Kapitel 8

»Freie Gesellschaften sind hoffnungsfrohe Gesellschaften. Und freie Gesellschaften stehen verbündet gegen die wenigen verachtenswerten, die kein Gewissen haben, die morden, wenn ihnen der Hut geht.«

George W. Bush

Washington, D. C., 17. September 2004

Natürlich waren sie mir nahegegangen. Wie sollten sie auch nicht? Auf dem Rückweg fing Arny immer wieder davon an, ich hätte kein Herz, keine normalen Sinne. Meine Arbeit für die Zeitung hätte mich zum Zombie gemacht.

»Wie konntest du da sitzen und dir diese Bilder ansehen, ohne dass es dir das Herz bricht?«, hatte er gefragt.

»Es ist meine Arbeit«, erklärte ich ihm.

Das sagte ich mir immer selbst. Es ist meine Arbeit. Leute werden überfallen. Leute werden geschnappt. Leute sterben. Sie waren vorher nicht Teil meines Lebens. Und hinterher auch nicht. Sie waren keine Freunde. Man ist an ihrem Leben nicht beteiligt. Vielleicht kommt etwas Trauer hoch, wenn man die Hinterbliebenen interviewt. Vielleicht vergießt man sogar eine Träne des Mitgefühls. Aber es ist der schlimmste Tag im Leben eines anderen, nicht in deinem. Du schreibst deinen Bericht in nichtssagender, emotionsloser Sprache. Schriftsteller weinen in ihre Tasten. Reporter zählen Wörter und behalten die Uhr im Auge.

Als ich die Fotos auf dem bis dahin jungfräulichen Monitor von Home Art zum ersten Mal gesehen hatte, war ich natürlich schockiert gewesen. Hier wurde jemand ermordet. Ein Mönch posiert unfreiwillig für ein Foto. Schon auf dem zweiten Bild hält er die Hand hoch, als wollte er sagen: »Genug!« Seine Robe und die blasse Haut bilden einen eleganten Kontrast zu den Bougainvilleen hinter ihm. Auf dem dritten Bild betrachtet er interessiert einen Hut, der ihm gereicht wird, vermutlich vom Fotografen. Es ist ein orangefarbener Strohhut. Ein Frauenhut. Auf dem vierten Bild hält er ihn in der Hand wie eine Almosenschale. Er wirkt argwöhnisch amüsiert. Derweil klickt die Kamera immer weiter, und wieder ist die Hand des Fotografen zu sehen. Offenbar steckt sie in einem pinken Ofenhandschuh. Hält ein Messer fest. Die Klinge ist lang wie in einem Slasherfilm. Auf manchen Bildern glänzt die Nachmittagssonne auf der Klinge und verändert dadurch die Qualität der Fotos. Wir gehen mit dem Kameramann einen Schritt vor und zwingen den Mönch, den Hut aufzusetzen. Anfangs lächelt er ungläubig, doch als die Klinge seine Schulter berührt, gibt er nach. Wir treten zurück. Da gibt es ein Bild mit dem Hut, peinlich auf dem Kopf des Mönchs. Lächerlich. Aber es ist, als sei dieses eine Bild in Farbe gemeißelt. Ein erschreckendes, aber künstlerisches Foto, das Angst ausstrahlt. Damit hatte man sich Zeit gelassen.

Und dann kehren Messer und Ofenhandschuh wieder in die Bilder zurück: eins, zwei, drei, während wir uns dem Abt nähern. Da beginnt das Schlachten. Fotograf und Mörder sind ein und derselbe. Der Abt fällt auf die Knie, starrt den Mörder an, der nicht im Bild ist, wendet sich ab, als wolle er versuchen, durch die Blumenbeete zu kriechen, dann liegt er rücklings quer auf dem betonierten Weg. Die Blutlache breitet sich unter ihm aus, und dann – wie aus dem Nichts – kommt ein Hund ins Bild. Seine Augen sind rot vor Raserei. Dann ist er verschwommen, schon wieder halbwegs aus dem Bild, da kommt ein zweiter Hund und fletscht die Zähne. Er füllt das ganze Bild aus. Gleich wird er den Fotoapparat verschlingen. Dann ist da Himmel. Eine verschwommene Bewegung. Dann … nichts.

Alles in allem waren es sechsundvierzig Bilder, die den Mord an einem friedliebenden Menschen dokumentierten.

Arbeit eben.

Der Mond war in dieser wolkenlosen Nacht fast voll, und die Fischerboote waren alle zu Hause geblieben. Wie hirnlose Verliebte wurden die romantischen Tintenfische eher vom Licht des Mondes angelockt als von den trügerischen Lichtern der Boote, die sie in ihre Netze und an die Haken locken sollten. Im Mondlicht leuchtete der Strand blassgrau, doch klar und deutlich wie am Tag. Obwohl keine Farbe um mich war, konnte ich die verdammten Fotos nicht aus meinem Kopf bekommen. Sie waren noch immer viel zu laut und lebhaft. Ebenso wenig konnte ich mich von der dämlichen Theorie befreien, dass ein bedeutender Mönch ermordet worden war, weil jemandem gerade der Hut ging.

Ich glaube, ich hatte bereits erwähnt, dass ich meinen MA – meinen Master of Arts – an der Universität von Chiang Mai schon halb fertig hatte, als DIESES LEBEN IST NICHT VERFÜGBAR auf meinem Bildschirm erschien. Ein halber MA ist schließlich so gut wie gar keiner. Aber wer sollte einem schon für ein bloßes M einen Job geben? Der Kurs gehörte zu diesen Geldschneidereien, die das Bildungsministerium so sehr ins Herz geschlossen hatte. Lernen für reiche Leute. Wissen pro Kubikzentimeter. »Brauchen Sie eine Krönung für Ihren Abschluss, Madam?« Bestimmt dauerte es nicht mehr lange, bis es Automaten gab, die man mit Zehn-Baht-Münzen füttern musste, damit der Dozent weiterredete.

Jedenfalls belegte ich einen Wochenendkurs. Zwei Tage Unterricht und über die Woche Hausaufgaben. Die meisten von uns arbeiteten montags bis freitags, und somit waren da zwanzig erwachsene – ich sage es, ohne dabei zu grinsen – Studenten wie ich ohne soziale Kontakte, die am Wochenende zusammenkamen, um sich allen Ernstes gegenseitig selbst verfasste Essays zum Magischen Realismus in England vorzulesen und sich von den Kommilitonen kritisieren zu lassen. Nach drei Jahren hatte man – vorausgesetzt, man zahlte immer brav die Gebühren und brachte seine Abschlussarbeit hinter sich, die weder man selbst noch die Dozenten ernstlich verstanden – einen Master of Arts in »Kritisches Englisch« in der Tasche. Nicht weglaufen. Dieser kleine Ausflug hat seinen Sinn.

Ein Kurs hieß »Offene Rede und Mündliche Improvisation«. Wir nannten ihn kurz Ormi. Er wurde von einem alten, englischen Explayboy unterrichtet, der immer noch dachte, er hätte es drauf. Er flirtete viel und zog anderthalb Stunden seinen Bauch ein. Es muss eine wahre Erleichterung für ihn gewesen sein, wenn er nach Hause kam und wieder normal atmen konnte. Am Anfang des Kurses teilte er jedem eine Fallstudie zu. Diese bestand aus einer berühmten Person, die viele Reden hielt. Das Ziel war, eine seiner oder ihrer Reden – oder Auszüge aus mehreren – auszuwählen und die Techniken anhand einer Stilanalysentabelle zu analysieren, die der Dozent uns ausgehändigt hatte. Ich war neidisch auf meine Freundin Ning, weil sie Bill Gates hatte und er seine Reden so simpel gestaltete, dass sein Publikum gelegentlich ins Koma fiel. Mir halste man George W. Bush auf. Ich versuchte, ihn gegen Condoleezza Rice zu tauschen. Ich dachte immer, wenn sich ein Mädchen mit dem Nachnamen Rice, das einer ethnischen Minderheit entstammte, aus der Anonymität befreien konnte, dann konnten wir das auch. Aber keiner wollte George, also studierte ich sechs Monate lang das rhetorische Talent des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Und ich hatte es kaum für möglich gehalten, aber Condoleezza stand auf der Wenn-die-es-schaffen-kann-Inspirationstabelle viel weiter unten als George W. Der arme Mann war wirklich kein guter Redner, und ich fragte mich, ob er im Privatleben eigentlich richtige Sätze zustande brachte. Aber George war ein Glückstreffer, und ich bekam für diesen Kurs die Bestnote.

Okay, das war jetzt ein ziemlicher Umweg für die Erklärung, wo ich die Formulierung »morden, wenn einem der Hut geht« zum ersten Mal gehört hatte. George war in Washington D. C. und wieder mal auf dem Teleprompter verrutscht und hing irgendwo zwischen »wenn einem der Sinn danach steht« und »einem geht der Hut hoch« fest. Es endete damit, dass die Terroristen sich gegenseitig »mordeten, wenn ihnen der Hut ging«. Vierzehn Tage hatte ich damit zugebracht herauszufinden, was es bedeutete. Aber es war der erste Satz, der mir in den Sinn kam, als ich von dem orangefarbenen Hut des Abts hörte. So seltsam es auch scheinen mag, wusste ich doch aus unerfindlichem Grund, dass es für den Fall relevant war.

Jedes Stück Holz, jede Muschel, jeder todesmutige Krebs wurde vom großen Scheinwerfer ausgeleuchtet. Ich saß auf dem Grasrand, wo das Meer in der letzten Monsunsaison sein sandiges Abendessen zurückgelassen hatte. Gogo war an meiner Seite, kaute gedankenverloren an den Haaren ihres Hinterteils herum. Ich hatte eigentlich schon immer das Gefühl, dass die Hunde es sich bei den Katzen abgeguckt hatten und es cool fanden, ohne die Idee dahinter zu begreifen. Wenn es um Reinlichkeit ging, waren alle Hunde männlich. Es war Mitternacht. Ich hatte überlegt, ob ich eine meiner Weinflaschen aufmachen sollte, die ich aus Chiang Mai mitgebracht hatte, doch während ich die ungeöffneten Umzugskartons nach dem verschollenen Korkenzieher durchsuchte, blinkte vor mir die Frage »Warum sollte ich?« auf wie die Warnung vor einem schwachen Akku. Feierte ich das Comeback der Kriminalreporterin Jimm Juree, oder betrauerte ich den Niedergang meiner kurzlebigen Unschuld? Würde ich auf die Rückkehr meines hartgesottenen Ichs trinken oder seine Ankunft betrauern? Oder vielleicht hoffte ich auch, dass ich – weintrunken an einem grauen Strand – die sechsundvierzig Farbfotos nicht mehr vor mir sehen musste. Ich dachte, die große, fast volle Untertasse am Himmel – unten fehlte nur ein Splitter – könnte mir vielleicht beim Denken helfen, damit ich Arny am nächsten Morgen etwas zu erzählen hätte. Irgendetwas Aussagekräftigeres als: »Es ist Arbeit.«

Aber der Mond hing nur dort und nahm mir alle meine Ausreden, und zum zweiten Mal in drei Tagen weinte ich mir vor einem Hund die Augen aus.

Am nächsten Morgen überbrachte ich Major Mana den Fotoapparat. Ich begrüßte Sergeant Phoom am Tresen und wurde gleich durchgewinkt. Mana saß in seinem Büro und telefonierte. Ich nehme an, es war wohl privat, denn er hielt seine Hand über den Hörer und wandte sich zum Fenster ab, als ich in seiner Tür erschien. Scheinbar freute er sich nicht sonderlich, mich zu sehen. Er beendete sein Gespräch und nickte mir zu, ich solle hereinkommen. Ich legte die Kamera im Plastikbeutel auf den Tisch.

»Was ist das?«, fragte er.

»Meine Hand, die Ihre wäscht«, sagte ich. »Ich glaube, das ist die Kamera, die niemand verloren hat.«

Ich sagte ihm, wie und wo ich sie am Morgen gefunden hatte, und dass er den Fund gern für sich reklamieren dürfe. Ich unterbreitete ihm meine Theorie, dass es sich bei dem geheimnisvollen Mann, der wissen wollte, ob der Fotoapparat der Gerichtsmedizin am Tatort gefunden worden war, möglicherweise um den Mörder höchstpersönlich gehandelt hatte, der seine Kamera suchte, nachdem sie ihm während der Tat heruntergefallen war. Ich konnte nur andeuten, dass die Hunde den Mörder möglicherweise vertrieben hatten, denn selbstverständlich durfte er nicht wissen, dass ich die Fotos schon gesehen hatte.

Major Mana zeigte wenig Begeisterung, was meine Theorie anging. Er bedankte sich dafür, dass ich ihm die Kamera gebracht hatte, und hielt mir einen kurzen Vortrag darüber, von welch entscheidender Bedeutung es war, Beweisstücke nicht anzufassen – als wäre der Plastikbeutel ein reiner Zufall meinerseits.

»Wollen wir sie uns ansehen?«, fragte ich. Mir schien, eine Journalistin, die einen Fotoapparat gefunden hatte, sollte neugierig sein, was auf den Bildern war.

»Was ansehen?«, sagte er.

»Die Fotos in der Kamera. Sie könnten wichtig sein.«

»Nein, nein. Wir müssen sie erst bearbeiten.«

»Bearbeiten?«

»Nach Fingerabdrücken und sonstigen Spuren absuchen … Sie wissen schon: Blut, Körperflüssigkeiten. Uns fehlen hier die Möglichkeiten, also müssen wir die Kamera nach Lang Suan schicken, und die bringen sie rüber nach Chumphon.«

»Sind Sie denn kein bisschen neugierig, was drauf ist?«, fragte ich. »Wenn die Kamera erst in Lang Suan landet, sagen die Ihnen ja doch nicht, was sie gefunden haben.«

»Natürlich tun sie das.«

»Sie müssten sie nur umdrehen und mal nachsehen. Es wäre absolut gerechtfertigt.«

»Es gibt da gewisse … Vorschriften.«

»Tatsächlich?«

»Ich verspreche Ihnen, sobald Lang Suan den Inhalt dieser Kamera freigibt, werde ich die Information an Sie weiterreichen. Ich habe unseren Deal nicht vergessen.«

Das war mehr oder weniger ein Versprechen, dass ich keinerlei brauchbare Insiderinformationen von meinem Major bekommen würde. Ich bedankte mich für die Zusammenarbeit, verbeugte mich, als ich rückwärts das Zimmer verließ, und lief den Korridor zu Chompus Büro entlang. Er amüsierte sich gerade mit chinesischen Donuts in Tiergestalt und einem Becher Kaffee, dessen Färbung darauf hindeutete, dass er instantisiert war. Er blickte auf und lächelte.

»Meine Reporterin! Sie haben mir gefehlt. Hunger?«

Ich setzte mich ihm gegenüber und brach dem Kuchentier ein Teigbein ab.

»Ich hatte nicht erwartet, dass Sie schon so früh da sein würden«, gab ich zu.

»Machen Sie Witze? Zwei Mordfälle? Die Provinzverwaltung hat uns eimerweise Geld für Überstunden geschickt. Wir sollen auf Abruf bleiben. Falls Lang Suan eine Maniküre braucht oder Glühbirnen ausgewechselt werden müssen – wir stehen bereit. Sie werden es noch sehen.«

»Ich habe mal kurz beim Major im Büro reingeschaut. Ich glaube, er war nicht gerade begeistert, mich zu sehen.«

»Wahrscheinlich haben Sie ihn bei seinen Amway-Deals gestört. Direktverkauf überflüssiger Produkte für die kritische Hausfrau.«

»Er verkauft für Amway?«

»Hier unten kommt mit Schmiergeld nicht viel rein. Er muss seinen Lebensunterhalt irgendwie auf andere unehrenhafte Weise verdienen.«

»Wie war’s im Kriminallabor?«

»Sinnlos und wunderbar. Wie war’s in Surat?«

Der Gauner. Woher wusste er, dass ich nach Surat gefahren war?

»Wenn Sie einen GPS-Sender unter unserem Wagen befestigt haben, werde ich …«

»Also wirklich, kleine Journaille. Seit drei Monaten habe ich eine Anforderung für Büroklammern laufen. Was glauben Sie, wie lange es dauern würde, ein Ortungsgerät zu besorgen? Sie sollten wirklich aufhören, sich diese blödsinnigen, amerikanischen Fernsehserien anzutun. Wissen Sie denn nicht, dass da alles frei erfunden ist?«

»Und woher wissen Sie dann, dass ich in Surat war? Langsam werden Sie mir unheimlich, Lieutenant.«

»Es ist ganz einfach. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der es keine Fremden gibt, in der alle miteinander entweder verwandt oder bekannt sind.«

Ich stand nicht auf Witze über die Aristokratie.

»Klingt ungesund«, erklärte ich.

»Aber es gibt sie. Meine Mutter hat ein Mädchen, das ihr den Garten macht. Der Mann der Gärtnerin fährt Fisch von Lang Suan nach Surat. Der Besitzer eines der Restaurants, die er beliefert, hat eine Tochter, die den Dairy-Queen-Stand vor dem Home Art Mega Store betreibt. Ich habe sie gebeten, den Manager für mich zu beobachten. Klatsch und Tratsch vom Personal aufzuschnappen, so was in der Art.«

»Das klingt für mich moralisch nicht einwandfrei.«

»Jeder möchte gern mal Polizist spielen. Ich lasse sie nur ihre Fantasie ausleben. Und meine Dairy-Queen-Politesse hat mir heute früh gemeldet, sie hätte gestern Nachmittag beobachtet, wie eine Frau mit unvorteilhafter Frisur in Begleitung des Unglaublichen Hulk im Büro des Managers verschwunden und sehr lange dort geblieben sei. Sie hat sogar ein Foto mit ihrem Handy gemacht. Der technische Fortschritt erstaunt und ängstigt mich direkt … Sie sehen so bedrückt aus. Kann ich Ihnen helfen?«

»Sie hat gesagt, ich hätte eine unvorteilhafte Frisur?«

»Surat ist noch nicht bereit für den Scherenschnittmassaker-Look. Aber er steht Ihnen. Nehmen Sie es nicht so schwer. Sie arbeitet bei Dairy Queen – Gott steh ihr bei.«

»Aber wie zum Teufel haben Sie das mit dem Manager rausgefunden?« Meine Stimme war ein reiner Sopran.

»Ich bin Polizist«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, und nichts deutete auf das Gegenteil hin. Lieutenant Chompu war tatsächlich Polizist. Man durfte sich nicht von den geringfügigen Nagellackresten täuschen lassen. Er beherrschte seinen Job. Wir machten einen Deal. Ich würde ihm alles über unser Interview mit Koon Boondej erzählen, und er würde mir anvertrauen, was das Labor in Prajuab herausgefunden hatte. Ich beschloss, ihm nichts von dem Fotoapparat zu erzählen, wohl aus Boshaftigkeit. Ich wollte etwas zurückhalten, weil ich sonst keine Lollis zum Verhandeln hatte. Es war ein Fehler, aber auch ich bin gegen Dummheit nicht immun. Ich beendete meine Erzählung zuerst. Er schlürfte die letzten blutgerinnungsmindernden Tropfen vom Boden seines Kaffeebechers.

»Gut gemacht«, sagte er. »Nein, wirklich. Sehr gut.«

»Sie sind sich darüber im Klaren, dass ich auf meine Instinkte baue …«, sagte ich.

»Kein Problem. Ihre Instinkte sind super. Aber damit stecken wir in einer bösen Sackgasse, was den VW angeht.«

»Nicht unbedingt. Zumindest wissen wir, dass es sich bei dem Pärchen im Bulli nicht um unschuldige Touristen handelte. Sie waren an einer kriminellen Handlung beteiligt. Es würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwas angestellt hätten, mit dem sie Tante Chainawat vor den Kopf gestoßen haben, und sie sich an ihnen gerächt hat.«

»Ich kann mir nicht …«

»Tatsächlich würde es mich nicht wundern, wenn sie die ganze Sache mit dem Autoklau selbst organisiert hat. Ich wette, sie hatte ein ganzes Netz von mittellosen Pärchen, die unterwegs waren, um Autovermietungen zu betrügen. Sie brachten die gestohlenen Fahrzeuge zu ihr nach Hause, und die alte Dame hat sie dann rüber nach Malaysia oder nach Kambodscha verschifft oder für Ersatzteile zerlegen lassen.«

»Aber vermutlich nicht begraben.«

»Was? … Okay. Das ergibt keinen Sinn, aber …«

»Ich verliere das Vertrauen in Ihre Instinkte.«

»Nein, hören Sie weiter zu. Ein Pärchen will sie um Geld erpressen, also statuiert sie an den beiden ein Exempel. Lässt alle anderen Bandenmitglieder wissen, dass Aufmüpfigkeit nicht toleriert wird. Sie versammelt ihre Leute um den Fischteich und versenkt den Bulli langsam im Wasser. Die Türen sind zugeklebt. Jeder begreift, worum es geht. Sie weiß Loyalität zu schätzen. Ihre Leute gehen bedrückt nach Hause, wie Verwandte nach einer Beerdigung.«

»Ein, zwei Blasen steigen aus dem Tümpel auf«, sagte Chompu theatralisch. »Dann ist alles still. Eine einsame Seeschwalbe hebt ab, und wir folgen ihr mit dem Blick aufs Meer hinaus. Es wäre eine atemberaubende Schlussszene für die Kinoversion. Ich sehe Meryl Streep als die Patin. Heutzutage kann man mit Schminke Wunder bewirken.«

»Es ist eine Hypothese. Man muss mit einer Hypothese anfangen.«

»Was hat Ihnen die arme, alte Dame nur getan?«

»Sie hat respektlos einen bösen Blick auf meine Turnschuhe geworfen.«

»Ach so. Na dann. Schicken Sie das SEK rein.«

»Okay, jetzt sind Sie dran.«

»Muss ich?«

»Das war der Deal.«

»Na gut. Das Labor in der Kaserne von Prajuab ist furchtbar stickig und zeigt einen deutlichen Mangel künstlerischen Inputs, was die Einrichtung angeht. Die Beleuchtung ist das Allerletzte. Auf einem der langen Tische hatten sie die beiden Skelette nebeneinandergelegt. Es war eigentlich ganz süß. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn sie Händchen gehalten hätten, aber ich stand die ganze Zeit unter Beobachtung. Ich bin nicht restlos überzeugt, dass sie das Puzzle genau richtig hinbekommen haben. Wir hatten ihnen das Pärchen als bunte Mischung geschickt, und es würde mich nicht wundern, wenn sie einfach alles zusammengewürfelt hätten, wie es gerade kam. Einer der Laboranten nahm allen Ernstes immer wieder Bezug auf sein Lehrbuch. Er tat, als wollte er mir das eine oder andere Phänomen veranschaulichen, aber ich glaube, im Grunde wollte er nur seine eigene Arbeit überprüfen. Über die Todesursache konnten sie mir rein gar nichts sagen, abgesehen davon, dass die beiden weder zersägt noch zerhackt oder mit einer Maschinenpistole durchsiebt worden waren. Ebenso wenig ragten Pfeile oder Speere aus ihnen hervor. Und sie waren auch weder Explosionen noch Knochen zersetzenden Krankheiten zum Opfer gefallen. Der Fairness halber muss man allerdings sagen: Das Labor ist sicher, dass die beiden nicht an Altersschwäche gestorben sind. Ein Blick ins Lehrbuch bestätigte mir, dass sie noch ziemlich jung waren, Anfang zwanzig ungefähr.«

»Alles in allem war der Ausflug also sinnlos.«

»Ganz und gar nicht.«

»Wie das?«

»Ich war schon bei der Security, auf dem Weg nach draußen, als mir dieser ansehnliche, dunkelhäutige Captain hinterhergelaufen kam. Ich dachte, er fand mich attraktiv und wollte meine Telefonnummer, aber er hielt einen großen braunen Umschlag in der Hand und fragte: ›Sind Sie der Lieutenant aus Lang Suan?‹ Mein Ruf war mir vorausgeeilt. Ich lächelte und sagte: ›Ja.‹ Dann reichte er mir den Umschlag und bat mich, ihn bei Major General Suvit abzugeben. Ich salutierte in aller Form, und er wusste nicht, ob er nicken oder mit dem Schwanz wedeln sollte, also salutierte er ebenfalls, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gar nicht gemerkt, was für einen Schatz ich in Händen hielt. Ich nahm an, es konnte nicht so wichtig sein, weil der Umschlag nicht versiegelt war, sondern nur mit einem Bändchen zugebunden.«

»Aber trotz der Versuchung haben Sie keinen Blick riskiert?«

»Doch, natürlich. Ich meine, ich musste ja nicht schwören, dass ich es nicht tun würde, oder? Und da stand ja auch nicht: ›Für Major General Suvit persönlich‹. Und wie ich das Militär kenne, hätte in dem Umschlag auch etwas Illegales sein können. Es war sozusagen meine Pflicht nachzusehen. Und was glauben Sie, was drin war?«

»Ich geb auf.«

»Ich will Ihnen den einen oder anderen Tipp geben: Messer, Blut, Abt … Ach, kommen Sie, inzwischen müssten Sie es aber wissen.«

»Ich dachte, man hätte seine Leiche nach Bangkok geschickt.«

»Anscheinend sind die Gerichte in der Hauptstadt momentan beschäftigt, also wurde Abt Winai nach Pranjuab umgeleitet.«

Ich rückte meinen Stuhl näher heran, und er zuckte bei dem scharrenden Geräusch zusammen.

»Okay. Was haben die gefunden?«, flüsterte ich.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es Ihnen sagen darf …«

»Möchten Sie sich lieber der Peinlichkeit aussetzen, von einem Mädchen verprügelt zu werden?«

»Das war eine Drohung gegenüber einem Polizeibeamten. Dafür könnte ich Sie einsperren.«

»Chompu …«

»Also gut, aber es ist wirklich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Nicht weniger als dreizehn Stichwunden. Sieben nach Eintritt des Todes.«

»Nein!«

»Alle in Bauch und Unterleib. Langes, sehr scharfes Messer. Klinge etwa dreißig Zentimeter.«

Das wusste ich. Ich hatte es gesehen.

»Täter vermutlich kleiner als das Opfer, Linkshänder, keinerlei Gegenwehr. Der Abt wurde also überrascht.«

Das wusste ich auch. Eher noch erschreckt. Völlig verblüfft, aber – wie ich mich erinnerte – hatte er keine Angst gehabt. Sein Gesichtsausdruck war eher resigniert. Und ich bezweifelte, dass der Täter Linkshänder war. Er musste nur die rechte Hand frei haben, um Fotos zu machen.

»Opfer ansonsten in guter Verfassung. Starb am Blutverlust. Keine weiteren Spuren am Körper.«

»Was schließen Sie daraus?«, fragte ich ihn.

»Dem Wenigen nach zu urteilen, was ich über den Fall weiß, würde ich sagen, der Mörder wollte uns damit etwas mitteilen. Die ersten beiden Wunden hätten genügt, also war das Ganze ein Statement. Irgendetwas hatte sich im Mörder angestaut und musste raus. Es hat auch mit Wahn zu tun.«

»Glauben Sie, ein anderer Abt könnte es getan haben?«

»Nein.«

Seine Antwort war kurz und knapp.

»Warum steht dann das Oberhaupt des wat Feuang Fa immer noch unter Tatverdacht?«

»Sollte dem so sein, und ich kann hier nur auf Ihr Wort bauen, weil mir ja sonst keiner was sagt, dann, weil er A ein Motiv hat und B, weil er der einzige Tatverdächtige ist, der zur Verfügung steht.«

Damit traf er gleich beide Male ins Schwarze.

»Ich glaube nicht, dass er es getan hat, aber man bräuchte nur eine mögliche Tatwaffe zu finden«, sagte er, »und Ihr Abt Kem wäre seine Mönchsrobe ein für alle Mal los.«