Kapitel 14

»Als ich Politiker wurde, lebten wir in einer gefährlichen Welt, aber man wusste genau, wer sie waren. Es hieß wir gegen sie, und es war klar, wer sie waren. Heute sind wir nicht mehr so sicher, wer sie sind, aber wir wissen, dass sie da sind.«

George W. Bush, Iowa,

Western Community College, 21. Januar 2000

Sugit Suttirat, Exumweltminister, parkte seine rote Klischee-Corvette gegenüber vom Olympuss auf dem Platz, den man ihm mit zwei Plastikhockern frei gehalten hatte. Er betrachtete sich im Rückspiegel.

»Nicht übel. Gar nicht übel.«

Mancher mochte meinen, es läge an seinem gesellschaftlichen Ansehen, dass er bei den Mädchen so beliebt war, aber er wusste, dass es da auch einige gab, die ihn einfach unwiderstehlich fanden. Sie hatten es ihm selbst gesagt, sogar nachdem er ihnen das Geld schon ausgehändigt hatte. Frauen waren leicht zu durchschauen. Er piepte mit der Zentralverriegelung und sah sich an, wie seine Blinker ihm zwinkernd eine gute Nacht wünschten. Gegen zwei oder drei würden sie ihn wiedersehen, benebelt wie ein Schweinswal von Dieseldämpfen, sexuell befriedigt und sexuell befriedigend dank Ovariga. Ovariga wurde in Yunan, China, hergestellt und verpackt und war genauso wirkungsvoll wie Viagra. Wenn er am nächsten Morgen aufwachte, war er immer noch bereit. Manchmal musste er zwei Meetings mit seinen Notizen auf dem Schoß dasitzen.

Grandioses Zeug.

Er lief über die Straße. Die Lichter des Olympuss lockten rot und silbern. Die Mädchen saßen draußen auf einer Bank, sahen sich die vorüberfahrenden Autos an, ließen die kurzen Röckchen ihre Schenkel hinaufwandern, ihre Gesichter … Nun, wen interessierte schon, ob sie Gesichter hatten? Er stand auf der weißen Linie, um einen Lieferwagen von Milo-Schokomilch vorbeizulassen, aber dieser wurde immer langsamer und blieb dann mitten auf der Straße stehen. Er dachte schon, gleich würde der Fahrer die Scheibe herunterkurbeln und ihn nach dem Weg fragen, doch die Scheiben waren dunkel, und drinnen war niemand zu erkennen. Er fluchte und ging hinten um den Lieferwagen herum. Plötzlich wurde eine der hinteren Türen aufgestoßen und schlug ihm ins Gesicht. Er hörte, wie seine operierte Nase knackte und Blut über seine Lippen lief.

»Was zum …?«

Ich habe eher vage Erinnerungen an jenen Sonntag, an dem uns die Scheiße nur so um die Ohren flog, als rotiere ein Ventilator in einer Schüssel Mousse au Chocolat. Es begann um sechs Uhr früh, als Sissi anrief.

»Jimm, ich hab einen«, sagte sie.

Ich war noch ganz benebelt vom rumänischen Wein. Ich nahm mein Handy mit raus auf die Veranda und ließ mich auf einem der Rattanstühle nieder.

»Seit wann bist du wach, bevor die Sonne aufgeht?«, fragte ich.

»Nie«, sagte sie. »Ich war noch nicht im Bett. Ich hatte eine ziemlich heftige Nacht mit der Polizei.«

»Gab es Ärger?«

»Nicht mit der echten Polizei, Dummchen. Mit der von Police Beat. Die sind online auch ganz schöne Rüpel, das kann ich dir sagen. Ich hab richtig blaue Flecken.«

»Das glaube ich.«

Ich blickte am Strand entlang und sah eine dunkle Gestalt durch den Sand stapfen.

»Und ich habe einen Hut für dich gefunden«, sagte sie. »In Orange.«

»Okay, danke. Mail ihn mir.«

»Hör mal, könntest du dir vielleicht eine runterhauen oder irgendwas? Wenn du aus dem Bett kommst, bist du aufnahmetechnisch total gestört. Ich spreche hier von einem Fall. Einem ungeklärten Mord.«

»Na gut. Und wurde das Opfer erstochen?«

»Nein.«

»Hat das Opfer was mit Religion zu tun?«

»Nein.«

Das bisschen Begeisterung, das ich aufbringen konnte, war schon wieder auf dem Weg ins Bett.

»Thailand?«

»Guam.«

Man hätte mir eine Landkarte und eine Million Baht geben können, und trotzdem hätte ich nicht sagen können, wo Guam lag. Und es hätte mich auch einen Waranenfurz interessiert.

»Die Verbindung ist also ein orangefarbener Hut?«

»Meinst du, du könntest deinen Zynismus etwas runterdimmen? Ich war die ganze Nacht wach, auf der Suche nach diesem Scheißhut.«

Ich hatte die Bestie losgelassen, da sollte ich ihr vielleicht wenigstens bis zum Ende zuhören.

»Okay. Tut mir leid.«

»Toshi.«

»Gesundheit.«

»Mein japanischer Detektiv. Schwarzer Judogürtel. Olympiamedaille und osteuropäischen Frauen zugetan.«

Ach, wie süß. Zwei virtuelle Menschen hatten einander gefunden.

»Er hat auf meine Suchanfrage ›ungeklärter Mord – unpassender Hut‹ geantwortet. Sein Englisch war fürchterlich, aber das hat er mit seinem Enthusiasmus ausgeglichen. Er meinte, es war sein rätselhaftester Fall. Eine japanische Firma baute auf Guam ein Zwei-Millionen-Yen-Hotel.«

»Umgerechnet etwa fünfzig Dollar.«

»Okay, ich weiß nicht, vielleicht auch zweihundert Milliarden Yen – ein sehr teures Hotel, zwanzig Stockwerke, entworfen von einem berühmten Architekten. Einer der japanischen Poliere, der die lokalen Bauarbeiter anleiten soll, fällt vom Dach des fast fertigen Hotels, direkt in den leeren Swimmingpool. Ein Unfall, wie alle annehmen, bis der Gerichtsmediziner eine kleinkalibrige Kugel im unteren Rückenbereich findet.«

Langsam wurde ich ungeduldig. Die Gestalt am Strand war unverkennbar meine Mutter in ihrem Ninja-Kostüm.

»Kommt demnächst der unpassende Hut?«, fragte ich.

»Das war das Verwirrende. Etwas, das niemand erklären konnte. Du kennst die Japse mit ihren Anzügen, in denen alle gleich aussehen. Die Baufirma hatte ihre eigene, sehr auffällige Uniform: leuchtend grüne Overalls mit weißen Helmen. Kein modischer Schnickschnack. Keinerlei Individualität. Sie waren Japaner, und alle waren sie an diesem Morgen gemeinsam mit dem Bus gekommen. Doch als der Vorarbeiter in den Pool fiel, trug er einen Helm in grellem Orange. Und weißt du, wieso?«

»Rebellion?«

»Jemand hatte seinen Helm leuchtend orange angesprüht, während er ihn noch trug.«

»Er hat es nicht selbst gemacht?«

»Die Farbe war in seinen Augen und um den Hals. Keine Spur von einer Dose. Der Sprayer hat sie mitgenommen. Und der Mörder wurde nie gefunden.«

Es war seltsam und irrelevant, und ich war genervt, weil ich so früh geweckt worden war und mir das alles anhören musste.

»Das ist super, Sis. Danke.«

»Du klingst nicht gerade begeistert.«

»Doch, bin ich. Aber auch müde. Lass uns an der Sache mit dem Hut dranbleiben. Gute Arbeit. Hör zu, hier warten schon alle sehnlichst aufs Frühstück. Ich muss auflegen. Wir reden später.«

Schlechter Anfang für den Tag: verkatert, langes, blödes Telefonat, Mutter führt nichts Gutes im Schilde. Es konnte nur besser werden.

Tat es nicht.

Vor dem Küchenblock saß ein kleiner Mann auf einem sehr alten Motorrad. Er wog so wenig, dass vermutlich nur sein dicker, goldener Helm verhinderte, dass er während der Fahrt aus dem Sattel geweht wurde. In der Hand hielt er einen braunen Umschlag.

»Sind Sie Koon Jum?«, fragte er.

»Jimm.«

»Ist wahrscheinlich trotzdem richtig.«

Er reichte mir den Umschlag und fuhr wieder los. Ich war nicht geistesgegenwärtig genug, ihn zu fragen, woher er kam und warum er zu derart unmenschlicher Uhrzeit hierhergefahren war, um etwas abzugeben. Als ich meine Fragen in Worte gefasst hatte, war er schon weg. Auf dem Umschlag standen tatsächlich die Worte »Koon Jum, Lovely Resort« mit dickem Filzer. Ich setzte den Kessel auf, um Wasser heiß zu machen, dann öffnete ich den Umschlag. Er enthielt schlichte, schwarz-weiße Wahlwerbung. Vorn war ein Bild von einem grinsenden Kandidaten mit einer großen Rosette auf der Brust. Das Flugblatt war sehr alt, das Papier löste sich beinah am Knick. Hätte der Name nicht darauf gestanden, hätte ich den Mann niemals erkannt. Es war das entschieden jüngere, unbearbeitete Gesicht von Tan Sugit neben der großen, handschriftlichen Ziffer Drei. Solche Dinger verteilten Wahlhelfer persönlich in den Dörfern.

»Hier hast du zwanzig Baht. Das ist die Nummer, die du wählst. Wenn du es nicht tust, merken wir es und kommen wieder.«

Das Einzige, was sich seit damals verändert hatte, war der Preis für eine Stimme. Heutzutage konnte man bis zu fünfhundert Baht dafür bekommen. Ich drehte den Zettel um, und auf der Rückseite standen in krakeliger Handschrift die Worte: »Fragen Sie seine Tochter nach dem VW.« Es war mit wässriger Tinte geschrieben, die an den Rändern braun getrocknet war. Ich war wirklich nicht in der Stimmung für Geheimnistuerei.

Das Frühstück fiel schlicht aus. Unsere Gäste hatten es aufgegeben und waren früh abgereist, um irgendwo anders zu essen. Wir konnten das nicht. Wir waren gefangen. In den meisten Familien machte sich jeder selbst was, wenn sie zwischen Bett und Arbeit hin- und herhetzten: Reisporridge, schnell einen chinesischen Donut, irgendwelches Trockenfleisch, ein Plastikbeutel warme Sojamilch für unterwegs. Doch Mair bestand darauf, dass wir alle gemeinsam frühstückten, dass wir an einem unserer Tische saßen und miteinander »redeten«. Bisher war der Ansatz nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Meist beugten wir uns morgens nur über unsere Teller und futterten uns für den Tag voll. An diesem jammervollen Sonntag allerdings hatte Arny etwas bekannt zu geben.

»Ich habe eine Freundin«, sagte er, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Wir glotzten ihn alle an, die Löffel und Gabeln auf halbem Weg erstarrt, manche voll auf dem Weg nach oben, manche leer auf dem Weg nach unten, aber alle starr. Seit vielen Jahren hatten wir auf eine solche Erklärung gewartet. Wir hatten ihn ermutigt. Ich hatte ihm in der Schule Mädchen vorgestellt. Doch als er dann dreißig wurde, waren wir zu dem Schluss gekommen, dass eher Amerika einen afroamerikanischen Präsidenten bekam als Arny eine Freundin. Insgeheim hatten wir alle angenommen, dass er etwas von Sissi in sich hatte, was er zu unterdrücken versuchte. Ich gab unserem abwesenden Vater die Schuld für seinen Mangel an männlichen Hormonen. Wir hatten es allesamt aufgegeben.

Mair ließ ihren Löffel sinken, sprang von ihrem Stuhl auf und schlang die Arme um ihren Jüngsten.

»Oh, mein Junge«, sagte sie. »Ich bin so froh für dich. Gut gemacht. Gut gemacht.«

Mir reichte es, über den Tisch zu langen und ihm die Hand zu schütteln. Ich war nach wie vor misstrauisch. Opa Jah sah aus wie Gevatter Tod persönlich und glotzte ihn ungläubig an.

»Schöne Sache, Nong«, sagte ich. »Wer ist die Unglückliche?«

Mair kehrte mit feucht glänzendem Gesicht zu ihrem Platz zurück.

»Sei nicht so gemein«, sagte sie. »Wie heißt die junge Dame, Kleiner?«

»Gaew«, sagte er und strahlte noch immer vor Stolz.

»Und was macht sie?«

»Früher war sie Bodybuilderin. Ich hab sie im Kraftraum in Bang Ga kennengelernt. Sie drückt noch Gewichte, macht aber keine Wettbewerbe mehr. Wer hätte das gedacht? Eine kleine, hölzerne Sporthütte auf dem Lande, und ich finde jemanden wie Gaew. Ich habe sie gleich von den Fotos wiedererkannt.«

»Was für Fotos, Junge?«, fragte Mair.

»In Body Thai

»Sie war in einer Zeitschrift abgebildet?«

»Nicht nur abgebildet. Es gab regelmäßige Artikel über sie. Auch international. Sie war eine Berühmtheit.«

»Und sie wohnt in Bang Ga?«, fragte ich. Noch war ich nicht im Gänsehaut-Stadium, aber ich spürte deutlich das Prickeln einer dunklen Ahnung.

»Auch Prominente sind irgendwo geboren«, rief Arny mir in Erinnerung. »Ihre ganze Familie lebt hier. Ich war schon bei ihr zu Hause. Alles voller Preise. Alles voller Fotos. Es war wie ein Museum. Alles, was ich mir je erträumt habe. Sie hat mir beim Mittagessen alle ihre Geschichten erzählt.«

»Du hast also mit ihr gegessen?«, fragte Mair.

»Zweimal schon. Gestern habe ich sie nach Lang Suan ausgeführt. Wir haben viel geredet. Als wir zu ihr nach Hause kamen, war keiner da. Fast hätten wir Sex gehabt.«

Opa ließ seinen Donut fallen. Mair lachte laut auf.

»Arny«, sagte ich erstaunt. »Wir sind hier beim Essen. Und du wolltest doch das große J erst verlieren, wenn du das große L gefunden hast, oder?«

»Oh Jimm, wirklich! Das ist es ja gerade!«, sagte er. »Das Herz bleibt stehen und alles. Ich weiß, dass sie die Richtige ist. Ich will sie fragen, ob sie mich heiratet.«

»Ach Kleiner«, sagte Mair. »Du bist inzwischen ein großer Junge, aber es gibt keinen Grund zur Eile. Glaub mir. Wie lange kennst du sie denn schon?«

»Drei Tage.«

»Drei Tage, okay. Wenn es also nach drei Tagen schon Liebe ist, dann ist es das auch noch nach drei Monaten. Keiner von uns sollte überstürzt Verpflichtungen eingehen. Ich freue mich, wirklich. Aber Leidenschaft ist wie ein Ei. Man muss warten, bis es ausgebrütet ist, bevor man sagen kann, ob es Huhn oder Hahn wird.«

Mair kannte sich mit Redensarten aus.

»Und wie denkt Gaew darüber?«

»Sie empfindet genauso. Sie sagt, in dem Moment, als sie mich gesehen hat, hat es ›klick‹ gemacht. Genauso ging es mir auch. ›Klick.‹ Sie meinte, so wäre es ihr nicht mehr ergangen, seit sie ihren ersten Mann kennengelernt hat. Sie meinte, es ist ein seltenes Gefühl, fast unmöglich zu wiederholen, aber so war es.«

Die Welt schien stehen zu bleiben.

»Ihr erster Mann?«, fragte Mair.

»Er hat sie zum Bodybuilding gebracht. Er war selbst eine Ikone. Dom, Mick’s Gym, Purachart. Er hat zweimal den Asien-Titel gewonnen. Bestimmt erinnert ihr euch an ihn. Sein Poster hing an meiner Wand, als ich damals anfing.«

»Du hast angefangen, als du vierzehn warst«, gab ich zu bedenken.

»Ja. Stimmt«, Arny nickte. »Das ist schon eine Weile her, was?«

Vor mir lag ein weites, metaphorisches Feld, gespickt mit metaphorischen Landminen. Ich hätte vorsichtig vorgehen und auf Zehenspitzen drumherum schleichen können, aber ich wusste, wir steuerten – egal, was ich tat – auf einen hässlichen Knall zu.

»Nong?«, fragte ich. »Wie alt ist deine Freundin?«

»Achtundfünfzig.«

Es lag weder Scham noch Verlegenheit in seiner Stimme. Er sagte es stolz und laut. Es schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen, welche Auswirkungen eine solche Äußerung auf seine siebenundfünfzigjährige Mutter haben würde. Mair klammerte sich an ihr Titanic-Lächeln, brachte aber kein Wort hervor. Sie wischte ihren Mund mit einem Papiertuch ab, stand auf und ging auf wackligen Beinen zum Laden. Arny sah ihr hinterher, mit aufrichtigem Lächeln im Gesicht.

»Sieht so aus, als wäre Mair deswegen genauso aufgeregt wie ich«, sagte er.

Das darauf folgende Schweigen wurde vom Plärren einer Mopedhupe unterbrochen. Ed fuhr vorbei und winkte. Hinter ihm saß ein attraktives Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie lächelte mich an und legte ihre Hand aufs Herz. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, und es war kaum sieben Uhr.

Lieutenant Chompu kam gegen acht. Ich hatte ihm von der Nachricht erzählt, die bei mir abgegeben worden war. Opa Jah und ich stiegen in seinen Wagen, und wir ließen Maprao hinter uns. Da Endorphine, die schnulzige Balladenqueen, gurrte im CD-Player. Selbstverständlich war ich das kleine Mädchen auf der Rückbank. Chompu las die Nachricht, drehte den Zettel um und betrachtete die Wahlwerbung.

»Irgendeine Ahnung, welches Jahr das gewesen sein mag?«, fragte ich.

»Siebziger, der Krawatte und den Koteletten nach zu urteilen«, sagte Opa. »Wahrscheinlich sein erster Versuch, sich in ein öffentliches Amt zu quatschen.«

»Aber wieso hat man das an mich geschickt?«, fragte ich. »Wer weiß, dass ich mit dem Fall zu tun habe?«

»Sie meinen, abgesehen von ganz Lang Suan, zweiundsiebzig Prozent der Provinz und ungefähr der Hälfte der thailändischen Bevölkerung?«, fragte Chompu.

»Na gut, ja«, räumte ich ein. »Aber warum schickt man es mir und nicht Ihnen?«

»Weil der Polizei niemand über den Weg traut«, sagte Opa nüchtern.

»Das stimmt«, sagte Chompu, »aber angesichts der gestrigen Ereignisse sollte es mich nicht wundern, wenn diese Nachricht zu einer Geschichte gehören würde, die … weitere Kreise zieht.«

Mir fiel auf, dass Chompu gern dramatische Pausen machte, vermutlich, damit er sie später hübsch mit Musik unterlegen konnte.

»Was ist denn gestern passiert?«, fragte ich.

»Natürlich steht es mir nicht frei, Ihnen Einzelheiten zu laufenden Ermittlungen anzuvertrauen, aber wenn es unbedingt sein muss, könnte ich Ihnen unter Umständen erzählen, dass man Ihren Tan Sugit heute früh auf dem Bahnhof von Lang Suan nackt mit Handschellen an eine Bank gefesselt aufgefunden hat.«

»Tot?«

»Hören Sie auf. Die können doch nicht alle gleich tot sein. Wir haben eine Quote: drei Leichen pro Jahrzehnt. Nein, er war grün und blau geprügelt und von irgendeiner Droge benebelt, und auf seinem Bauch standen mit Tierblut die Worte sa som – ›zu Recht‹. Aber er war am Leben und schämte sich in Grund und Boden. Der Polizei von Lang Suan hat er erklärt, er sei Opfer eines terroristischen Anschlags geworden. Sie hätten gedroht, ihn umzubringen, aber er hätte an das Mitgefühl der Kidnapper appellieren können – angeblich hat er das in den vielen Jahren der Verhandlungen mit den Aufständischen im Süden gelernt –, und deshalb hätten sie ihn freigelassen.«

»Aber nackt an eine Bank gekettet«, hob ich hervor.

»Eine symbolische Geste. Ein kleiner Sieg.«

»Was hat er gesagt, worauf sie es abgesehen hatten?«

»Er meinte, er sei möglicherweise im Besitz sensibler Dokumente zur neuen Strategie der Regierung im Umgang mit muslimischen Separatisten.«

»Schwachsinn«, sagte Opa.

»Aber Sie glauben, es hat etwas mit der Nachricht zu tun, die ich bekommen habe?«, fragte ich.

»Solche Zufälle gibt es nur im Fernsehen.«

Wir bogen auf den Highway nach Norden ein.

»Wissen Sie irgendwas davon, dass Sugit eine Tochter hat?«, fragte ich.

»Ja. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ihr im Haus begegnet sind.«

»Das dicke Mädchen? Er hat sie eher wie eine Dienstmagd behandelt.«

»Soweit ich gehört habe, lebt sie seit einigen Monaten bei ihm. Ich denke, es ist wichtig, dass wir rausfinden, was sie weiß.«

»Wenn wir also glauben, dass die Tochter der Schlüssel zur Lösung des Falles ist, wieso entfernen wir uns dann von Lang Suan?«

»Nun, es steht mir nicht frei, et cetera bla, bla, aber möglicherweise ist mir gestern ein kleiner Fehler unterlaufen. Nach unserem ausgesprochen netten Mittagessen habe ich mich mal um Sugits heftige Reaktion auf das böse Tantchen Chainawat gekümmert. Ich war neugierig, was er eigentlich gegen sie hat. Deshalb bin ich rüber nach Ranong gefahren.«

»Und jetzt fürchten Sie, Ihr Besuch könnte der Grund für Sugits Entführung gewesen sein. Sie befürchten, Sie haben einen chinesischen Mafiakrieg zwischen den gefährlichsten Clans des Südens ausgelöst, und demnächst verwandelt sich unsere ganze Region in ein blutiges Schlachtfeld.«

»Ganz so dramatisch würde ich es nicht formulieren, aber ja, möglicherweise habe ich angedeutet, dass Sugit die Familie Chainawat nicht unbedingt in allerhöchsten Tönen lobt.«

»Also fahren wir jetzt als Team dahin, um diese Leute der Folter und Entführung zu beschuldigen.«

»Nein, Sie fahren als unschuldige, junge Dame mit Ihrem alten, aber höchst kompetenten Großvater dahin. Ich werde einige Blocks Abstand halten. Ich kann mich dort nicht mehr blicken lassen, für den Fall, dass ich mit der Fehde richtigliegen sollte. Sie waren zufällig in der Nähe, und es war so nett bei Ihrem letzten Besuch, dass Sie dachten, Sie sagen einfach kurz Hallo. Sie sollen nur mal vorfühlen, ob diese Leute irgendwas mit gestern Nacht zu tun haben.«

»Und warum sollten wir das tun?«

»Weil Sie beide genauso neugierig sind wie ich.«

»Und was ist, wenn wir recht haben und diese Leute uns in ihren Keller schleppen und in kleine Stücke hacken?«

»Es wäre der beste Beweis dafür, dass sie nichts Gutes im Schilde führen. Nach meiner Beförderung könnte ich dann zu Ihrer Beerdigung meine neuen Abzeichen tragen und echte Kugeln in die Luft schießen. Ist es zu fassen, dass ich außerhalb vom Schießstand noch nie echte Munition verschossen habe? Eine Schande. Ich bin ein richtig guter Schütze.«

Opa kauerte auf dem Beifahrersitz und grinste wie ein Krokodil. Er war begeistert. Es war, als finge sein Leben noch mal richtig an. Und ich? Ich fragte mich, ob wir mittags wohl noch am Leben sein würden.

»Meine Mutter möchte wissen, warum sie auf Ihre Fragen antworten sollte.«

Das Gesicht des Sohnes war noch bezaubernder als bei meinem letzten Besuch, doch er brachte sein Lächeln weniger großzügig zum Einsatz. Wir saßen am selben Kaffeetisch, vermutlich vor denselben unangetasteten Früchten und Erdnuss-Snacks. Ohne einen uniformierten Polizisten an unserer Seite war es um die Geduld der alten Dame allerdings nicht gut bestellt. Es hatte sehr lange gedauert, bis sie uns eine Audienz gewährte, und ich merkte schon, dass sie nicht lange bleiben würde. Meine Frage war ganz einfach gewesen: »Kennen Sie Koon Sugit Suttirat?«

Angesichts drohender Folterung und Ausweidung nahm ich mir dringend vor, den Weg der Diplomatie nicht zu verlassen. Opa Jah jedoch hielt direkt auf den Dschungel zu.

»Weil Sugit sagt, Ihre Familie sei so korrupt wie ein birmanischer General«, sagte er. »Der Presse gegenüber hat er geäußert, man könne Ihnen nicht trauen, und nur Stunden später wurde er entführt und so schlimm misshandelt, dass sein Leben am seidenen Faden hing. Damit stehen Sie ganz oben auf der Liste der Verdächtigen.«

Es war faszinierend. Irgendwie bewunderte ich meinen Opa und hätte ihm gleichzeitig am liebsten eine stumpfe Machete über den Schädel gezogen. Der Sohn fing an zu übersetzen, aber Opa unterbrach ihn.

»Genug davon«, sagte er. »Die alte Hexe lebt seit vierzig Jahren in diesem Land. Sie versteht alles, was gesagt wird, stimmt’s nicht, meine Liebe? Ja. Ich habe diese inszenierten Übersetzungsdramen schon so oft gesehen, dass es fürs nächste Leben reicht. Sie täuschen niemanden. Es macht Sie noch lange nicht zu irgendwem. Sie sind nur eine Ausländerin unter vielen, nicht wichtiger und nicht unwichtiger als die Tagelöhnerinnen, die Sie da draußen beschäftigen.«

Es folgten mehrere Sekunden frostigen Schweigens.

»Ich wichtiger als Birmane«, fauchte die alte Frau in abgehacktem Thai. »Wichtiger als du, alter Mann. Wer bist du?«

»Meine Sache«, sagte er.

Das war’s. Das war der Moment, in dem in die Hände geklatscht wird, die Kulis mit Messern zwischen den Zähnen hereinkommen und uns runter in den Kerker schleppen. Ganz toll, Opa. Ich hielt die Luft an. Aber es passierte nichts. Starr funkelte sie meinen Opa an, bis ein hässliches Betelnussgrinsen ihren kleinen Mund in die Breite zog. Fast sah es aus, als flirte sie.

»Sugit ist Scheißkerl«, sagte sie. »Ich möchte brechen sein Gesicht. Ich reiche Hand den Entführern. Schade, er nicht tot, alter Sugit.« Eine Pause, um ihre Erregung zu bändigen, dann: »Aber nicht ich.«

Und aus unerfindlichem Grunde glaubte ich ihr. Ich mochte sie nicht. Ich traute ihr nicht. Aber ich glaubte ihr. Nachdem ihr Vorrat an thailändischer Sprache aufgebraucht war, ging sie wieder dazu über, mithilfe ihres Sohnes zu kommunizieren, der allerdings nicht mehr übersetzen musste, was wir sagten. Sie verstand jedes Wort. Sie hatte eine Menge finstere Geschichten zu Landverkäufen und Geschäftemacherei zu erzählen. Wenn sie von Siegen über Sugit berichtete, lächelte sie und spuckte einmal sogar Betel auf den Boden, als sie von seiner Unaufrichtigkeit erzählte. Ich sah es als Revierkampf zwischen zwei alten thai-chinesischen Gangsterclans. Beide hatten sie in modernen Zeiten ein gewisses Ansehen erlangt, aber im Grunde waren sie alle Halunken. Mir war kein Lager lieber als das andere, aber ich sah auch keine Verbindung zwischen dieser Rivalität und dem kleinen Flecken Land weit hinten auf Old Mels Plantage. Ich wagte es, noch mal danach zu fragen, wieso sie dieses kleine Stückchen Land verkauft hatte. Diesmal fiel die Antwort anders aus, und die Alte antwortete persönlich.

»Wer macht Verbindung von Zukunft und Vergangenheit, versteht vielleicht Gegenwart«, sagte sie.

Es klang wie ein Glückskeks. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Vermutlich war es etwas zutiefst Chinesisches, das ich nie begreifen würde. Im Polizeiwagen auf dem Rückweg versuchten Opa Jah und ich, uns an jedes noch so kleine Detail unseres Gesprächs zu erinnern. Glaubten wir ihr? Wie sollten wir das beurteilen? Aber … nein, nicht so ganz, nicht vollkommen. Hatte sie Sugit entführen lassen? Ich glaubte nicht daran. Ihr abschließendes Rätsel blieb irgendwie bei mir hängen, und das war auch ganz gut so.