KAPITEL 57
Harold Ramsey lehnte sich im Sessel zurück. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst. »Ich hätte mir nie träumen lassen, daß so etwas hier je passieren könnte.«
McKenna und Chandler saßen in Ramseys Büro. McKenna beobachtete den Obersten Richter genau. Für einen Moment schienen sie Blickkontakt herzustellen; dann schaute McKenna zur Seite und sah statt dessen zu Chandler hinüber.
»Nun ja«, sagte Chandler, »wir haben keine handfesten Beweise, ob Michael Fiske nun einen Berufungsantrag gestohlen hat oder nicht. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob es so einen Antrag überhaupt gab.«
Ramsey schüttelte verneinend den Kopf. »Kann es nach dem Gespräch mit Sara Evans noch den geringsten Zweifel daran geben?«
Gespräch? Es war wohl eher eine Inquisition gewesen, ging es Chandler durch den Kopf. »Trotzdem ist es Spekulation. Und ich rate davon ab, sich mit dieser Information an die Öffentlichkeit zu wenden.«
»Ich gebe Detective Chandler recht«, sagte McKenna. »Das könnte die Ermittlungen behindern.«
»Ich dachte, Sie wären überzeugt, daß John Fiske hinter alledem steckt«, erwiderte Ramsey. »Falls Sie Ihre Meinung geändert haben, sind wir jetzt wohl noch keinen Schritt weiter als vor zwei Tagen.«
»Mordfälle klären sich nicht einfach von allein auf. Und der Fall, mit dem wir es hier zu tun haben, ist komplizierter als die meisten anderen. Außerdem habe ich nie behauptet, meine Meinung geändert zu haben«, erklärte McKenna. »Fiskes Pistole ist aus seinem Büro verschwunden. Das war keine große Überraschung für mich. Keine Angst, die Teile des Puzzles werden sich schon zusammenfügen.«
Ramsey schien nicht davon überzeugt zu sein.
»Es kann doch nicht schaden, wenn wir noch ein wenig abwarten«, meinte Chandler. »Und wenn sich alles so ergibt, wie wir es uns erhoffen, braucht die Öffentlichkeit vielleicht nie davon zu erfahren.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie das möglich sein sollte«, sagte Ramsey wütend. »Aber diese Katastrophe kann wohl kaum noch schlimmer werden, wenn wir Ihren Rat befolgen. Vorerst. Was ist mit Fiske und Evans? Wo sind sie?«
»Wir lassen sie beschatten«, erwiderte McKenna.
»Dann wissen Sie also, wo die beiden sich im Augenblick befinden?« fragte Ramsey.
Der Ausdruck auf McKennas Gesicht änderte sich nicht. Er würde nicht eingestehen, daß es sowohl Sara als auch Fiske gelungen war, sich der Beschattung zu entziehen. McKenna hatte die Nachricht unmittelbar vor Beginn dieser Besprechung erhalten.
»Ja«, sagte er.
»Und wo sind sie zur Zeit?« fragte Ramsey.
»Diese Information darf ich Ihnen leider nicht geben, Chief Justice. So gern ich es tun würde«, fügte er rasch hinzu. »Aber das ist streng vertraulich.«
Ramsey betrachtete ihn düster. »Agent McKenna, Sie haben versprochen, das Gericht über die Fortschritte bei den Ermittlungen in diesem Fall auf dem laufenden zu halten.«
»Ja. Deshalb bin ich hier.«
»Das Gericht verfügt über eine eigene Polizeitruppe. Chief Dellasandro und Ron Klaus sind in diesem Augenblick damit beschäftigt, den Fall endlich aufzuklären. Wir führen unsere eigene Ermittlung durch, und es liegt in unser aller Interesse, daß wir uns vorbehaltlos austauschen. Und nun beantworten Sie bitte meine Frage. Wo sind Fiske und Evans?«
»Ihre Ausführungen sind logisch, Chief Justice, aber ich befürchte, ich darf Ihnen diese Information trotzdem nicht geben«, erwiderte McKenna. »Die grundsätzliche Vorgehensweise des FBI, Sie verstehen.«
Ramsey runzelte die Stirn.
»Dann werde ich mich wohl an eine andere Stelle im FBI wenden müssen«, sagte er. »Ich bin nicht besonders versessen darauf, jemanden zu übergehen, Agent McKenna, aber außergewöhnliche Umstände rechtfertigen außergewöhnliche Maßnahmen.«
»Ich gebe Ihnen gern die Namen und Telefonnummern der Personen, die Sie anrufen können, angefangen beim FBI-Direktor persönlich«, bot McKenna freundlich an.
»Haben Sie mir irgend etwas mitzuteilen, das wirklich von Bedeutung ist?« fragte Ramsey trocken. »Oder war’s das?«
McKenna erhob sich. »Wir setzen alles daran, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und ich bin überzeugt, daß es uns mit ein bißchen Glück gelingen wird.«
Ramsey stand ebenfalls auf. Er überragte seine beiden Gesprächspartner. »Noch ein guter Rat, Agent McKenna. Überlassen Sie nie etwas dem Glück. Wer das tut, bedauert es später meistens.«
Sara schloß die Tür ihres Cottages auf und eilte hinein. Sie hatte unterwegs vergeblich versucht, Fiske per Autotelefon zu Hause und in seinem Büro zu erreichen. Sie hatte sogar mit Ed Fiske telefoniert, aber auch der hatte nichts von seinem Sohn gehört. Sara ließ die Handtasche auf den Küchentisch fallen, ging nach oben, schlüpfte aus ihren nassen Sachen und zog Jeans und ein T-Shirt an. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, war ratlos, hilflos, der Panik nahe. Du lieber Himmel! Dellasandro war in die Sache verwickelt, was schlimm genug war, denn er war über den Stand der Ermittlungen genau informiert. Aber daß FBI-Agent Warren McKenna ebenfalls beteiligt war, kam möglicherweise einer Katastrophe gleich. McKenna leitete praktisch die verdammte Ermittlung! Nun erkannte Sara, auf welche Weise dieser Mann zu jedem Zeitpunkt die Fäden in der Hand gehalten und die weitere Entwicklung manipuliert hatte. McKenna hatte Fiske belastet und sie selbst gezwungen, beim Gericht zu kündigen - und das alles nur, um John ein Motiv für den Mord an seinem Bruder unterzu schieben. McKennas Anschuldigungen waren an den Haaren herbeigezogen, und doch hörte alles sich völlig logisch an, wenn man lediglich die reinen Fakten betrachtete.
Sara versuchte, Chandler in seinem Büro zu erreichen. Sie wollte genau wissen, ob Agent McKenna in Fort Plessy stationiert gewesen war oder es sich nur um eine andere Person gleichen Namens gehandelt hatte. Sie glaubte nicht an einen solchen Zufall, mußte aber völlige Gewißheit haben. Sara fluchte leise, als auch Chandler nicht abhob. Wen konnte sie noch anrufen? Wer konnte ihr diese Information verschaffen? Jansen vielleicht, aber der würde bestimmt eine ganze Weile dafür brauchen. Plötzlich fiel Sara die Lösung ein. Sie wählte die Nummer. Nach dreimaligem Klingeln hob eine Frau ab. Es war die Haushälterin.
»Ist er da? Hier spricht Sara Evans.«
Kurz darauf kam Jordan Knight an den Apparat. »Sara?«
»Ich weiß, es ist ein sehr unpassender Zeitpunkt, Senator ...«
»Ich habe gehört, was heute passiert ist.« Sein Ton war kalt.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken. Und ich fürchte, es wird Ihre Meinung nicht ändern, egal was ich Ihnen jetzt sage.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht. Doch was immer davon zu halten ist, Beth tut die Sache schrecklich leid. Sie hat Sie bis zuletzt unterstützt.«
»Und ich bin Ihrer Frau sehr dankbar dafür, aber ...« Sara bemühte sich, ihre Nerven im Zaum zu halten. Jetzt zählte jede Sekunde. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«
»Einen Gefallen?« Jordans Stimme klang verblüfft.
»Eine Information über eine bestimmte Person.«
»Das halte ich für höchst unpassend, Sara.« »Ich werde Sie nie wieder anrufen, Senator, aber ich benötige diese Information dringend, sehr dringend, und in Anbetracht Ihrer Verbindungen und Ihrer Möglichkeiten sind Sie der einzige Mensch, den ich darum bitten könnte. Senator? Um der alten Zeiten willen.«
Jordan dachte kurz darüber nach. »Tja, Sara, ich bin nun mal nicht in meinem Büro. Eigentlich wollte ich gerade mit Beth zu Abend essen.«
»Aber Sie könnten doch in Ihrem Büro anrufen, oder vielleicht beim FBI.«
»Beim FBI?« sagte er laut.
Sara sprach rasch weiter. »Mehr als ein Anruf ist nicht erforderlich. Ich bin zu Hause. Die Person, bei der Sie sich erkundigen, könnte mich direkt zurückrufen. Dann müßten Sie nicht mehr mit mir sprechen.«
Schließlich gab Jordan nach. »Na schön, was wollen Sie wissen?«
»Es geht um Agent McKenna.«
»Was ist mit ihm?«
»Ich muß wissen, ob er in der Army gedient hat. Genauer gesagt, in den siebziger Jahren in Fort Plessy.«
»Warum, in aller Welt, interessiert Sie das?«
»Senator, es würde viel zu lange dauern, um Ihnen das zu erklären.«
Er seufzte. »Also gut. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Ich lasse es von einem Mitarbeiter meines Büros nachprüfen. Er wird Sie dann anrufen. Sie sind zu Hause?«
»Ja.«
»Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Sara.«
»Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben, Senator, aber ich weiß es sehr wohl.«
»Wenn Sie es sagen«, erwiderte er. Er klang nicht gerade überzeugt.
Als Jordan Knight nach etwa fünfzehn Minuten wieder ins
Eßzimmer kam, blickte Elizabeth zu ihm auf. »Was in aller Welt hat Sara denn gewollt?«
»Es ist wirklich seltsam. Du kennst doch diesen FBI-Agenten? Den Mann, über den du dich beklagt hast?«
Elizabeth setzte sich auf. »Warren McKenna? Was ist mit ihm?«
»Sara wollte wissen, ob er in der Army gedient hat.«
Elizabeth Knight ließ ihre Gabel fallen.
Jordan musterte sie neugierig. Er hatte ihre Anspannung bemerkt. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht es gut. Es war nur ein furchtbarer Tag.«
»Ich weiß, Schatz, ich weiß«, sagte er tröstend und blickte auf sein kaltes Abendessen hinunter. »Ich glaube, unser gemütlicher Abend ist soeben den Bach runtergerauscht.«
»Was hast du Sara gesagt?«
»Was ich ihr gesagt habe? Daß ich es überprüfe. Und daß sich jemand bei ihr melden wird. Ich habe in meinem Büro angerufen. Sie können vielleicht per Computer ermitteln, ob McKenna in der Army war.«
»Wo ist Sara?«
»Zu Hause. Sie wartet darauf, daß mein Mitarbeiter sie zurückruft.«
Elizabeth stand auf. Sie war kreidebleich geworden.
»Du lieber Gott. Beth, was ist denn mit dir?«
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Ich brauche ein Aspirin.«
»Ich werde es dir holen.«
»Nein, nein, ich gehe schon selbst. Setz dich jetzt erst mal und iß. Vielleicht können wir uns doch noch einen entspannenden Abend machen.«
Ein besorgt dreinschauender Jordan Knight blickte seiner Frau nach, die über den Flur ging. Elizabeth hatte mit einem Mal tatsächlich höllische Kopfschmerzen und brauchte wirklich ein Aspirin. Im Bad löste sie eine Tablette in Wasser auf und trank das Glas aus; dann schlüpfte sie durch die Diele ins Schlafzimmer, nahm den Telefonhörer von der Gabel und wählte eine Nummer.
»Hallo?« sagte die Stimme.
»Sara Evans hat gerade angerufen. Sie hat Jordan um eine Auskunft gebeten.«
»Um was für eine?«
»Sie wollte wissen, ob Sie je in der Army waren.«
Warren McKenna lockerte seine Krawatte und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf seinem Schreibtisch. Er war gerade vom Gespräch mit Ramsey und Chandler im Gericht zurückgekommen. »Und was hat er ihr gesagt?«
»Daß er es überprüft und sich bei ihr meldet.« Elizabeth bemühte sich, die Tränen zurückzudrängen.
McKenna nickte schwach. »Wo ist sie?«
»Zu Hause, hat sie Jordan gesagt.«
»Und John Fiske?«
»Das weiß ich nicht. Das hat sie offenbar nicht erwähnt.«
McKenna griff nach seinem Mantel. »Danke für die Information, Richterin Knight. Vielleicht erweist sie sich als wertvoller als eine Ihrer Urteilsbegründungen.«
Elizabeth Knight legte den Hörer langsam auf und hob ihn dann wieder ab. Sie konnte es nicht einfach dabei bewenden lassen. Sie rief die Auskunft an und bekam die gewünschte Nummer. Die Telefonzentrale nahm ihren Anruf entgegen. »Detective Chandler, bitte. Sagen Sie ihm, Richterin Elizabeth Knight möchte ihn sprechen, und daß es dringend ist.«
Chandler meldete sich. »Was kann ich für Sie tun, Frau Richterin?«
»Bitte fragen Sie mich nicht, woher ich es weiß, Detective Chandler, aber Sie müssen sofort zu Sara Evans fahren. Sie ist zu Hause, und ich glaube, Sie schwebt in Lebensgefahr. Bitte beeilen Sie sich!«
Chandler verschwendete keine Zeit mit Fragen. Er legte auf und stürmte aus seinem Büro.
Elizabeth Knight ließ den Hörer langsam auf die Gabel sinken. Sie hatte damit gerechnet, daß die Arbeit beim Obersten Gericht immensen Druck mit sich brachte, aber das hier . Sie wußte, daß ihr Leben zerstört war, ganz gleich, wie die Sache ausging. Für sie gab es keine Rettung mehr, keinen Ausweg. Was für eine Ironie, dachte sie, daß mich letzten Endes die Gerechtigkeit vernichten wird.
Der Mann trug dunkle Kleidung und hatte sich eine Skimaske übers Gesicht gezogen. Er war Sara zuerst nach Richmond gefolgt; dann auch auf ihrem Rückweg nach Washington, als sie von Fiske und den FBI-Agenten begleitet wurde. Er war aufrichtig dankbar, daß Sara die FBI-Agenten abgeschüttelt hatte; das vereinfachte seine Aufgabe beträchtlich. Er ging in die Hocke, schlich zum Wagen und öffnete die Fahrertür. Die Innenbeleuchtung flammte auf, und der Mann drehte schnell an dem Rädchen, um das Licht zu dämpfen. Er blickte zum Haus hinüber. Sara ging gerade hinter einem der Fenster vorbei, schaute aber nicht hinaus. Der Mann zog eine kleine Taschenlampe hervor und ließ den Strahl durch das Wageninnere gleiten. Er sah die Papiere auf dem Boden, warf einen Blick auf die Unterlagen und bemerkte den mit Kugelschreiber eingekreisten Namen. Er sammelte die Akten ein und steckte sie in einen Rucksack, den er umgeschnallt hatte. Dann zog er eine Pistole aus dem Halfter und schraubte einen Schalldämpfer auf die Mündung. Als er wieder zum Haus blickte, war Sara hinter dem Fenster verschwunden. Aber der Mann wußte, sie war dort. Allein. Er knipste die Taschenlampe aus und ging zum Haus.
Sara schritt nervös in der Küche auf und ab, blickte ständig auf die Uhr und wartete auf den Anruf von Jordan Knights Büro. Dann trat sie auf die hintere Veranda und beobachtete, wie ein Düsenflugzeug unter dem Baldachin aus dunklen Wolken hinwegglitt. Sie schaute hinunter zu ihrem Segelboot, das gegen die Gummireifen stieß, die sie als Puffer zwischen dem glatten Fiberglas und dem rauhen Holz der Anlegestelle angebracht hatte. Als sie an die letzte Nacht dachte, legte sich unwillkürlich ein Lächeln auf ihre Lippen. Doch es verblich, als sie sich daran erinnerte, was sie und Fiske nach ihrer Begegnung im Altenheim besprochen hatten. Sie drückte die nackten Zehen gegen das feuchte Holz und genoß es für einen Augenblick, die beruhigenden Gerüche der nassen ländlichen Umgebung einzuatmen.
Sara ging wieder ins Haus, stieg die Treppe hinauf, blieb an der Schwelle des Schlafzimmers stehen und schaute hinein. Das Bett war noch immer nicht gemacht. Sie setzte sich auf die Matratze, nahm eine Ecke des Lakens in die Hand und dachte wieder an die vergangene Nacht zurück und daran, wie Fiske sein T-Shirt heruntergezogen hatte. Die Narbe verlief vom Bauchnabel bis zum Hals, hatte Ed gesagt. Als würde diese Narbe irgendeine Rolle für sie spielen. Und doch ging Fiske offensichtlich davon aus.
Sara hörte, wie ein weiterer Jet über das Haus hinwegdonnerte; dann kehrte wieder Stille ein. Eine so tiefe Stille, daß Sara deutlich hörte, wie die Hintertür des Hauses geöffnet wurde. Sie sprang auf und lief zur Treppe. »John?« Niemand antwortete, und als unten das Licht erlosch, rieselte kalte Furcht ihr Rückgrat hinunter. Sara rannte ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Ihre Brust hob sich, der Pulsschlag dröhnte in ihren Ohren. Verzweifelt schaute sie sich nach einer Waffe um, denn eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Das Fenster war klein, doch selbst, wenn sie hindurchschlüpfen könnte, befand es sich im zweiten Stock, ein paar Meter über dem Betonboden, und es erschien Sara nicht ratsam, sich bei einem Sprung beide Beine zu brechen.
Ihre Verzweiflung verwandelte sich in Panik, als sie die Schritte hörte. Sie verfluchte sich, weil sie im Schlafzimmer kein Telefon hatte anbringen lassen. Sie hielt den Atem an, als sie sah, wie der Türknopf sich langsam drehte, bis das Schloß ihm Einhalt gebot. Doch Schloß und Tür waren alt, sehr alt. Als ein wuchtiger Schlag gegen das Türblatt krachte, sprang Sara instinktiv zurück. Ein leiser Schrei kam über ihre Lippen. Gehetzt schaute sie sich um. Ihr Blick fiel auf das Himmelbett. Sie lief hinüber, riß eine der ananasförmigen Verzierungen von einem Bettpfosten ab. Gott sei Dank war sie nie dazu gekommen, das Bett mit einem Himmel versehen zu lassen. Die Verzierung bestand aus massivem Holz und war mindestens ein Pfund schwer.
Rasch lief Sara zur Tür zurück und hob die Hand mit dem Holzstück. Ein weiterer Schlag traf von außen das Türblatt; Holz splitterte, und das Schloß verbog sich unter der Wucht des Hiebes. Sara streckte den Arm aus, schloß die Tür blitzschnell auf und sprang wieder zurück. Jetzt, da die Tür nicht mehr verriegelt war, flog sie beim nächsten Schlag auf, und der Mann wurde vom eigenen Schwung in den Raum getragen. Saras Arm fuhr herab, und das Holzstück traf sein Ziel. Der Mann brach stöhnend zusammen und hielt sich die Schulter.
Sara wußte, daß Rayfield und Tremaine tot waren. Also mußte es sich bei dem Unbekannten, den sie gerade niedergeschlagen hatte, entweder um Dellasandro handeln oder - Sara schauderte bei dem Gedanken, daß dieser Mann in ihrem Haus war - um Warren McKenna. Sie stürmte die Treppe hinunter, nahm immer mehrere Stufen auf einmal, schnappte sich die Wagenschlüssel von Tisch, riß die Haustür auf - und stieß einen entsetzten Schrei aus.
Der zweite Mann blickte Sara ruhig und kühl an. Dann richtete Leo Dellasandro eine Pistole auf sie und trat einen Schritt vor. Der Mann in Schwarz kam die Treppe hinunter; er hielt sich die Schulter, richtete aber ebenfalls eine Pistole auf Sara. Sie schaute zu dem Mann hinter ihr. Es mußte McKenna sein.
Aber dann runzelte sie die Stirn. Der FBI-Agent war wesentlich größer.
Der Mann nahm die Skimaske ab, und Richard Perkins starrte sie an. Dann lächelte er über Saras offensichtliches Erstaunen und holte einige Papiere aus seinem Rucksack. »Sie müssen meinen Namen auf dem Dienstplan von Fort Plessy übersehen haben, Sara. Wie nachlässig von Ihnen.«
Sie funkelte ihn wütend an. »Der Marshal des Obersten Gerichtshofs und sein Polizeichef ... Beteiligte an einem verabscheuungswürdigen Verbrechen.«
»Harms hat dieses Mädchen getötet, nicht ich«, sagte Dellasandro.
»Haben Sie sich das eingeredet, Leo? Nicht Rufus hat das Mädchen getötet, sondern Sie. Als hätten Sie ihr die Hände selbst um den Hals gelegt.«
Dellasandro verzog wütend das Gesicht. »Dieses Arschloch. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich ihn mit Blei und nicht mit einer Droge vollgepumpt. Er war eine Schande für die Uniform.«
»Er war Dyslektiker!« schrie Sara ihn an. »Er hat seine Befehle nicht befolgt, weil er sie nicht verstehen konnte, Sie Idiot! Sie haben sein Leben und das dieses Mädchens umsonst zerstört.«
Auf Dellasandros Gesicht erschien ein schiefes Grinsen. »So sehe ich das aber nicht. Überhaupt nicht. Harms hat bekommen, was er verdient.«
»Was macht Ihr Gesicht, Leo? John hat Sie ja richtig schön erwischt. Übrigens weiß er alles.«
»Dann werden wir ihm wohl auch einen Besuch abstatten müssen.«
»Sie, Vic Tremaine und Frank Rayfield?«
»Da haben Sie verdammt recht«, sagte Chief Dellasandro schnaubend.
»Ihre Komplizen sind tot.« Sara lächelte, während Dellasandros Lächeln verblich. »Sie haben Rufus und seinen Bruder in einen Hinterhalt gelockt, konnten den Job aber nicht zu Ende bringen. Genau wie beim letztenmal«, fügte sie spöttisch hinzu.
»Dann muß ich es diesmal für die anderen mit erledigen.«
Sara musterte ihn von oben bis unten und schüttelte schließlich angewidert den Kopf. »Verraten Sie mir eins, Leo. Wie konnte eine Ratte wie Sie jemals Polizeichef werden?«
Er versetzte ihr eine Ohrfeige und hätte sie noch einmal geschlagen, hätte Perkins ihn nicht daran gehindert. »Wir haben keine Zeit für so einen Scheiß, Leo.« Er packte Sara an der Schulter.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Perkins blickte Dellasandro an. »Fiske?« Dann schaute er zu Sara. »Fiske ist bei Harms, nicht wahr? Deshalb mußten Sie sich trennen, stimmt’s?« Als das Telefon erneut klingelte, wandte Sara den Blick ab. Perkins hielt ihr die Pistole unter das Kinn und krümmte den Finger um den Abzug. »Ich frage Sie noch einmal. Ist Fiske bei Rufus Harms?« Er drückte ihr die Waffe fester unters Kinn. »Ich schwöre Ihnen, in zwei Sekunden haben Sie keinen Kopf mehr. Raus mit der Sprache!«
»Ja! Ja, er ist bei ihm«, stieß Sara erstickt hervor, als das Metall gegen ihre Luftröhre drückte.
Perkins schob sie zum Telefon. »Gehen Sie ran. Wenn es Fiske ist, KAPITEL 58verabreden Sie sich irgendwo mit ihm. Hier in der Nähe, aber ein abgelegener Ort. Sagen Sie ihm, Sie hätten noch etwas Wichtiges herausgefunden. Wenn Sie ihn auf irgendeine Weise warnen, sind Sie tot.«
Sara zögerte.
»Nun machen Sie schon! Oder wollen Sie unbedingt sterben?«
Sara erkannte jetzt, daß der sonst so sanftmütige Perkins in Wirklichkeit der gefährlichere der beiden Männer war. Langsam griff sie nach dem Telefon. Perkins trat dicht neben sie, um jedes Wort mithören zu können, und drückte ihr die Pistole
an die Schläfe. Sara atmete tief ein, zwang sich, die Panik aus ihrer Stimme zu halten.
»Hallo?«
»Sara?« Es war Fiske.
»Ich habe überall versucht, dich zu erreichen.«
»Ich weiß. Ich habe gerade meinen Anrufbeantworter abgehört. Rufus ist bei mir.«
Perkins verstärkte den Druck der Waffe an Saras Schläfe. »Wo seid ihr?« fragte sie.
»Auf halbem Weg nach Washington. Auf einem Rastplatz.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Es wird Zeit, daß wir Chandler informieren. Rufus und ich sind uns einig.«
Perkins schüttelte den Kopf und wies auf das Telefon. »Ich halte das für keine so gute Idee, John.«
»Warum nicht?«
»Ich . ich habe einiges herausgefunden, das du wissen solltest. Bevor du dich an Chandler wendest.«
»Was denn?«
»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen. Es könnte abgehört werden.«
»Jetzt mach aber ’nen Punkt, Sara. Das bezweifle ich stark.«
»Weißt du was, John. Gib mir einfach die Nummer des Apparats, von dem du anrufst, und ich rufe dich vom Auto aus zurück.« Sie schaute Perkins an. »Wir könnten uns irgendwo treffen und anschließend zu Chandler fahren. Das FBI kennt das Nummernschild des Wagens, in dem ihr sitzt. Du mußt ihn sowieso loswerden.«
Fiske gab ihr die Nummer durch. Sara schrieb sie auf den Notizblock neben dem Telefon und riß die oberste Seite ab.
»Und du kannst es mir ganz bestimmt nicht am Telefon sagen?«
»Ich habe mit deinem Freund beim JAG gesprochen«, erwiderte Sara und sprach ein stummes Gebet, daß Fiske jetzt richtig reagieren und nichts Falsches sagen würde. Sonst war sie tot. Sie mußte ihm vertrauen. »Darnell Jackson hat mir von den PCP-Versuchen berichtet.«
Fiske runzelte die Stirn und blickte zu Rufus hinüber, der im Wagen saß. Langsam senkte die Dunkelheit sich über die Raststätte. Darnell Jackson. »Auf Darnell ist nun mal Verlaß«, antwortete Fiske rasch.
Sara atmete unhörbar aus. »Ich rufe dich in fünf Minuten zurück.« Sie legte auf und schaute die beiden Männer an.
Perkins grinste boshaft. »Gut gemacht, Sara. Und jetzt fahren wir zu Ihren Freunden.«