee?« Es war schön, dass er mich »große Schwester« nannte.
»Kannst du mich wohin fahren?«
»Okay.«
So war das mit Arny. Er machte immer alles, worum man ihn bat, ob er zu tun hatte oder nicht. Er fragte nie, wieso. Er ging immer davon aus, dass man einen guten Grund hatte, weil man ja sonst nicht gefragt hätte. Tatsächlich hatte ich überhaupt keinen Grund, zumindest keinen, den ich erklären konnte. Ich dachte einfach, es würde mich ablenken, wenn Arny mitkäme. Manchmal muss man seinen Instinkten folgen. Er setzte eben den Pick-up aus dem Carport zurück, da kam Mair aus dem Laden gelaufen und stellte sich direkt hinter uns. Arny stampfte auf die Bremse.
»Na, was führt ihr zwei denn hier im Schilde?«, fragte sie, mit den Fäusten an den Hüften, John zwischen ihren Beinen.
»Wir fahren ein Stück spazieren«, sagte ich. »Sind bald wieder da.«
»Ich nehme an, ihr wisst, wie alt man sein muss, um ein Auto auf öffentlichen Straßen zu bewegen«, sagte sie.
»Mair, ich bin zweiunddreißig«, erklärte Arny.
Es folgte eine Pause, ein kurzes Erwachen, dann: »Na, dann ist es wohl in Ordnung.« Sie lächelte und ging wieder in den Laden.
Wir waren fünf Minuten unterwegs, als Arny mich ansah. »Das war ein Scherz, oder?«
»Nein.«
Wir drehten die Köpfe und bewunderten eine Hecke aus knallgelben Goldtrompeten. Die hatten bestimmt schon den einen oder anderen Unfall ausgelöst.
»Meinst du, es wird schlimmer mit ihr?«, fragte er.
»Nein, das glaube ich nicht«, log ich. »Die frische Luft und die Natur, gesundes, makrobiotisches Essen und Kalzium. Es ist doch eher die Luftverschmutzung in der Großstadt, die am Verstand der Menschen nagt. Hier unten gibt es Neunzigjährige, die noch wissen, was sie an ihrem sechzehnten Geburtstag zum Frühstück hatten.«
Arny fuhr, konzentrierte sich auf die weißen Linien und sagte: »Aber nur, weil es in den letzten neunzig Jahren immer das Gleiche zum Frühstück gab.«
Ich lachte. »Da hast du wohl recht.«
»Wir haben das Richtige getan.«
Ich wusste, er meinte, dass wir Mair in den Süden gefolgt waren.
»Ja, das haben wir. Sie wird schon wieder werden. Sie braucht nur was, mit dem sie sich beschäftigen kann.«
»Ja.«
Wir bogen an einer Kreuzung ab, an der hohe Kasuarinenbäume zu beiden Seiten Wache standen. Ich nannte sie »die Weihnachtskreuzung«. Es überraschte mich stets aufs Neue, dass immergrüne Nadelhölzer ohne Weiteres in den Tropen wuchsen. Wussten sie denn gar nicht, wo sie waren? Ich fragte mich, ob sie wohl von Schnee träumten. Sie wirkten genauso fehl am Platze wie wir, aber sie gediehen prächtig. Vielleicht gaben wir uns einfach nicht genug Mühe.
»Wir sind gar nicht mehr wie Bruder und Schwester«, sagte Arny.
»Wir sind genervt.«
»Ich finde, wir sollten damit aufhören.«
»Da hast du recht.«
»Es ist schön hier.«
»Ich weiß.«
Ich möchte bezweifeln, dass auf dem Antlitz der Erde je ein weniger überzeugender Wortwechsel stattgefunden hat. Beide wollten wir es unbedingt glauben, besaßen aber nicht die schauspielerische Gabe, es echt klingen zu lassen. Bis gestern hätte ich mir die Mühe vermutlich gar nicht erst gemacht. Doch seither war ich zwei toten Hippies begegnet, die mittlerweile Hinweise lieferten, und es gab einen toten Abt, über den niemand sprechen durfte. Ich hatte die Nachrichtendienste und Websites gecheckt und sogar die Hotline des Thai Reporters’ Club angerufen. Es gab keine einzige Nachricht von einem erstochenen Abt. Entweder hatte Major Mana eine falsche Fährte ausgelegt, oder es herrschte tatsächlich Nachrichtensperre. Sicher sein konnte ich allerdings nur, wenn ich selbst nachsah. Wenn Arny am Steuer saß, war in unserem Wahlbezirk nichts weiter entfernt als eine Viertelstunde.
»Meinst du, wir werden hier unten jemals Freunde finden?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Heute habe ich einen netten Polizisten kennengelernt.«
Er sah mich von der Seite an und lachte.
»Okay, ich weiß, das klang aus meinem Mund etwas seltsam, aber es stimmt.«
»Hör auf, pee, ich kann nicht gleichzeitig Auto fahren und lachen.«
»Ehrlich, ich … Okay, vergiss es.«
Es tat gut, ihn lachen zu hören.
Der Feuang-Fa-Tempel lag auf einer Anhöhe, vor dem Hintergrund eines unserer seltenen Berge. Von der Straße aus machte er auf den ersten Blick nicht viel her, doch wenn man dann oben am Ende des unbefestigten Weges ankam, sah man überdeutlich, dass er tatsächlich nicht viel hermachte. Es gab eine schlichte, eher schäbige Gebetshalle rechts, einen Weiheraum, einen Aussichtspavillon und einen Stupa. Nichts davon war den Einsatz eines Adjektivs wert. Das Erwähnenswerteste war ein hübsches Beet mit Bougainvilleen, sogenannten »Wunderblumen«, auf der Hügelkuppe links von uns, entlang des Pfades zu den hinteren Mönchsquartieren. Seit Monaten hatte es kaum geregnet, und die Pflanzen leuchteten förmlich. Genau wie Scotch waren Bougainvilleen am glücklichsten ohne Wasser.
Wir hatten den Hügel erst halb erklommen, als ein nicht mehr ganz junger Mann in schiefergrauem Safarianzug und Flipflops hinter einer großen Regentonne hervortrat und die Hände hob. Er schien so etwas wie ein Low-Budget-Wächter zu sein.
»Hier gibt es nichts zu sehen!«, rief er.
Arny bremste, und wir glotzten den dürren Mann durch die Windschutzscheibe an.
»Arny«, sagte ich. »Ganz ruhig. Reg dich nicht auf. Wenn es dir hilft, kannst du dir auch die Ohren zuhalten.«
Ich kurbelte mein Fenster herunter und winkte den Mann zu mir her. Sein Schuhwerk deutete darauf hin, dass er kein Polizist war. Ich wagte es.
»Wir sind hier, um unseren Vater abzuholen«, sagte ich.
»Es ist niemand da«, sagte der Mann. Seine Stimme und die Zähne waren eine überzeugende Werbung gegen das Rauchen. »Wahrscheinlich ist er schon wieder weg.«
»Oh, das möchte ich bezweifeln«, sagte ich.
Er machte sich breit. »Wenn ich Ihnen sage, dass hier niemand ist, dann ist hier niemand. Kehren Sie um!«
Arny suchte nach dem Rückwärtsgang, doch ich legte meine Hand auf seine.
»Ich fahre nicht ohne meinen Vater«, erklärte ich.
»Ich sage Ihnen doch … Wie sieht er denn aus?«
»Etwa dreißig Zentimeter hoch und silbern.«
»Bitte?«
»Er wurde gestern eingeäschert. Wenn wir seine sterblichen Überreste nicht nach Hause holen, lässt unsere Mair uns keine Ruhe.«
Der Mann zögerte. Glücklicherweise bemerkte er Arnys erschrockenen Blick nicht. Der Wachmann sah zum Tempel hinüber, dann wieder zu uns … Schließlich trat er beiseite und winkte uns durch.
»Aber beeilen Sie sich!«, sagte er, als wir an ihm vorüberfuhren.
»Danke«, sagte ich, machte einen wai und kurbelte die Scheibe hoch. »Ist doch merkwürdig, findest du nicht? Dass sie einen Tempel zuschließen?«
»Das war nicht nett, pee.«
»Was denn?«
»Zu behaupten, dass dein Vater tot ist.«
»Du meinst, er ist gar nicht tot? Verdammt. Wieso hast du mir das nicht gesagt?«
»Es ist so …«
»Ich weiß. Respektlos. Man sollte einem Mistkerl, der seine Frau mit drei kleinen Kindern sitzen lässt, Respekt zollen.«
»Wahrscheinlich hatte er seine Gründe.«
»Kannst du denn überhaupt niemanden hassen, kleiner Bruder? Findest du in deinem Herzen nicht mal hier und da eine Handvoll Animosität? Zum ersten Mal in zweiunddreißig Jahren hatte unser Vater gerade eben für dich einen Wert. Ich denke, er würde sich freuen zu hören, dass er zu irgendetwas nütze war, meinst du nicht? Halt hier an!«
»Ich … wo?«
»Hier, bei dem Handwagen.«
Arny bremste, und ich machte die Tür auf.
»Wo gehst du hin?«, fragte er.
»Von hinten durch die kalte Küche.«
Ich stieg aus.
»Und was soll ich machen?«
»Fahr unüberhörbar bis vor die Gebetshalle, geh rein … und bete.«
»Worum?«
Wäre es eine katholische Kirche gewesen, hätte er darum bitten können, dass sich unser normales Leben wieder einstellte: Karriere, gesellschaftliches Leben, Respekt, Zugang zu vernünftigem Käse, doch in buddhistischen Tempeln gab es keine Wunschlisten.
»Tu einfach so, als ob.«
Leise schloss ich die Autotür und wetzte hinter einen Busch. Von dort aus beobachtete ich, wie er mit gekränkter Miene losfuhr. Ich sah, wie er zur Gebetshalle kam und den Wagen abstellte. Im nächsten Moment kamen vier Laien und zwei Mönche aus dem kleinen Büro und eilten ihm entgegen. Sie umzingelten meinen Bruder wie Hauskatzen eine Ratte. Ich weiß nicht, was er zu ihnen gesagt hat, aber ich sah, wie seine Fahrertür aufging, die Männer zurückwichen und Arny mit hängendem Kopf die Gebetshalle betrat. Eine Sekunde später tauchte er wieder auf, kickte seine Sandalen von den Füßen und ging erneut hinein. Religion. Es war schon eine Weile her.
In den meisten Tempeln hier unten gibt es eine Nonne. In Thailand zollt man Nonnen nicht mal im Ansatz denselben Respekt wie Mönchen. Sie kochen für alle, füttern die Hunde, putzen, pflegen den Garten … Moment. Das klingt vertraut. Kein Wunder, dass sie so blass aussehen – alle, wie sie da sind. Angesichts dieser unausgesprochenen Animosität jedoch sind sie eher geneigt, geheime Informationen herauszugeben.
Ich traf auf meine Nonne, als sie eine Wand weiß strich – außerdem ihr halbes Gesicht und einen Arm.
»Soll ich Ihnen den Eimer über den Kopf gießen? Das ginge schneller«, sagte ich.
Meine Nonne lächelte. Sie war bestimmt schon über sechzig und hatte in jungen Jahren vermutlich so manchem Mann den Kopf verdreht. Sie war nicht viel größer als ich, aber sofern sie sich nicht ein Bündel Ersatzpinsel ins Hemd gestopft hatte, war sie erheblich großzügiger ausgestattet. Ein alter Mönch im Talar saß auf einer Stufe und wandte ihr den Rücken zu. Überall lagen leise röchelnde Hundeleichen herum wie Gefallene einer großen Hundeschlacht.
»Der eine kann Wände streichen«, sagte sie. »Der andere kann Autos reparieren. Von diesen beiden Möglichkeiten bin ich dem Weißeln am ehesten gewachsen. Ich schlage also vor, dass Sie mich lieber nicht in die Nähe Ihres Autos lassen.«
Ich mochte sie. Wahrscheinlich hätte ich mich zehn Minuten durchs Unterholz des Small Talks schlagen und an das Thema heranschleichen können, oder aber ich konnte einfach angreifen. Ich hielt sie für den eher direkten Typ.
»Ich habe gehört, Ihr Abt wurde ermordet«, sagte ich.
»Haben Sie?«
Sie ließ den dicken Pinsel sinken und malte dabei ihren bereits weißen Sarong an.
»Jep.«
Sie schien auf etwas zu warten.
»Und … wurde er?«, fragte ich.
»Ermordet?«
»Ja.«
»Wollen wir ihn fragen?«
»Ich …!?«
Die hübsche Nonne wandte sich dem alten Mönch auf der Stufe zu. Er schien mit seinen langen Fingern einen Psalm in die Luft zu schreiben.
»Jow a wat«, sagte sie und benutzte die förmliche Anrede. »Diese junge Dame würde gern wissen, ob du ermordet wurdest.«
Meine Hinweise waren zweifellos nicht ganz korrekt. Der Abt fuhr herum und sah mich an. Er war wettergegerbt wie das Wrack eines kleinen Kanus. Sein Brustkorb war ein alter, chinesischer Abakus, der schon lange keine Rechenkugeln mehr besaß, sein Gesicht ein pockennarbiges Muster an Erfahrungen. Offenbar hatte ihm das Leben ziemlich zugesetzt, doch er schien sich in seinem ramponierten Körper wohlzufühlen.
»Nein.« Er lächelte.
»Tja, man kann nicht alles haben«, sagte ich.
»Sie hatten sich einen toten Abt erhofft, was?«, fragte meine Nonne.
»In gewisser Weise ja«, gab ich zu. »Ich freue mich aber auch sehr, den Meister bei bester Gesundheit zu sehen.«
»Und inwiefern würde sein Tod Ihre Lebensqualität verbessern, junge Frau?«, fragte die Nonne. »Ich habe gesehen, wie Sie den Wachmann überwunden haben, aus einem Auto gesprungen sind und sich angeschlichen haben. Somit gehe ich davon aus, dass die Nachricht von einem Mord für Sie in gewisser Weise von Bedeutung war.«
Man weiß, dass sie oft genug selbst eine dunkle Vergangenheit haben und ebenso wenig ohne Schuld sind wie du und ich, aber Menschen in Orange oder jungfräulichem Weiß haben so etwas an sich, das einen dazu veranlasst, die Wahrheit zu sagen. Also setzten wir uns, und ich erzählte ihnen die Blog-Version der Saga meines momentanen Lebens. Sie lächelten und nickten während der gesamten Reise, offensichtlich fasziniert von meinem Niedergang. Und ich kam zum Kreuzweg, an dem ich augenblicklich stand. Es folgte ein kurzer Blick zwischen den beiden. Hätte mich eine Hornisse abgelenkt, hätte ich ihn vielleicht verpasst. Und ich gebe zu, ich könnte mich auch sehr wohl irren, denn Mönche und Nonnen und Imame und katholische Priester sind für mich im Grunde nur kleine grüne Außerirdische. Ich war als Teenager viel zu hip und als junges Ding viel zu zynisch, als dass mich Mannschaftsreligionen in die Falle locken konnten. Dennoch spürte ich, dass die beiden etwas verband. Ich stellte mir einen dunkelroten Teich vor, in dem sie in einem früheren Leben gemeinsam geschwommen waren. Ich glaube, der wortlose Blick sagte: »Sag du es ihr.« – »Nein, sag du es ihr.«
Es folgte eine Pause, in der ich hörte, wie der Pick-up angelassen wurde, zurücksetzte und losfuhr, aber ich war hier viel zu nah an meinem Ziel, um aufzugeben und ihm hinterherzulaufen. Der Abt hustete und sprach:
»Zwei der Männer, die vorhin aus meinem Büro kamen, sind Detectives aus Bangkok. Ein anderer ist von der Kripo Lang Suan. Dann ist da noch der Leiter unseres lokalen Mönchsrates. Die Mönche gehören zum buddhistischen Sangha-Kollegium, dem Obersten Mönchsrat, einer Abteilung, die man Pra Vinyathikum nennt. Wären wir Polizisten, spräche man hier von der Abteilung für Innere Angelegenheiten. Und obwohl das hier mein Tempel ist, mein wat, bin ich nicht dort unten bei den anderen, weil ich selbst der Hauptverdächtige in einem Mordfall bin.«
Hübsch formuliert.
Tatsächlich dauerte es mehrere Sekunden, bis ich merkte, dass meine Kinnlade herunterhing.
»Wer wurde ermordet?«
Die Nonne hatte sich auf der Stufe unter uns eingerollt wie eine Katze. Es war mir etwas unangenehm, aber ich wollte hier keine Regieanweisungen geben. Der Abt fuhr fort:
»Die Mönche vom Pra Vinyathikum trafen vor zwei Tagen in Begleitung eines Abts hier ein. Sein Name war Tan Winai. Ich hatte ihn vor ein paar Jahren kennengelernt. Wir waren freundschaftlich verbunden, dann jedoch getrennte Wege gegangen. Nun allerdings hatte man ihn hierhergeschickt, um einer Beschwerde nachzugehen – über mich. Bevor er Bangkok verließ, hatten wir telefoniert, sodass ich also wusste, dass er kommen würde. Ich sagte ihm, er sei mir willkommen. Die Mitglieder des Kollegiums besitzen die Macht, Mönchen das Gewand zu nehmen, doch einem Abt können sie nichts weiter anhaben, als dass sie einen Bericht an die Abteilung für Religiöse Angelegenheiten schicken. Die würde dann eigene Ermittlungen anstellen. Es ging also um die allerersten Untersuchungen, und keiner von uns nahm sie allzu ernst.«
»Hat Ihnen der Abt, der Sie besuchte, die Details der Beschwerde gegen Sie genannt?«, fragte ich.
»Er war sehr offen. Wir haben die Angelegenheit ausgiebig diskutiert.«
»Aber Sie konnten ihn nicht dazu überreden, den Anfangsverdacht fallen zu lassen.«
»Es war eine interessante Debatte. Ein höchst umstrittenes Gebiet. Eines, das in der buddhistischen Lehre nicht klar formuliert ist. In vielerlei Hinsicht konnte ich seinen Standpunkt in dieser Angelegenheit verstehen. Ich war erpicht darauf, alle Argumente zu hören, um mir selbst eine Meinung zu bilden.«
»Und Sie hätten sich seiner Entscheidung unterworfen?«
»Selbstverständlich.«
»Worum ging es bei der Beschwerde?«
Der Abt und die Nonne lächelten.
»Sie sagen, was Sie denken«, sagte die Nonne. Sie stand auf und legte eine Hand an meinen Arm. Es war das Zeichen, dass ich mitkommen sollte. »Sie könnten ohne Weiteres aus dem Süden stammen.«
Das kam bei mir nicht unmittelbar als Kompliment an, und ich war eher unglücklich darüber, dass man mich fortschaffte, bevor ich eine Antwort auf meine Frage bekommen hatte, doch wusste ich von klein auf um die Rituale und ungeschriebenen Gesetze in Tempeln. Ich schien die Einzige zu sein, die nicht eingeweiht war. Als wir Kinder waren, hatte uns Mair in die Zeremonien rein- und rausgeschleppt, als träfe uns ein Bannstrahl, wenn wir allzu lange blieben. Entsprechend fühlte ich mich immer wie eine Fremde, die der Sprache nur ungenügend mächtig war.
»Und?«, drängte ich.
Wir standen hinter der halb gestrichenen Wand. Die Stimme der Nonne war leise.
»Abt Kem wurde von einem seiner Schäfchen der Unzucht beschuldigt«, sagte sie.
Ich sah sie an und wagte etwas: »Mit Ihnen?«
»Ja.«
Nonnen und Mönche und Unzucht. Ist es ein Wunder, dass ich alldem aus dem Weg ging? In der Grundschule lernten wir die goldenen Regeln auswendig. Im Moment fiel mir keine ein, aber … Äbte, die mit Nonnen schliefen, waren irgendwie nicht okay.
»Und haben Sie?«, fragte ich. »Hat er?«
»Nein.«
»Aber früher war da … irgendwas.«
»Wir kennen uns seit vielen Jahren«, sagte die Nonne. »Wir mochten uns schon immer. Bevor die Religion in unser Leben trat, hatten wir die schönste und reinste Freundschaft, die zwei Menschen miteinander haben können. Wir standen uns sehr nah, tun wir immer noch. Wir sahen die Welt mit den Augen des anderen, atmeten dieselbe Luft.«
Vielleicht war ich ein bisschen begriffsstutzig, und vermutlich war es auch nicht der richtige Moment, von Sex zu sprechen, aber alles konnte wichtig sein.
»Und obwohl Sie mit denselben Augen geguckt und dieselbe Luft geatmet haben, blieb es dennoch platonisch?«
»Ja.«
»Sie hatten diese sehr, sehr enge Verbindung, aber trotzdem hat sich daraus nichts ergeben, und Sie sind Ihrer eigenen Wege gegangen und haben beide zur Religion gefunden?« Ich hoffte, dass ich nicht zynisch klang.
»Ja.«
»Und rein zufällig, obwohl es vierzigtausend wats in Thailand gibt, sind Sie beide durch eine Laune des Schicksals zusammen hier gelandet?«
Wieder lächelte sie. »Natürlich nicht. Wir haben den Kontakt immer gehalten: Briefe, Telefonate. Wir sind wie Geschwister. Wir haben eine enge Bindung. Ich glaube, wir wussten immer, dass wir am selben Ort landen würden. Abt Kem hat mir von der kargen Schönheit dieser Gegend erzählt, und ich habe beschlossen, aus dem Nordosten hierherzuziehen.«
Okay, die große Preisfrage. Ohne Telefonjoker. Ohne Hilfe des Publikums.
»Lieben Sie sich noch?«, fragte ich.
Die Nonne seufzte schwer, dann wurde sie bedeutungsschwanger. Sie legte ihre Hände auf dem Schoß zusammen und betrachtete ihre Zehen. Es wirkte einstudiert.
»Wenn man das Dharma erfasst«, sagte sie, »fließen Liebe und Hass mit ein in ein größeres Verständnis des Universums. Persönliche Vorlieben und Abneigungen sind irrelevant. Man ist kein Individuum mehr. Man ist Teil des Ganzen.«
Hübsche Predigt. Ich glaubte ihr nicht. Mich ärgerte, dass ich nicht wusste, wie der Abt die Sache sah. Ich musste ihm in die Augen sehen und es aus seinem Mund hören. Schließlich konnte das Ganze auch der Fantasie der Nonne entsprungen sein. Allerdings hatte ich da so meine Zweifel.
»Sie lieben sich also nicht mehr?«, fragte ich.
Wahrscheinlich versündigte ich mich, wenn ich eine Nonne zwang, persönliche Fragen zu ihrem Liebesleben zu beantworten, aber immerhin bearbeitete ich hier einen Mordfall – endlich. Gott sei Dank war ich auf keiner dieser Selbstkasteiungsschienen, die organisierte Religionen so liebenswert machen.
»Meine Liebe ist allumfassend«, sagte sie.
Okay. Technisch gesehen bin ich Buddhistin. Es steht in meinem Ausweis. Nur wurde ich als eine Art verquere Realistin aufgezogen. Meine Mutter hat mich in diese moderne Welt gestoßen, in der ich mich mit Technik und fremden Kulturen anfreunden sollte. Und wenn auch etwas in mir an eine höhere Ebene glaubt, auf der Jogging und Big Brother Thailand und Bon Jovi keine Rolle spielen, fällt es mir doch schwer zu glauben, dass der hagere, alte Abt Kem je aufgehört hatte, die warmherzigste Nonne auf diesem Planeten zu lieben. Aber war sie es wert, dafür den neugierigen Abt zu ermorden? Ich wüsste zu gern, wie Raymond Chandler das in Worte fassen würde.
Da die Ermittler der Kripo und die Mönche von der Abteilung für Innere Angelegenheiten wieder im Büro waren und ermittelten und mein Bruder und sein Pick-up nirgendwo zu sehen waren, nutzte ich die Gelegenheit, mir den Tatort anzusehen. Der lebende Abt – Kem – durfte das Tempelgelände nicht verlassen, musste aber nicht in seinem Quartier bleiben, also ging er mit mir den betonierten Pfad entlang zu der Stelle, wo man den toten Abt – Winai – gefunden hatte. Eine lethargische Prozession von Tempelhunden folgte uns. Ich versuchte, ihn zu seiner Beziehung zu befragen, doch bei diesem Thema schwieg er. Es konnte nicht überraschen, dass der Leichnam nicht mehr vor uns auf dem Weg lag, doch ein großer Teil des Betons war braun wie von gekautem Kautabak.
»Ziemlich viel Blut«, sagte ich.
»Man hat ihm mehrmals in den Bauch gestochen«, sagte Abt Kem.
Ich sah mich um. Es war ganz und gar keine abgelegene Stelle. Deutlich sah ich die Straße, die am Hang ins Tal führte, und unseren Wagen am Straßenrand. Von Norden her konnte jeder, der die Gebetshalle besuchte, die Mönche, die Nonne, sie alle konnten die Stelle sehen, an der wir standen. Und hinter uns ragte das leuchtende Beet der Bougainvilleen in voller Blüte auf wie eine Plakatwand mit der Aufschrift: MORD DES TAGES.
»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte ich.
»Ich.«
»Um wie viel Uhr?«
»Kurz nach drei gestern Nachmittag.«
»Was hat Sie hier heraufgeführt?«
»Die Hunde. Es gab da einige Aufregung. Normalerweise schlafen sie um diese Zeit, wenn die Luft am trockensten ist. Ich fürchtete, sie wären auf eine Kobra gestoßen. Als ich hier ankam, fand ich den Abt tot auf dem Weg liegen.«
»Sie sind den ganzen Weg hierher gelaufen, nur wegen einer Schlange? Sind Sie denn Schlangenbeschwörer?«
»Die meisten Schlangen hier oben sind harmlos, aber wir verlieren immer wieder Hunde durch Kobras. Sie beißen nur zur Selbstverteidigung, und deshalb muss man manchmal schlichten. Ich habe einen Binsenkorb. Damit trete ich zwischen die Hunde, werfe den Korb über die Schlange und setze mich darauf. Wenn den Hunden langweilig wird und sie nach Hause gehen, lasse ich die Schlange frei.«
»Dann retten Sie die Schlange also?«
»In gewisser Weise, ja.«
Ich hatte schon viele wilde Zeugenaussagen gehört, aber die war speziell. Sofern die Schlangen allerdings nicht bereit waren, Beweise zu liefern, nützte diese Aussage Abt Kem nichts. Ich dankte ihm und sah ihm hinterher, wie er auf dem Weg zurückschlenderte und hin und wieder stehen blieb, um abgebrochene Zweige aufzusammeln oder ein verwelktes Blatt zu pflücken. Als ich zum Pick-up wanderte, ließ ich mir die Variablen durch den Kopf gehen. Eine entscheidende Frage, die immer wieder aufkam, lautete: Konnte ein Mann, dem das Leben so viel bedeutete, dass er sich zwischen eine Hundemeute und eine Kobra wagte, in der Lage sein, einen Menschen zu ermorden? Aber ich hatte schon Seltsameres gesehen.
»Wie hast du es geschafft, dich durch die vielen Polizisten zu quatschen?«, fragte ich Arny, als ich in den Wagen kletterte.
»Musste ich gar nicht.«
»Du musst doch irgendwas … Oh, du warst aufgebracht, oder?«
Er nickte.
»Und wenn du aufgebracht bist, tränen deine Augen.«
Wieder nickte er.
»Und sie haben gedacht, du weinst und müsstest dringend beten.«
»Es war anstrengend«, räumte er ein.
Ich konnte mir die Szene gut vorstellen. Arny steigt aus. Er ist umzingelt. Er gerät in Panik. Die Detectives kommen zu dem Schluss, dass ein Hundert-Kilo-Schrank nur weint, wenn er dringend Trost braucht. Habe ich es nicht gesagt? Ich wusste doch, dass ich Arny nicht umsonst mitgenommen hatte. Ich zog mich an seinem linken Arm hoch und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Das gefiel ihm.