KAPITEL 41

Als Fiske und Sara das Foyer betraten, wurden sie freundlich von Senator Knight begrüßt. Sie sahen, daß die Gäste die wirtschaftliche und politische Elite Washingtons repräsentierten.

»Schön, daß Sie kommen konnten, John«, sagte Jordan Knight und schüttelte ihm die Hand. »Sara, Sie sehen wie immer blendend aus.« Er umarmte sie, und sie küßten einander auf die Wangen.

Fiske betrachtete Sara verstohlen. Sie hatte sich umgezogen, trug nun kein schlichtes Kostüm mehr, sondern ein leichtes Sommerkleid in sanften Pastelltönen, die auf angenehme Weise die Sonnenbräune ihrer Haut hervorhoben. Der Knoten im Haar war verschwunden, es schwang reizvoll um ihr Gesicht.

Sara bemerkte, daß John sie musterte. Rasch wandte er verlegen den Blick ab und ließ sich von einem der Kellner einen Drink reichen. Sara und Jordan Knight folgten seinem Beispiel.

Jordan schaute sich um. Auch er schien sich ein wenig unbehaglich zu fühlen. »Ich weiß, es ist ein scheußlicher Zeitpunkt für so einen Empfang«, sagte er und musterte Sara dabei genau. »Beth empfindet genauso, auch wenn sie es nicht eingestehen will.«

Na klar doch, dachte Fiske.

Jordan deutete mit seinem Glas auf einen älteren Mann in einem Rollstuhl. »Kenneth Wilkinson bleibt leider nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt«, fuhr er leise fort. »Aber er ist ein zäher Bursche, und vielleicht legt er uns alle herein. Auf jeden Fall hatte er ein langes und ausgefülltes Leben. Ich kann mich glücklich schätzen, ihn gekannt zu haben.«

»Hat er Sie nicht mit Ihrer Frau bekannt gemacht?«

»Schon deshalb habe ich ihm sehr viel zu verdanken.«

Fiske beobachtete, wie Elizabeth Knight sich selbstsicher wie eine erfahrene Politikerin durchs Zimmer bewegte, lächelnd und plaudernd. Wieder schaute er sich um, konnte aber weder Ramsey noch Murphy ausmachen und fragte sich, ob die beiden sich von dem Empfang fernhielten. Er stellte fest, daß mehrere der anderen Richter einen nervösen, unbehaglichen Eindruck machten - es war die Furcht, ein Verrückter könnte es auf einen der ihren abgesehen haben.

Fiskes Blick glitt über Richard Perkins, der sich im Hintergrund hielt. Überall standen bewaffnete Wachen. Fiske wußte, das heiße Thema dieses Abends waren die beiden ermordeten Assessoren. Er kniff die Augen zusammen, als er Warren McKenna erblickte, der wie ein Haifisch auf der Suche nach einem Appetithäppchen durch die Menge pflügte.

»Sie beide bilden ein phantastisches Team«, sagte Sara.

Jordan Knight stieß mit ihr an. »Das glaube ich auch.«

»Hat Ihre Frau je in Betracht gezogen, für ein politisches Amt zu kandidieren?« fragte Fiske.

»John, sie ist Richterin am Obersten Gerichtshof!« rief Sara. »Das ist eine Ernennung auf Lebenszeit.«

Fiske hielt den Blick auf Jordan Knight gerichtet. »Es wäre aber nicht das erste Mal, daß jemand das Gericht verläßt, um einem anderen Job nachzugehen, oder?«

Jordan blickte ihn scharf an. »Nein, keineswegs, John. Im Lauf der Jahre haben Beth und ich schon mehrmals darüber gesprochen, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich werde dem Senat nicht ewig angehören. In New Mexico besitze ich eine Ranch von siebentausend Morgen. Ich könnte mir gut vorstellen, daß ich mich bis zum Ende meiner Tage darum kümmere.«

»Und Ihre Frau übernimmt Ihren Job, damit er in der Familie bleibt, und wird Senatorin von Virginia?«

»Ich habe mir nie angemaßt, Vermutungen über die Pläne meiner Frau anzustellen. Diese Unkenntnis bringt zusätzliche Frische und Belebung in unsere Ehe, was ich unglaublich erregend finde.« Er lächelte über seine Bemerkung, und Fiske ertappte sich, daß er ebenfalls lächelte.

Sara wollte ihr Glas heben, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. »Dürfte ich mal telefonieren, Senator?«

»Benutzen Sie das Telefon in meinem Arbeitszimmer, Sara. Da sind Sie ungestört.«

Sie warf Fiske einen Blick zu, sagte aber nichts. »Eine erstaunliche junge Frau«, sagte Jordan Knight, nachdem Sara gegangen war.

»Da möchte ich Ihnen nicht widersprechen«, sagte Fiske.

»Da sie als Assessorin für Beth arbeitet, kenne ich sie ganz gut. Ich war für sie beinahe so etwas wie eine Vaterfigur, könnte man fast sagen. Ihr steht eine brillante Zukunft bevor.«

»Nun ja, in Ihrer Frau hat sie ein blendendes Vorbild.« Fiske wäre beinahe an seinem Drink erstickt, als er diese Worte sagte.

»Da haben Sie vollkommen recht. Beth macht keine halben Sachen.«

Fiske dachte kurz über diese Bemerkung nach. »Ich weiß, Ihre Frau ist eine Draufgängerin, aber vielleicht sollte sie es ein bißchen ruhiger angehen lassen, bis die Morde an den Assessoren aufgeklärt sind. Sie wollen einem Verrückten doch bestimmt keine weitere Zielscheibe präsentieren.«

Jordan Knight betrachtete Fiske kurz über den Rand seines Glases hinweg. »Glauben Sie wirklich, auch die Richter könnten in Gefahr sein?«

Fiske glaubte es eigentlich nicht, aber das würde er Knight nicht verraten. Er wollte nicht, daß irgend jemand in seiner Wachsamkeit nachließ. Immerhin war es ja möglich, daß er und Sara mit ihren Schlußfolgerungen falsch lagen.

»Drücken wir es mal so aus, Senator. Falls Ihrer Frau etwas zustößt, wird niemand etwas darum geben, was ich glaube.«

Jordan Knight erbleichte ein wenig. »Ich verstehe, was Sie meinen.«

Fiske bemerkte, daß mehrere andere Gäste darauf warteten, mit dem Senator sprechen zu können. »Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Machen Sie weiterhin so gute Arbeit.«

»Danke, John, das habe ich vor.«

Senator Knight wandte sich den anderen Gästen zu. Er mußte sich nicht die Mühe machen, durch den Raum zu streifen, um mit einzelnen Personen zu sprechen. Seine Frau hatte wahrscheinlich schon alle wichtigen Gäste begrüßt.

In Jordan Knights Arbeitszimmer wählte Sara ihre Privatnummer, um den Anrufbeantworter abzuhören, was sie zu Hause versäumt hatte. Sie hoffte verzweifelt, etwas von George Barker zu hören, dem Zeitungsherausgeber aus Rufus Harms’ Heimatstadt. Ihre Hoffnung wurde erfüllt, als sie die tiefe Stimme des alten Mannes hörte, die sich ein wenig zerknirscht anhörte.

Sara riß einen Zettel vom Notizblock auf dem Schreibtisch ab und schrieb den Namen von Harms’ ehemaligem Anwalt auf: Samuel Rider. George Barker hatte ihr nur den Namen durchgegeben; offensichtlich enthielten seine Akten nach fünfundzwanzig Jahren keine weiteren Informationen. Sie mußte so schnell wie möglich die Adresse und Telefonnummer der Kanzlei dieses Rider herausfinden. Der Zufall kam ihr zu Hilfe: Auf dem Regal auf der anderen Seite des Zimmers stand ein Exemplar des neuesten Martindale-Hubbell, des offiziellen Branchenverzeichnisses ihrer Profession, das angeblich Namen, Kanzleiadresse und Telefonnummer jeden Anwalts enthielt, der in den Vereinigten Staaten praktizieren durfte. Das Nachschlagewerk war in Bundesstaaten und Bezirke unterteilt. Sara beschloß, es zuerst mit Virginia zu versuchen. Als sie den Index dieses Bundesstaates durchsah, wurden ihre Bemühungen belohnt. Sie stieß auf den Namen Samuel Rider, blätterte zu der angegebenen Seite und fand dort eine Kurzbiographie des Mannes. Rider war Anfang der siebziger Jahre beim JAG gewesen. Das mußte der Mann sein.

Sara rief unter der angegebenen Nummer an, doch niemand ging ans Telefon. Sie versuchte, sich von der Auskunft Riders Privatnummer geben zu lassen, doch die war nicht eingetragen. Enttäuscht und ratlos legte Sara auf. Sie mußte unbedingt mit diesem Mann sprechen. Sie dachte kurz nach. Die Zeit war knapp, also gab es nur eine Möglichkeit. Auf dem Schreibtisch lag ein Telefonbuch, in dem Sara eine Nummer nachschlug. Nach wenigen Minuten hatte sie alles arrangiert. Sie und Fiske mußten noch eine Zeitlang auf dem Empfang bleiben. Mit ein bißchen Glück würden sie aber morgen früh wieder zurück sein.

Als Sara zu den anderen Gästen zurückkehren wollte und die Tür des Arbeitszimmers öffnete, stand Elizabeth Knight vor ihr.

»Jordan hat mir gesagt, daß Sie vielleicht hier sind.«

»Ich mußte telefonieren.«

»Verstehe.«

»Tja, dann will ich mal wieder zur Party zurück.«

»Sara, ich muß kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

Elizabeth Knight bedeutete ihr, zurück ins Arbeitszimmer zu gehen, und schloß dann die Tür hinter ihnen. Die Richterin trug ein schlichtes weißes Kleid mit einem geschmackvollen Saphirkollier und hatte kaum Make-up aufgelegt. Das weiße Kleid ließ ihre Haut noch blasser erscheinen. Doch sie trug das Haar offen; die dunklen Strähnen sahen auf dem weißen Stoff des Kleides wunderschön aus. Wenn sie sich die Mühe macht, ging es Sara durch den Kopf, kann Elizabeth Knight eine attraktive Frau sein. Offensichtlich wählte sie solche Anlässe mit großer Sorgfalt aus. Im Moment jedoch schien Elizabeth Knight sich sehr unbehaglich zu fühlen.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Sara.

»Ich mische mich nicht gern in das Privatleben meiner Mitarbeiter ein, Sara, wirklich nicht, aber wenn der Ruf des Gerichts auf dem Spiel steht, halte ich es für meine Pflicht, mich dazu zu äußern.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe .«

Elizabeth Knight sammelte kurz ihre Gedanken. Seit ihr klar geworden war, daß sie - wenn auch unwissentlich - Steven Wright zum Tode verurteilt hatte, lagen ihre Nerven bloß. Am liebsten hätte sie auf jemanden eingeschlagen, um ihrem hilflosen Zorn Luft zu machen, mochte es noch so verrückt und ungerecht sein. Es war völlig untypisch für sie, aber sie hatte sich über Sara Evans geärgert. Und ihr lag etwas an der jungen Assessorin. Und deshalb würde Sara den Zorn der Richterin zu spüren bekommen. »Sie sind eine sehr kluge Frau. Eine sehr attraktive und kluge junge Frau.«

»Ich befürchte, ich verstehe noch immer nicht .«

Der Tonfall Elizabeth Knights veränderte sich. »Ich spreche von Ihnen und John Fiske. Richard Perkins hat mir mitgeteilt, daß er gesehen hat, wie Sie und Fiske heute morgen zusammen Ihr Haus verlassen haben.«

»Richterin Knight, bei allem gebührenden Respekt, das ist meine Angelegenheit.«

»Es ist mit Sicherheit mehr als Ihre persönliche Angelegenheit, Sara, wenn es ein schlechtes Licht auf das Gericht wirft.«

»Inwiefern? Das verstehe ich nicht.«

»Dann will ich versuchen, es Ihnen zu verdeutlichen. Glauben Sie nicht, daß es dem Ansehen des Gerichts schaden würde, wenn bekannt wird, daß eine der Assessorinnen mit dem Bruder ihres ermordeten Kollegen schläft - und das einen Tag, nachdem der Mord entdeckt wurde?«

»Ich habe nicht mit ihm geschlafen«, sagte Sara energisch.

»Darauf kommt es gar nicht an. Die öffentliche Meinung wird mehr vom Schein als vom Sein bestimmt, besonders in dieser Stadt. Was glauben Sie, wie die Schlagzeile lauten würde, wenn ein Zeitungsreporter gesehen hätte, wie Sie und Fiske heute morgen Ihr Haus verlassen haben? Selbst wenn der Reporter nur seine tatsächlichen Beobachtungen wiedergegeben hätte ... was glauben Sie, wie die Leser seiner Zeitung den

Artikel aufnehmen würden, auch wenn es sich dabei um bloße Fakten gehandelt hätte?« Als Sara nicht antwortete, fuhr Elizabeth Knight fort: »Zur Zeit können wir keine zusätzlichen Komplikationen gebrauchen, Sara. Wir haben schon mehr als genug, mit denen wir uns befassen müssen.«

»Das habe ich wohl nicht richtig durchdacht.«

»Aber genau das müssen Sie tun, wenn Sie mehr als nur eine durchschnittliche Karriere als Anwältin anstreben.«

»Es tut mir leid. Ich werde den Fehler nicht noch einmal machen.«

Elizabeth Knight musterte Sara hart; dann öffnete sie die Tür. »Bitte sorgen Sie dafür. Ach ja, Sara«, fügte sie hinzu, als ihre Assessorin an ihr vorbeiging, »bis die Identität des Mörders zweifelsfrei ermittelt wurde, würde ich in niemanden vollständiges Vertrauen setzen. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber ein hoher Prozentsatz aller Morde wird von Familienangehörigen begangen.«

Erstaunt drehte Sara sich zu ihr um. »Sie wollen doch nicht etwa andeuten ...«

»Ich deute gar nichts an«, sagte Elizabeth Knight scharf. »Ich teile Ihnen nur eine Tatsache mit. Machen Sie damit, was Sie wollen.«

Gelangweilt schlenderte Fiske durch das Zimmer, als er plötzlich spürte, daß jemand hinter ihm stand.

»Ich wollte Ihnen die ganze Zeit schon eine Frage stellen.«

Fiske drehte sich um. Agent McKenna schaute ihn an.

»McKenna, ich überlege ernsthaft, Sie zu verklagen, also ziehen Sie Leine.«

»Ich tue nur meinen Job. Und jetzt würde ich gern wissen, wo Sie waren, als Ihr Bruder ermordet wurde.«

Fiske trank sein Glas Wein aus und schaute dann zu der breiten Reihe der Fenster hinüber. »Haben Sie nicht etwas vergessen?« »Und was?«

»Man hat die Todeszeit noch nicht bestimmt.«

»Sie sind nicht ganz auf der Höhe der Ermittlungen.«

»Ach ja?« fragte Fiske und versuchte, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen.

»Zwischen drei und vier Uhr am Samstagmorgen. Wo waren Sie zu dieser Zeit?«

»Verdächtigen Sie etwa mich, meinen Bruder erschossen zu haben?«

»Ich werde es Sie wissen lassen, falls und wann Sie zum Verdächtigen werden.«

»Ich habe an dem betreffenden Samstagmorgen bis vier Uhr in meiner Kanzlei in Richmond gearbeitet. Jetzt werden Sie mich bestimmt fragen, ob jemand das bestätigen kann, nicht wahr?«

»Kann es jemand bestätigen?«

»Nein. Aber ich war um zehn Uhr an diesem Morgen im Waschsalon.«

»Richmond ist nur zwei Autostunden von Washington entfernt. Sie hätten genug Zeit gehabt.«

»Also vertreten Sie die Theorie, daß ich nach Washington gefahren bin, kaltblütig meinen Bruder ermordet und seine Leiche in einem hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Viertel aus dem Wagen geworfen habe, und zwar so geschickt, daß niemand es bemerkt hat, und dann nach Richmond zurückgefahren bin und meine Unterwäsche gewaschen habe? Und was ist mein Motiv?«

Fiske hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, als ihm der Atem stockte. Er hatte das perfekte Motiv: fünfhunderttausend Dollar von einer Lebensversicherung. Scheiße!

»Motive kann man auch später finden. Sie haben kein Alibi, und das heißt, Sie hatten Gelegenheit, den Mord zu begehen.«

»Dann glauben Sie, ich hätte auch Wright ermordet? Vergessen Sie nicht, daß Sie selbst den Richtern gesagt haben, Sie glauben an einen Zusammenhang zwischen beiden Morden. Und für den zweiten Mord habe ich ein Alibi.«

»Nur weil ich etwas gesagt habe, heißt das noch lange nicht, daß es auch stimmt.«

»Faszinierend. Nehmen Sie diese Philosophie auch mit in den Zeugenstand?«

»Ich habe herausgefunden, daß es im Verlauf einer Ermittlung nicht immer gut ist, seine Karten auf den Tisch zu legen. Die Morde könnten überhaupt nichts miteinander zu tun haben

- und das bedeutet, das Alibi, das Sie für den Mord an Wright haben, ist wertlos.«

Während Fiske dem davonschreitenden FBI-Agenten hinterherschaute, stieg ein sehr beunruhigendes Gefühl in ihm auf. Nicht einmal McKenna würde so dumm sein, ihm den Mord an seinem Bruder in die Schuhe schieben zu wollen, oder? Und warum hatte er nichts von dem Autopsie-Ergebnis gewußt, das die Todeszeit seines Bruders eingrenzte? Diese Frage konnte Fiske sich auf Anhieb selbst beantworten: Der Informationsfluß von Chandler war ausgetrocknet.

»John?«

Fiske drehte sich um und sah Richard Perkins ins Gesicht.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?« fragte Perkins nervös. Die beiden gingen in eine Ecke des Zimmers. Perkins schaute kurz aus dem Fenster, als wolle er sich zurechtlegen, was er nun sagen würde. »Ich bin erst seit zwei Jahren Marshal am Obersten Gerichtshof. Es ist ein großartiger Job. Er bringt mir Ansehen, ich habe nicht allzuviel Streß, und die Bezahlung ist auch in Ordnung. Ich habe fast zweihundert Angestellte unter mir, aus allen möglichen Berufen, vom Friseur bis zum Polizisten. Vorher habe ich beim Senat gearbeitet. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, bis zum Erreichen des Ruhestandes dort zu bleiben, aber dann ergab sich diese Gelegenheit.«

»Schön für Sie«, sagte Fiske, fragte sich aber, warum Perkins ihm das alles erzählte.

»Obwohl Ihr Bruder nicht im Gerichtsgebäude gestorben ist, habe ich mich für seine Sicherheit verantwortlich gefühlt. Und nicht nur für seine, sondern für die Sicherheit eines jeden Mitarbeiters dieses Gerichts. Nach Wrights Tod . da schwirrte mir der Kopf. Ich bin es nicht gewöhnt, mich mit so etwas zu befassen. Ich achte viel lieber darauf, daß es bei den Lohnabrechnungen keine Unregelmäßigkeiten gibt und daß die Bürokratie nach Vorschrift funktioniert, als daß ich mitten in einer Ermittlung wegen Mordes stehe.«

»Tja, Chandler ist wirklich gut in seinem Job. Und natürlich arbeitet auch das FBI an dem Fall.« Fiske hätte sich beinahe auf die Zunge gebissen, als er das sagte. Perkins sprang sofort darauf an.

»Agent McKenna scheint irgendeinen Groll gegen Sie zu haben. Kennen Sie den Mann von früher?«

»Nein.«

Perkins betrachtete seine Hände. »Glauben Sie wirklich, daß ein Verrückter sich auf eine Vendetta begeben hat?«

»Das ist keineswegs ausgeschlossen.«

»Aber warum ausgerechnet jetzt? Und warum sucht er sich Assessoren als Opfer aus? Und nicht Richter?«

»Oder anderes Gerichtspersonal.«

»Was meinen Sie?«

»Sie könnten auch in Gefahr sein, Richard.«

Perkins blickte ihn verwundert an. »Ich?«

»Sie sind der Sicherheitschef. Wenn der Täter beweisen will, daß er jeden ausschalten kann, den er ausschalten will, setzt er sich über die Sicherheit des Gerichts hinweg - und damit über Sie.«

Perkins schien über Fiskes Worte nachzudenken. »Also glauben Sie, daß es auf jeden Fall einen Zusammenhang zwischen den Todesfällen gibt?«

»Wenn nicht, wäre es ein fast unglaublicher Zufall. Und ehrlich gesagt, an so große Zufälle glaube ich nicht.«

Als Perkins davonging, kam Elizabeth Knight auf ihn zu. Es war, als würde die Menge sich wie von selbst vor ihr teilen.

Eine Hand legte sich auf Fiskes Schulter. »Ich muß mit Ihnen sprechen. In zehn Minuten vor der Haustür.« Es war Saras Stimme, doch als Fiske sich umdrehte, sah er nur noch, wie sie in die Menge verschwand.

Sichtlich enttäuscht drehte er sich um und sah wieder Elizabeth Knight, die entschlossen das Zimmer durchquerte. Wahrscheinlich hat sie ganz vergessen, daß Kenneth Wilkinson überhaupt hier ist, ging es Fiske durch den Kopf. Und daß sie diese Party Wilkinson zu Ehren gibt. Doch zu Fiskes Erstaunen ging Elizabeth zu Wilkinson hinüber und sprach kurz mit ihm. Fiske beobachtete, wie Elizabeth den alten Mann in seinem Rollstuhl auf die beleuchtete und leere Terrasse schob, dort neben ihm niederkniete, ihm die Hand hielt und weiter mit ihm redete.

Fiske mischte sich kurz unter die anderen Gäste, konnte dem Wunsch aber nicht widerstehen, hinaus auf die Terrasse zu gehen. Elizabeth Knight blickte auf und erhob sich rasch.

»Es tut mit leid, daß ich Sie unterbreche, aber ich muß gehen und wollte mich von Richter Wilkinson verabschieden.«

Elizabeth trat zurück, und Fiske ging zu Kenneth Wilkinson und stellte sich vor. Er schüttelte dem alten Mann die Hand und gratulierte ihm zu seiner langen Karriere im Staatsdienst. Als er zurück ins Wohnzimmer wollte, hielt Richterin Knight ihn auf.

»Ich nehme an, Sie gehen zusammen mit Sara.«

»Ist das ein Problem?«

»Das hängt wohl von Ihnen ab.«

»Was soll das denn heißen?«

»Sara hat eine wunderbare Zukunft vor sich. Doch manchmal können Kleinigkeiten die aussichtsreichsten Karrieren beenden.«

»Wissen Sie, Richterin Knight, ich glaube, Sie mögen mich wirklich nicht. Aber woran liegt das?« »Ich kenne Sie gar nicht, Mr. Fiske. Wenn Sie Ihrem Bruder auch nur im geringsten ähneln, irren Sie sich womöglich sehr.«

»Ich bin nicht wie die anderen. Ich versuche, die Menschen nicht zu vergleichen und keinem etwas vorzumachen, ihm eine schöne Rolle vorzuspielen. So was erweist sich selten als wahr.«

Elizabeth Knight machte einen erstaunten, beinahe betroffenen Eindruck. Doch zu Fiskes Überraschung sagte sie: »Im Prinzip gebe ich Ihnen recht.«

»Schön, daß wir mal einer Meinung sind.«

»Aber ich kenne Sara, und mir liegt sehr viel an ihr. Und wenn Ihr Verhalten ein schlechtes Licht auf sie und damit auf das Gericht wirft, habe ich in der Tat ein Problem damit.«

»Hören Sie, ich will lediglich herausfinden, wer meinen Bruder ermordet hat.«

Sie blickte ihn scharf an. »Sie sind sich ganz sicher?«

»Selbst wenn ich mir nicht sicher wäre ... wir leben in einem freien Land.« Fiske glaubte, einen amüsierten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu bemerken.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Offenbar lassen Sie sich von einer Richterin am Obersten Gerichtshof nicht im geringsten einschüchtern, Mr. Fiske.«

»Würden Sie mich auch nur ein wenig kennen, wüßten Sie den Grund dafür.«

»Vielleicht sollte ich mich bemühen, mehr über Sie herauszufinden. Vielleicht habe ich das schon getan.«

»Vielleicht sind Sie nicht die einzige, die Erkundigungen eingezogen hat.«

Ihr Blick wurde finster. »Selbstvertrauen ist gut und schön, Mr. Fiske. Respektlosigkeit ist ein ganz anderes Paar Schuhe.«

»Ich habe herausgefunden, daß diese Weisheit immer für beide Seiten gilt.«

»Hoffentlich wissen Sie meine Besorgnis um Sara zu schätzen. Sie ist aufrichtig.« »Davon bin ich überzeugt.«

Elizabeth wandte sich ab, drehte sich dann aber doch noch einmal zu ihm um. »Ihr Bruder war ein ganz besonderer Mensch. Überaus intelligent, der geborene Analytiker juristischer Problemfälle.«

»Er war wirklich einzigartig.«

»Damit möchte ich aber nicht sagen, daß er der fähigste Anwalt in seiner Familie war.« Damit ging sie davon und ließ einen überraschten Fiske zurück. Er blieb einen Augenblick lang stehen und versuchte, ihren Worten auf den Grund zu gehen. Dann verließ er die Terrasse und fuhr mit dem Fahrstuhl zur Lobby hinab. Er schaute sich um, konnte Sara aber nirgends sehen.

Plötzlich dröhnte eine Hupe, und Fiske erblickte Saras Wagen am Bordstein. Er stieg ein und schaute zu ihr hinüber. »Wohin fahren wir?«

»Zum Flughafen.«

»Was reden Sie da?«

»Wir statten dem ehrenwerten Samuel Rider einen Besuch ab.«

»Und wer ist der ehrenwerte Samuel Rider?«

»Rufus Harms’ Anwalt. George Barker hat zurückgerufen und mir den Namen durchgegeben. Ich habe Riders Adresse nachgeschlagen. Er praktiziert in der Nähe von Blacksburg, nur ein paar Autostunden östlich vom Gefängnis. Ich habe in seiner Kanzlei angerufen, doch dort war niemand mehr. Seine Privatnummer ist nicht eingetragen.«

»Weshalb fliegen wir dann dorthin?«

»Wir haben die Anschrift seiner Kanzlei. Wir werden sehr spät dort eintreffen, also wird Rider wahrscheinlich nicht mehr dort sein. Wir müßten dort aber jemanden auftreiben können, der uns sagen kann, wo er wohnt, oder der uns wenigstens seine Telefonnummer geben kann. Und wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, daß Rider in diese Sache verwickelt ist, könnte er ebenfalls in Gefahr schweben. Wenn ihm etwas zustößt, finden wir die Wahrheit vielleicht nie heraus.«

»Also glauben Sie wirklich, daß er beim Gericht angerufen und den Antrag eingereicht hat?«

»Jede Wette.«