Kapitel 7
»Lassen Sie mich eins klarstellen: Arme Leute sind nicht unbedingt Mörder. Nur weil man zufällig nicht reich ist, heißt das noch nicht, dass man zum Töten bereit wäre.«
George W. Bush
Washington, D. C., 19. März 2003
Am nächsten Morgen wachte ich auf, weil jemand an die Tür meiner Hütte klopfte. Als ich aufmachte, stand Arny vor mir, mit nur einem Handtuch um die Hüften.
»Sie sind weg«, sagte er.
»Bitte?«
»Die Gäste aus Zimmer zwei.«
»Sie haben doch im Voraus bezahlt, oder?«
»Ja, aber …«
Constable Ma Dum war der arme Kerl, der das Verschwinden unseres Fernsehers untersuchen sollte. Aufrichtig wies er uns darauf hin, dass wir uns – da wir weder nach den persönlichen Daten des Pärchens in Zimmer zwei gefragt noch darauf bestanden hatten, bis zum Auschecken ihre Motorradzulassung einzubehalten – keine allzu großen Hoffnungen machen sollten, den gestohlenen Fernseher je wiederzusehen. Sicher mochte es Zeugen geben, die ein Pärchen auf einer rostschwarzen Suzuki mit einem klobigen Fernseher gesehen hatten, doch da auch das Bettzeug, die Handtücher und Vorhänge fehlten, konnte man wohl davon ausgehen, dass sie den Fernseher irgendwie getarnt hatten. Die Leute in dieser Gegend transportierten alles Mögliche auf ihren Mopeds.
Damit war unser Fernseher schon so gut wie weiterverkauft. Ein geringfügiges Vergehen. Zimmer – zweihundert Baht. Verkauf des gebrauchten Fernsehers – fünfhundert Baht, höchstens. Profit etwa im Wert eines Mocha Supreme mit einem Cremetörtchen bei Starbucks. Als ich in Pak Nam angerufen hatte, um den Diebstahl zu melden, erkannte mich Sergeant Phoom sofort an der Stimme. Mein Name fand sich auf einem Bericht, den Major Mana abgezeichnet hatte. Um zehn Uhr tauchte er mit seinem glänzenden Polizeiwagen bei uns auf. Er gab sich ausgesprochen herablassend.
»So, so …«, sagte er und rümpfte die Nase, während er mit den Händen hinterm Rücken herumtigerte wie ein allzu selbstbewusster Stierkämpfer. »Sie sind also wegen des VW-Falls in den Süden geflogen, haben gemerkt, wie gut es Ihnen hier gefällt, und prompt Ihre Familie überredet hierherzuziehen, hm? Kurz entschlossen.«
»Ich habe nicht wirklich gesagt …«
»Täuschung eines Polizeibeamten.«
»Was keine Straftat ist, es sei denn, ich wäre Zeugin oder tatverdächtig«, erklärte ich ihm und biss mir sofort auf die Zunge. »Wie Sie sicher wissen.«
»Natürlich. Und ich bin gewillt, Ihnen zu verzeihen.«
Es ergab keinen Sinn, aber ich nahm es hin.
»Danke.«
»Schließlich haben Sie meinen Namen richtig buchstabiert, in drei großen Zeitungen.«
Ich wusste es. Ich wette, er hatte am Morgen nach unserem Interview sämtliche Tageszeitungen gekauft.
»Buchstabieren ist eine meiner Stärken«, erklärte ich ihm.
»Und ich betrachte es eher als Beginn unserer Beziehung, nicht als Ende. Es kann nicht schaden, zehn Minuten die Straße runter eine Reporterin zu haben, die über derart gute Verbindungen verfügt. Ich sehe eine ganz formidable Allianz voraus. Hier eine kleine Information, dort eine Erwähnung in einem Artikel.«
»Genau das hatte ich mir erhofft.«
»Allerdings …«
So ein allerdings hatte ich schon erwartet. Er führte mich zum Strand, seine Hand unangenehm sanft in meinem Kreuz.
»… haben Sie mir einen schlechten Dienst erwiesen.«
»Ach ja?«
»Mein Lieblingsrestaurant. Personal, das mich kennt und respektiert. Einem Stammkunden wird auf der Toilette übel, und seine weibliche Begleitung macht sich aus dem Staub. Ganz und gar nicht gut für den Ruf eines hochrangigen Polizisten.«
»Ich hatte angenommen, Sie wären zu einem Einsatz gerufen worden. Ich habe zwanzig Minuten gewartet.«
»Ich war direkt verstört, als ich sah, dass Sie weg waren.«
»Das tut mir leid.«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das alles wiedergutzumachen.«
Vergiss es.
»Ich weiß«, sagte ich. »Sie sollten irgendwann mal zum Essen herkommen.«
»Bringt nichts, Nong Jimm. Das würde meinen besudelten Namen in meinem Lieblingsrestaurant nicht reinwaschen, oder?«
Vielleicht war ich ihm wirklich etwas schuldig.
»Okay. Ich muss es nur mit Ed klären.«
»Ed?«
»Mein Verlobter.«
Seine Hand blieb an meinem Rücken, hörte aber auf, mich zu massieren.
»Überraschend.«
»Eigentlich nicht. Wegen Ed bin ich … sind wir alle hergezogen.«
Normalerweise funktionierte diese Masche, aber Mana war besonders unangenehm.
»Na gut«, sagte er. »Klären Sie es mit Ed. Ich bin morgen in Lang Suan, aber wir sollten uns am Wochenende sehen. Ich rufe Sie an und nenne Ihnen Ort und Zeit.«
Der Mann war kugelsicher. Er kannte Ed noch gar nicht, tat ihn aber schon als kleinen Fisch ab. Daher wusste er gar nicht, dass der Mann seinen Lebensunterhalt mit Rasenmähen verdiente. Arrogant. Aber Moment mal … Lang Suan?
»Thai Rat hat mich übrigens gebeten, einen Blick auf den Feuang-Fa-Mord zu werfen«, sagte ich so beiläufig wie möglich. Plötzlich wurde seine dunkle Haut vanillefarben.
»Sie? Aber wieso …?«
»Der Mord an Abt Winai.«
»Woher wissen Sie …?«
»Gute Verbindungen.«
»Die Presse weiß davon?«
»Im Moment nur ich. Aber wir zwei haben eine Menge zu besprechen, wenn ich fertig bin.«
»Wenn Sie fertig sind?«
Die verschämte Hand flüchtete von meinem Rücken und gesellte sich zu ihrer Kollegin hinter seinem.
»Sie wissen schon. Richtiger Ort, richtige Zeit. Nur zehn Minuten die Straße runter. Ich glaube, es wäre eine sehr gute Idee, wenn wir beim Lunch unsere Notizen austauschen würden. Da gibt es noch so manches, was ich wissen möchte.«
Ich konnte sehen, wie die Worte UNDICHTE STELLE aus seinem Gehirn quollen, Buchstabe für Buchstabe. Ich wusste, dass man ihn gewarnt hatte, was die Presse in dieser Sache anging. Und da war ich nun, seine Haus-und-Hof-Reporterin. Woher sollte ich meine Informationen denn sonst bekommen?
»Oh, hören Sie …«, sagte er. »In Zukunft sollten wir uns unbedingt zusammentun. Aber möglicherweise ist jetzt kein so guter Moment. Sobald ich etwas Neues höre, werde ich es selbstverständlich an Sie weitergeben. Bis dahin wäre es vermutlich uns beiden eine Hilfe, wenn Sie mir Ihre Notizen zu dem Fall zukommen lassen. Dann kann ich Ihnen sagen, was fehlt. Ich spiele in dieser Angelegenheit eine entscheidende Rolle.«
»Tatsächlich?«
»Absolut.«
»Meine Quelle sagt mir, Pak Nam sei nicht mehr auf dem Laufenden. Da war von mangelndem Vertrauen die Rede. Ich habe gehört, Ihnen sei sogar eine der Tatortkameras aus Lang Suan verloren gegangen.«
»Das stimmt nicht. Ich habe keine Ahnung, woher dieses Gerücht kommt. Das weise ich kategorisch zurück. Ich habe mit der Forensischen Abteilung im Hauptquartier gesprochen. Ich war sogar persönlich dort. Es ist eine sehr kleine Abteilung. Im Grunde nur ein Mitarbeiter. Er hat nicht nur keine Kamera am Tatort verloren, er wurde an diesem Tag gegen Tollwut geimpft und war gar nicht vor Ort.«
»Interessant.«
»Von daher wäre ich dankbar, wenn dieses Gerücht nicht in der Zeitung landet.«
»Ich will sehen, was sich machen lässt.« Inzwischen war ich das Alphatier und knurrte. »Wird Abt Kem denn immer noch in Lang Suan festgehalten?«, fragte ich.
»Nein«, sagte er. »Er ist wieder im wat. Er steht dort unter Hausarrest.«
»Wie sieht es für ihn aus?«
»Nicht gut«, räumte Mana ein.
»Mordwaffe?«
»Bisher nicht, aber da drüben gäbe es reichlich Möglichkeiten, eine Waffe zu entsorgen.«
»Irgendwelche anderen Verdächtigen?«
»Nein. Hören Sie, ich darf wirklich nicht …«
»Wurde zum ungefähren Zeitpunkt des Mordes ein Auto oder Motorrad gesehen? Waren Fremde in der Stadt?«
»Nein.«
»Irgendjemand, der einen Groll gegen den Abt aus Bangkok gehegt haben könnte? Ich meine, schließlich war es sein Job, gegen leichtfertige Mönche vorzugehen und Empfehlungen auszusprechen, ob man ihnen das Gewand abnehmen sollte. Vielleicht kommt Rache als Motiv infrage.«
»Wir haben nichts gefunden. Oder besser gesagt: kein Kommentar.«
So viel zu unserer neuen, offenen Beziehung. Entweder hatten die Detectives aus Bangkok ihm nichts erzählt, oder es gab tatsächlich keine weiteren Verdächtigen oder Motive, oder er log mich an. Ich mag es nicht, wenn Leute mich anlügen. Er kam zu nah an mich heran und lächelte.
»Ich könnte ein Interview mit Abt Kem für Sie arrangieren«, sagte er.
»Ich habe bereits mit ihm gesprochen«, sagte ich herablassend.
Fassungslos starrte er mich an. Die Presse war im Power-ranking seiner Bewunderung um mehrere Stufen gestiegen, und ich wusste, dass es mit dem guten Major kein Techtelmechtel-Lunch mehr geben würde. Er lüpfte seine Mütze, versprach, nach unserem verlorenen Fernseher zu suchen, und winkte mir sogar zu, als er in seinen Wagen stieg.
Abt Kem war wieder zu Hause und wohnte in seiner Hütte hinter dem wat Feuang Fa. Zwei uniformierte Polizisten aus Lang Suan bewachten ihn, doch als ich in meiner Verkleidung – weiten Blümchenshorts bis über die Knie, Red-Bull-T-Shirt unter langärmligem Baumwollhemd, Flipflops und Strohhut – an ihnen vorüberradelte, blickten sie kaum von ihren Comics auf. Es war dermaßen offensichtlich, dass sie mich weder bewunderten noch fürchteten, dass es mich direkt deprimierte.
Ich fand den Abt allein vor. Er saß wieder auf seiner Treppenstufe und zeichnete irgendetwas vor sich in die heiße Luft. Die Hunde saßen ihm zu Füßen und folgten der Bewegung seines Zeigefingers.
»Guten Morgen«, sagte ich.
Er wandte sich mir zu und lächelte. Es machte nicht den Eindruck, als bereiteten ihm die Mordermittlungen größere Unannehmlichkeiten. Aber ich schätze, darum geht es wohl. Wenn du den Warp-Faktor Gamma drei im Selbstfindungsorbit erreicht hast, prallen weltliche Sorgen von deinem Schutzschild ab. Ich beneidete ihn. Ich hätte auch etwas Karma brauchen können, wenn die Affentrainer kamen, um Kokosnüsse zu sammeln, und die blöden Viecher sie absichtlich in mein Gemüsegärtchen warfen. Ich wünschte, ich hätte die Geduld, das alles ernst zu nehmen – das mit der Religion. Aber unablässig rasen frevelhafte Gedanken durch meinen Verstand wie eine lange, graffitibemalte U-Bahn durch einen Bahnhof. Unmöglich könnte ich diese bösen Gedanken abschütteln und rein werden. Ich würde implodieren.
»Wie ich sehe, hat man Sie rausgelassen«, sagte ich.
»Ja.«
»Wurden Sie gut behandelt?«
Auch ich watete durch Klischees. Ich musste mal ordentlich aufräumen.
»Ja.«
»Ich nehme an, es wurde nicht wirklich Anklage gegen Sie erhoben.«
»Nein.«
»Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen zu diesem Tag stellen? Dem Tag, an dem Sie die Leiche gefunden haben?«
Ich hoffte, mir würde die eine oder andere Frage einfallen, die mehr als einsilbige Antworten auslöste.
»Ja.«
»Ist Ihnen irgendetwas Merkwürdiges an Abt Winai aufgefallen, als Sie ihn dort auf dem Pfad gefunden haben?«
»Merkwürdig?«
»Deplatziert, unlogisch, einfach merkwürdig.«
»Meinen Sie den Hut?«
Bingo. »Den meine ich.«
»Ich habe ihn der Polizei gegenüber erwähnt. Dieser Hut geht mir gar nicht aus dem Kopf. Aber die Detectives haben abgewinkt. Sie meinten, es sei ein heißer Tag gewesen … die Nachmittagssonne. Sie meinten, man sollte es dem Abt nachsehen, dass er einen Hut aufgesetzt hat.«
»Aber Sie sind anderer Ansicht.«
»Ich weiß, wie streng mein Freund die Regeln befolgte. Deshalb wurde er schließlich ausgewählt, Ermittlungen im Namen der Sangha durchzuführen. Es ist im Regelbuch klar festgelegt, fünftes Buch, vierte Regel, dass ein Mönch keinen Hut tragen darf.«
Langsam kam es mir albern vor.
»Was glauben Sie also könnte ihn dazu gebracht haben, mit der Tradition zu brechen und einen Hut aufzusetzen?«
»Das ist es ja. Das hat er nicht. Gerade erst hatten wir über meine prekäre Situation hinsichtlich der Grundsätze gesprochen …«
»Gestritten?«
»Eher eine philosophische Diskussion. Wir hatten schon zwei Tage über gewisse Punkte debattiert. Er spazierte gern herum, um seine Gedanken zu ordnen und dann mit weiteren Fragen zurückzukehren. Er war ein sehr logisch denkender und gerechter Mann. Er stand auf, reckte sich und erklärte mir, er wäre bald wieder da. Er wollte ein Stück auf dem betonierten Weg spazieren. Sobald er aus dem Schatten des Feigenbaums trat, richtete er seine Robe und bedeckte damit seinen Kopf. Selbstverständlich trug er keinen Hut.«
»Hat vielleicht einer der Gärtner den Hut dort liegen lassen? Er könnte ihn unterwegs aufgehoben haben.«
»Wozu?«
Gute Frage. Ich hatte keine Ahnung.
»Sie sahen den Hut also zum ersten Mal, als Sie ihn fanden?«
»Ja.«
»Was war das für ein Hut?«
»Er war von kräftigem Orange mit einer roten Blume.«
Hätte ich eine Brille getragen, hätte ich darüber hinweggeblickt, als ich ihn ansah.
»Orange?«
»Grelles Orange. Wie ein Verkehrshütchen.«
»Und die Polizei fand daran nichts Ungewöhnliches?«
»Wie gesagt, man meinte, er hätte sich das Erstbeste gegriffen, was er finden konnte.«
»Aber Sie haben denen gesagt …?«
»Ich bin tatverdächtig. Man hat sich eher dafür interessiert, was der Abt gegen mich zu ermitteln hatte.«
»Möchten Sie darüber sprechen?«
»Da gibt es nichts zu sagen.«
»Aber Sie hatten lange, philosophische Diskussionen mit einem Mann, der ermordet wurde. Alles ist relevant.«
»Philosophie hat nichts mit persönlichen Interessen zu tun. Wir haben die Theorie diskutiert.«
»Die Theorie einer Beziehung zwischen einem Mönch und einer Nonne.«
Er lächelte. Das war bei einem Abt immer ein schlechtes Zeichen. Ich sah, dass er seine Sandalen mit den Füßen umarrangierte – für eine schnelle Flucht. Gleich wäre er weg.
»Nichts davon hat Bedeutung«, sagte er und erhob sich.
»Nur eine Frage noch«, sagte ich.
»Sie müssten doch inzwischen von Antworten satt sein.«
»Eine könnte ich zum Nachtisch noch reinquetschen. Erinnern Sie sich daran, eine Kamera gesehen zu haben?«
»Wo?«
»Am Tatort.«
»Nein, aber ich war weit entfernt.«
»Sie haben sich dem Toten nicht genähert?«
»Nein.«
»Sie haben sich nicht hingekniet? Seinen Puls gefühlt?«
»Nein.«
»Woher wussten Sie dann, dass er tot war?«
Er lächelte, während er sich von mir entfernte. »Ich wusste es einfach«, sagte er.
Er schwebte so gleichmäßig über den unebenen Boden, als hätte er kleine Düsen unter den Sandalen. Hätte ich in Religion doch nur besser aufgepasst. Er wusste es einfach? Wieso? Weil er ihn ermordet hatte? Weil er mit ansehen musste, wie seine Geliebte ihn ermordet hatte? Woher weiß man, dass jemand tot ist, ohne ihn zu berühren? Ich begriff, warum die Detectives nach wie vor ihre Zweifel hatten.
Abt Kem war weg und die Nonne nirgendwo zu sehen. Ich kam zu dem Schluss, dass im wat Feuang Fa nichts mehr herauszufinden war. Ich hatte anderswo zu tun, angefangen mit einem Mittagessen, das ich kochen sollte. Einer schrulligen Familie, die ich zu versorgen hatte. Es wurde Zeit, dass ich mich wieder auf mein Fahrrad schwang und auf den Heimweg machte. Es war ein ziemlich langer Weg, aber langsam fing ich an, die Touren zu genießen. Ich spürte Muskeln, die ich schon lange aufgegeben hatte. Ich schlief die Nächte durch, nicht nur phasenweise. Bewegung tat mir gut. Langsam, aber sicher sah ich mich als Mapraos dorfeigene Agatha Christie, die auf ihrem Drahtesel herumradelte, um Verbrechen aufzuklären, und in ihrer Freizeit töpferte. Ich bückte mich nach meinen Flipflops, fand aber nur einen. Ich wandte mich dem halben Dutzend Hunde zu, die dem Abt nicht gefolgt waren und mich ansahen, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Sie waren allesamt hässlich wie die Sünde – Fellini-Hundestatisten: silbrige Glubschaugen, glänzend wunde Stellen, hier und da ein Bein zu wenig. Diese Hunde kamen in die Tempel, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Wie immer jedoch war der am unschuldigsten wirkende Verdächtige unweigerlich der Übeltäter. Reisbällchen hockte an der Ecke der Hütte, mit offensichtlicher Unschuldsmiene. Er saß auf meinem Flipflop wie auf einem Surfbrett und wollte ihn nicht kampflos aufgeben. Als ich danach griff, machte er sich aus dem Staub, mit meinem Flipflop zwischen den Zähnen.
Ich hüpfte ihm hinterher, um die Ecke herum, hinter die Hütte, in der die Nonne wohnte, und hielt auf die Rückseite einer anderen Hütte zu, von der ich ahnte, dass er dort seine Beute versteckte. Weit und breit war vom süßen, pummeligen Reisbällchen nichts zu sehen. Mir war nicht zum Spielen zumute. Ich überlegte schon, ob ich meinen Flipflop zurücklassen und ohne ihn nach Hause radeln sollte, aber hier ging es ums Prinzip. Ich hatte mal den Hundeflüsterer auf Animal Planet gesehen, als nichts anderes lief. Wenn Hunde dich für schwach halten, übernehmen sie sofort das Kommando über deine Welt. Ich hatte Horrorvisionen davon, wie sie Polizeisperren durchbrachen und das Regierungsgebäude besetzten. Ich musste der Revolution hier und jetzt Einhalt gebieten. Ich ging in Stellung für einen Liegestütz und spähte in den vierzig Zentimeter hohen Hohlraum unter dem Pfahlbau. Da war es finster, aber tatsächlich starrte mich ein schwarzes Auge aus dem Dunkel an, wie von einem bösen Panda. Der Welpe gab ein wenig überzeugendes, kindliches Knurren von sich, das mich nicht erschrecken konnte. Ich knurrte zurück. Ich robbte auf dem Bauch voran, und er wich mit meiner Sandale zurück. Robben, Rückzug. Robben, Rückzug. Je weiter ich kroch, desto dunkler wurde es, also holte ich mein Handy aus der Hosentasche und machte es an. Der Bildschirm gab ein warmes, blaues Licht von sich.
In dieser Swimmingpool-Beleuchtung sah ich
Reisbällchen in einer Ecke kauern. Er zitterte. Ich kam mir richtig
brutal vor. Wenn er weiter alles in sich hineinfraß, was ihm vor
die Schnauze kam, wog er bestimmt bald mehr als ich, aber im Moment
war er noch ein kleiner Bursche. Das Leben war nicht gut zu ihm
gewesen. Kaum sechs Monate auf dem Planeten, und schon schlief er
draußen in der Hunde-
hütte. Eingesperrt im Köterknast, in dem alle unartigen
Straßenhunde endeten, um dort langsam zu sterben. Ich beschloss,
ihn nicht mit meinem Flipflop zu verprügeln, sobald ich diesen
wieder in Händen hielt. Er hatte schon genug gelitten. Aber er war
immer noch einen Meter zu weit weg. Zum Glück trug ich Sachen, die
ich wegwerfen konnte, wenn ich nach Hause kam, denn ich musste
durch schmierigen Dreck kriechen, um zu ihm zu gelangen. Ich gab
dieses Schnalzen von mir, das Hunde angeblich beruhigen soll, aber
ich weigerte mich grundsätzlich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln,
wie Mair es getan hätte. Ich wusste, sobald ich an ihn herankommen
konnte und sein Ohr zu fassen bekam, wie die Nonne es getan hatte,
dann würde er auch seine Selbstachtung wiederfinden. Dann war ich
nah genug an meinem Schuh, doch das dicke Kind weigerte sich, ihn
aufzugeben. Ich lief mit den Fingern auf ihn zu, aber er schnappte
danach. Ich knurrte noch mal, und er zitterte. Eine klassische
Pattsituation.
Plötzlich lenkte mich ein kleines, schwarzes Ding links von mir ab. Ich schwenkte mein Handy, um es genauer anzusehen. Heureka und Helau! Es war ein Fotoapparat! Ein Stück vom Nikon-Logo war noch zu erkennen, fast abgenagt. Das Ding sah aus wie nach einer Haiattacke. Es schien mir etwas zu speziell für die normalen Leute in Pak Nam: mit langem Objektiv und Drehknöpfen und was weiß ich noch alles. Erhoffte ich mir zu viel, wenn ich mir wünschte, dass ich die verschwundene Tatortkamera entdeckt hatte? War es möglich, dass ein übergewichtiger Welpe die Kraft besaß, sie den ganzen Weg vom Betonpfad bis hierher zu zerren? Reisbällchen beantwortete die Frage selbst. Er ließ meinen Schuh los und sprang vor, um seine Kamera zu verteidigen. Er biss in das, was vom Gurt noch übrig war, und fing an, seine Beute von mir wegzuschleppen. Doch diese kleine Trophäe war mein, und – Welpe oder nicht – ich war bereit, mit ihm darum zu kämpfen.
»Ich weiß nicht. Sie klemmt oder so.«
»Du hättest sie der Polizei geben sollen.«
Ich schwor mir, wenn Arny das noch einmal sagte, würde ich ihn aus dem Wagen schubsen und selbst fahren.
»Das werde ich auch tun«, sagte ich zum wiederholten Male. »Sobald ich gesehen habe, was drauf ist.«
»Nein, ich meine, du hättest sie der Polizei geben sollen, gleich nachdem du sie gefunden hattest.«
Falls meine Mutter das Bemuttern je aufgeben würde, hatte ich immer noch einen Bruder, der für sie einspringen konnte. Wie war es nur möglich, dass drei Geschwister von derart unterschiedlichen Planeten kamen? Wir fuhren auf dem Highway 41 nach Surat. Die Straße verlief eintönig schnurgerade, und nur die immer wieder überraschenden Hubbel und Schlaglöcher hielten einen wach, was vermutlich auch der Grund war, weshalb sie nicht repariert wurden.
»Arny, hör zu«, sagte ich. Er fuhr, also hatte er keine Wahl. »Weiß die Polizei, dass ich die Kamera gefunden habe? Nein. Hat irgendwer sie als verloren gemeldet? Nein. Wenn ich sie denen morgen aushändige, wüssten sie dann, dass ich sie nicht eben erst gefunden habe? Wird sich der dickliche Welpe verplappern? Ich glaube kaum. Also, entspann dich.«
»Wir wissen es. Unser Gewissen weiß es.«
Ehrlich, wäre Lieutenant Chompu verfügbar gewesen, hätte ich ihn gebeten, mich zu fahren. Schließlich war es sein Fall. Aber er war zur Militärbasis in Prajuab unterwegs, wohin man die sterblichen Überreste gebracht hatte. Er wäre erst spät zurück. Ich brauchte Verstärkung, und da blieb nur Arny, aber bei langen Autofahrten kam er mir manchmal vor wie eine dieser Selbsthilfekassetten auf Endlosschleife.
Der Fotoapparat steckte in einer durchsichtigen Plastiktüte, und ich hatte alles ausprobiert, damit er mir die gespeicherten Fotos zeigte. Doch irgendwo während des Runterfallens und Rumschleppens und Zerbeißens und vermutlich auch einer ordentlichen Portion Speichel hatte das empfindliche Gerät seine Fähigkeit eingebüßt, Fotos anzuzeigen. Das Einzige, was ich zwischen den Bissspuren erkennen konnte, waren die Buchstaben DSLR und der Anfang einer Kennziffer – D3555. Die Kamera wirkte sehr teuer, stabil, aber relativ leicht. So ein Ding trugen normale Touristen nicht mit sich herum. Unser Fotograf bei der Mail hatte eine Canon, die so ähnlich aussah. Ich wollte Sissi bitten, sie mir herauszusuchen. Aber vorher wollte ich die Bilder sehen. Ich holte mein Notebook aus der Tasche und stellte es an. Ich konnte die Kamera nicht anstellen, aber ich konnte die Speicherkarte herausnehmen und in meinen Computer stecken.
»Arny«, sagte ich.
»Mmm?«
»Das Notebook.« Es stand aufgeklappt auf meinem Schoß, tot wie eine Qualle.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, log er. Nur meine Mutter lügt noch weniger überzeugend als mein Bruder.
»Gestern war es voll aufgeladen.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Er klappte zusammen wie ein Liegestuhl.
»Ich habe es nur für ein paar Minuten mit runter zum Strand genommen.«
»Ich hoffe, du hattest einen sehr guten Grund dafür.« Ich knirschte mit den Zähnen.
»Ich habe Musik gehört.«
»Du hast einen iPod.«
»Ja, aber das Notebook hat dieses Programm mit den psychedelischen Bildern, die sich zur Musik bewegen. Das ist sehr beruhigend.«
Ich zählte von hundert rückwärts, auf Portugiesisch.
»Und das Waschbecken hatte einen Sprung?«
»Mittendurch.«
»Nun, sehen Sie? In solch einer Situation würde der Kunde das beschädigte Waschbecken normalerweise herbringen, damit wir untersuchen können, ob der Sprung konstruktionsbedingt ist oder ob unverhältnismäßige Gewalt angewendet wurde.«
»Was für unverhältnismäßige Gewalt könnte man bei einem Waschbecken denn anwenden?«, fragte ich.
Er lächelte Arny mit leicht hochgezogener Augenbraue an. Er war Old School. Sein Jackett war etwas zu groß, und seine Krawattenwahl deutete darauf hin, dass er keine Frau zu Hause hatte, zumindest keine, die gut sehen konnte. Er hatte schwarz gefärbtes, gegeltes Haar, das sich an seinem Kragen zu einer kleinen Regenrinne kräuselte. Abgerundet wurde sein Look von einem bleistiftdünnen Oberlippenbärtchen.
»Ich muss Ihnen und Ihrer Frau sicher nicht erklären, was im Badezimmer manchmal unerwartet alles so passieren kann«, sagte er und zwinkerte.
Arny wusste nicht, was er meinte. »Vielleicht doch«, sagte er leicht tumb.
Wir hatten es mit unserer Waschbecken-Beschwerde als Vorwand am Servicetresen vorbei bis in Koon Boondejs Büro im »Home Art Building Accessoires Mega Store« geschafft. Wir hatten gehofft, den Exsträfling, Exmanager von Blissy Travel für uns allein zu haben, doch die Qualitätsmanagerin begleitete uns und wollte nicht verschwinden. Es schien, als dämmerte dem Manager, dass niemand auf seine Sex-auf-dem-Becken-Fantasie eingehen wollte.
»Es gibt tatsächlich Menschen, die sich aufs Waschbecken stellen, um die Decke zu streichen«, redete er sich heraus. Nicht sonderlich überzeugend.
»Und woher wollen Sie wissen, dass wir nicht auch auf dem Waschbecken gestanden haben?«
»Wir haben Experten, die so etwas feststellen können«, antwortete er, lächelte und sah die Qualitätsprüferin an. Vermutlich meinte er sie damit. Ich fand, dass es Zeit wurde, sie abzuschütteln.
»Sie haben also Ermittler?«, fragte ich.
»In gewisser Weise, ja«, sagte er.
»Sind das dieselben Leute, die die Qualifikationen potenzieller Mitarbeiter prüfen? Derjenigen, die sich um leitende Funktionen bewerben?«
Sein Lächeln schmolz an den Rändern, und seine dunkle Haut errötete malvenfarben.
»Wollen Sie … wollen Sie sich um einen Job bewerben?«, fragte er.
»Klingt verlockend«, sagte ich. »Frischvermählte zum Wasserhahnkauf zu überreden, war für mich schon immer ein Traumjob.«
»Dann kann ich das hier allein regeln«, erklärte er der Frau.
»Was ist mit dem Waschbecken?«, fragte sie.
»Wir wischen die Fußspuren ab und bringen es Ihnen, damit Sie es sich ansehen können«, sagte ich.
Als sie ging, warf sie ihrem Chef stirnrunzelnd einen Blick zu. Sie wollte seinen Job. Ich hatte denselben Blick auch selbst schon verwendet. Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde der Mann von einem nervösen Zucken befallen, das seine Haare entgelte, Strähne für Strähne.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Ich sorge mich um den Lebenswandel der Geschäftsführung hier bei Home Art.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Ein ganzes Bündel von Haaren fiel über das eine Auge und ließ eine kahle Stelle zurück.
»Nun, sagen wir einfach, irgendwann wurde jemand mit dem Namen Boondet mit einem ›t‹ mit jemand anderem mit dem Namen, mmh, sagen wir: Boondej mit einem ›j‹ verwechselt.«
Ich machte eine Pause, um das sacken zu lassen. Es schien, als wollte sich sein ganzes Gesicht neu ordnen. Ich hatte ihn am Wickel.
»Ich meine, könnten wir reinen Gewissens einen lustig blubbernden Whirlpool von einem verurteilten Mörder kaufen?«, fuhr ich fort.
Er stand auf und ging zur Tür, warf einen Blick hinaus, zuckte mit dem Kopf, schob die Hände in die Jackentasche.
»Wie viel wollen Sie?«
»Bitte?«
Ich merkte, wie Arny blass wurde.
»Ich weiß, was das hier werden soll«, sagte der Manager.
»Was denn?«
»Erpressung.«
Ich dachte darüber nach.
»In gewisser Weise haben Sie recht, ja«, sagte ich.
»Ich … ich habe gute Freunde«, sagte er.
Ich wusste, was er mir sagen wollte, aber echte Gangster hatten keinen Lohnjob bei Home Art.
»Nein, haben Sie nicht«, sagte ich. »Passen Sie auf, dass Ihre Fantasie nicht mit Ihnen durchgeht. Wir brauchen nur Informationen. Sie sagen uns, was wir wissen müssen, und Ihr Leben und Ihr Job sind Ihnen sicher. Wenn Sie uns anlügen, weiß ich nicht, ob ich Fang hier zurückhalten kann. Ich denke, Sie wissen, was ich meine.«
Arnys Hände lagen zitternd auf seinem Schoß. Vermutlich konnte man es als unterdrückte Aggression deuten.
»Wer sind Sie?«, fragte Boondej.
»Falsche Freunde«, sagte ich.
Ich wusste nicht mehr, aus welchem Film ich den Spruch hatte, aber er tat seine Wirkung.
»Was wollen Sie denn wissen?«, fragte der Manager. Er stand noch immer an der Tür. Ich fragte mich, ob er weglaufen wollte.
»Blissy Travel«, sagte ich.
Er machte ein überraschtes Gesicht.
»Was ist damit?«
»Sagen Sie es mir.«
Offenbar wusste er nicht, was er sagen sollte. Okay. Neuer Versuch.
»Sie waren dort Geschäftsführer.«
»Ja. Und?«
»Zu Ihnen kamen Pärchen, um Touren zu buchen?«
»Pärchen, Singles, Gruppen. Das ist doch normal, oder?«
»Ich weiß nicht. Ist es das?«
»Ja.«
Im Fernsehen sah es immer so viel einfacher aus. Man beantwortete jede Frage mit einer Gegenfrage, und schon verstrickte sich der Verdächtige in Widersprüche. Im nächsten Moment sang er wie ein Vögelchen. Arnys Wangen bekamen einen Stich ins Blassgrüne. Ich wusste nicht, wie lange mir noch blieb, bis er sich hinter dem Schreibtisch des Managers übergeben musste. Also kam ich zur Sache.
»Wie viele Pärchen haben Sie auf dem Gewissen, Koon Boondej?«
»Nur das eine.«
Ich bewunderte – wenn auch erstaunt – seine Ehrlichkeit.
»Hören Sie, ich habe meine Zeit abgesessen«, sagte er. »Ich habe hier ein neues Leben begonnen. Ich bin keine Gefahr mehr für die Gesellschaft. Können Sie nicht einfach …« Er sah Arny an. »Ist mit ihm alles in Ordnung?«
»Die Vorfreude auf Gewalt rührt ihn«, sagte ich.
Ich schob meinem Bruder den Papierkorb hin, und er verzog sich mit dem Korb auf die Geschäftsführertoilette.
»Nun, gut«, sagte ich. Plötzlich fühlte ich mich so verletzlich, aber ich blieb ganz ruhig, damit der Mann dachte, ich sei genauso gefährlich wie Fang. »Jetzt sind wir unter uns. Ich will die ganze Geschichte hören.«
»Sie sind von der Presse, nicht?«, sagte er.
Schon wieder erwischt.
»Ja.«
»Oh Scheiße.«
»Aber es geht nicht um Sie. Wenn Sie mich in die richtige Richtung lenken, müsste ich Ihren Namen nicht mal erwähnen.«
Also erzählte er mir von dem Pärchen, das er auf dem Gewissen hatte. Nachdem Blissy Travel den Bach runtergegangen war, hatte er Bootsfahrten rüber zu den Inseln angeboten. Zu den beliebtesten Ausflugszielen gehörten die Höhlen von Nok Nang Aen, mit den Vögeln, die ihre Nester aus dem eigenen Speichel bauten. Diese Fahrten waren feuchtfröhlich, und die meisten Touristen waren sturzbetrunken, wenn sie wieder zum Anleger kamen. Oft genug verpasste Boondej den Pier. Eines Tages fuhren sie zur Höhle hinaus, ankerten unweit der Insel im flachen Wasser. Die Gäste wateten in die Höhlen, machten Fotos, wateten wieder heraus und ließen sich weiter volllaufen. Boondej war an diesem Tag ein bisschen besoffener als sonst und verzählte sich. Ein Pärchen war tief in die Höhle gewatet, und er ließ sie dort zurück. Die Flut kam, und sie ertranken. Grobe Fahrlässigkeit. Der Mann war Sohn eines skandinavischen Diplomaten gewesen, sodass Boondej seine Zeit bis zur bitteren Neige absitzen musste.
Eigentlich hatte ich mir etwas Diabolischeres erhofft. Der Manager vom Home Art Mega Store klang nicht gerade wie ein Serienmörder. Daher lenkte ich das Thema auf VW-Busse.
»Ich hatte zwei«, sagte er stolz. »Ich war unten in Malaysia und habe sie gebraucht gekauft. Kaum gefahren. Damals waren das weit und breit die einzigen. Mit denen habe ich ein gutes Geschäft gemacht. Die Rucksacktouristen aus Europa waren ganz wild darauf. Und wenn die Hippies nach Thailand kamen, nahmen sie den Bus von Bangkok nach Ko Samui und kamen direkt an meinem Laden vorbei.«
Arny wirkte schon wieder etwas aufgehellter, als er ins Zimmer kam. Er stellte den Eimer weg und setzte sich vorsichtig hin.
»Fahren Sie fort«, sagte ich.
»Sie – ich meine die Busse – waren die meiste Zeit unterwegs. Sie kamen zurück, und – zack – schon am nächsten Tag stand ein neuer Interessent im Laden. Ich habe sie tageweise vermietet. Die Kunden haben sogar das Benzin bezahlt. Alle fuhren unweigerlich an der einen Küste rauf und an der anderen wieder runter. Mit Halt in Chumphon und Ranong und Phuket, bis runter nach Krabi. In den Mietkosten waren Reiseempfehlungen mit Namen von Pensionen und Ferienhotels enthalten. Aber in beiden Bullis lagen hinten Matratzen, sodass man Geld sparen konnte, wenn man wollte. Ich sage Ihnen, wenn ich diese Wagen irgendwie hätte halten können, wäre ich heute ein reicher Mann.«
»Was ist damit passiert?«
»Weg.«
»Wie?«
»Verschwunden, alle beide. Innerhalb einer Woche.«
»Haben Sie sie als gestohlen gemeldet?«
»Selbstverständlich. Es waren ja meine Goldesel. Ich habe immer die Ausweise der Kunden einbehalten und eine Kaution verlangt. Als die Busse weg waren, habe ich der Polizei die Ausweise gezeigt. Wissen Sie, was die zu mir gesagt haben? Fälschungen. Alles Fälschungen. Thais, ich kann Ihnen sagen … denen kann man nicht trauen. Ich hätte mich an die Ausländer halten sollen.«
»Die Busse waren von Thais gemietet worden?«
»Die Polizei meinte, im Süden wäre eine Autoschieberbande unterwegs, die Autos und Motorräder mit gefälschten Ausweisen mietete, um sie zu verkaufen. Ich bin nicht sicher, ob sie die Bande je gefasst haben, aber meine Bullis habe ich jedenfalls nicht zurückbekommen. Damit war das Mietgeschäft für mich beendet.«
»Und haben Sie vielleicht eine Ahnung, wieso einer Ihrer Busse auf einem Feld in Chumphon gefunden wurde, zwei Meter tief eingegraben?«
Boondej versuchte, die Locke zu ordnen, die mich schon die ganze Zeit störte. Er machte einen ehrlich überraschten Eindruck. »Scheiße. Darum geht es hier?«
»Ja.«
»Sie sind den ganzen Weg hierhergekommen, nur um mich zu fragen, warum einer meiner Bullis auf einem Feld begraben wurde?«
»Ja. Nun, hinzu kommt, dass darin zwei Menschen mitbegraben waren.«
Das warf ihn aus der Bahn.
»Verdammt. Weiß die Polizei von mir?«
»Noch nicht.«
»Die werden eins und eins …«
»Leider ja.«
»Genau wie Sie.«
»Ja.«
»Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin kein Verbrecher, aber wenn man vorbestraft ist, wird einem alles angehängt.«
»Dann sollten wir versuchen, dieses Problem zu lösen, bevor man Sie in die Mangel nimmt. Ich vermute mal, Sie erinnern sich nicht zufällig an die Leute, die Ihre Bullis gemietet haben, oder?«
»Die werde ich nie vergessen. Es waren zwei Pärchen, beide vom selben Schlag. Solche hatte ich schon öfter gesehen, junge Thai-Kids, die so taten, als wären sie Hippies aus dem Westen. Lange Haare. Fusselbärte. Angezogen wie Landstreicher, damit die Leute sie für Maler oder Musiker hielten. Stanken nach Patschuli. Als sie in den Laden kamen, sahen sie so abgerissen aus, dass ich dachte, sie wollten mich um Kleingeld für einen Becher Tee anschnorren. Dann händigten sie mir ein Geldbündel aus, um den Bulli zu mieten. Bei diesen Musikern weiß man nie, mit wem man es zu tun hat. Also musste man zu allen Pennern nett sein, für den Fall, dass sie reich waren. Es hätte mich misstrauisch machen sollen, dass die beiden Pärchen sich so ähnlich waren.«
»Und warum hat es das nicht?«
»Ich nahm an, dass das erste Pärchen mich seinen Freunden empfohlen hatte. Entweder das, oder irgendwo lief ein Hippie-Festival. Zwischen den beiden Vermietungen lagen nur wenige Tage. Natürlich ist man hinterher immer schlauer. Nein. Ich war nur gierig. Ich habe die Bullis an jeden vermietet, der sie bezahlen konnte.«
»Und die Ausweise, die sie Ihnen dagelassen hatten?«
»Wie gesagt, die waren gefälscht. Die Fotos waren um einiges vorzeigbarer als die Kids selbst, aber es bestand eine gewisse Ähnlichkeit.«
»Haben Sie sie aufbewahrt?«
»Nein, ich musste sie der Polizei aushändigen.«
»Hatten die Kids irgendwelche besonderen Merkmale?«
»Eigentlich nicht. Bärte. Die Mädchen behaarte Achseln. Nichts, was sich nicht mit Seife oder einer Rasierklinge beheben ließe.«
»Okay. Möglicherweise habe ich noch mehr Fragen, aber wenn … dann rufe ich Sie an.«
»Und Sie werden nicht …?«
»Koon Boondej, in meiner Branche lernt man unterschiedlich talentierte Lügner kennen. Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt. Sie scheinen mir ein Mann zu sein, den das System in die Unaufrichtigkeit gezwungen hat. Also, nein, ich werde niemandem von Ihnen erzählen.«
»Ich danke Ihnen. Das war alles?«
»Na ja. Eins noch. Ich wäre gern fünf Minuten allein mit Ihrem Computer, ohne dass Sie dabei sind.«
»Ich …«
»Ich will mir nicht Ihre Dateien ansehen. Ich muss nur ein paar Fotos öffnen. Aber die sind privat.«
Der Geschäftsführer stellte mir den Computer an und ging einigermaßen gelassen hinaus. Ich klickte die Speicherkarte aus dem Fotoapparat und schob sie an den Rand des Plastiktütchens, damit ich sie nicht mit den Fingern berühren musste. Ich steckte sie in den Home-Art-Computer und wartete darauf, dass er sie erkannte. Ich sah zu Arny hinüber. Er schmollte, hatte aber wieder Farbe im Gesicht.
Der Computer erkannte das externe Speichermedium und fragte mich, was ich damit vorhatte. Ich wollte die Bilder nicht auf dem Computer speichern, also öffnete ich sie mit ACDSee, um sie mir nur anzusehen. Ich klickte darauf.
»Verdammter …«
Es fühlte sich an, als hätte das Büro alle Atemluft aus mir herausgesogen. Mein Magen hing irgendwo oben bei den Neonröhren. Bis ich diese Bilder sah, hatte ich immer geglaubt, es gäbe keinen großen Unterschied zwischen einer simplen, digitalen Wegwerfkamera und einem Gerät der obersten Liga. Digital war digital. Aber jetzt weiß ich: Das war ein Irrtum. Ich war mittendrin in diesen Bildern, zwischen den 3-D-Schichten, und spürte das Entsetzen, als wäre ich selbst das Opfer. Ich schwöre, ich hörte die Fliegen summen und roch das Blut. Ich war gleichzeitig fasziniert und entsetzt von der grausamen Klarheit dieser Bilder.
»Arny«, sagte ich, »normalerweise würde ich dir solche Bilder nicht zeigen, aber für den Fall, dass irgendetwas schiefgeht, brauche ich dich hier als Zeugen. Aber ich warne dich, es wird dir nicht gefallen.«