KAPITEL 52

Rufus schaute ängstlich zu seinem Bruder hinüber, der soeben einen schrecklichen Hustenanfall überstanden hatte. Josh versuchte, sich ein wenig aufzurichten, in der Hoffnung, dadurch etwas leichter atmen zu können. Er wußte, daß er schwerste innere Verletzungen davongetragen hatte. Jeden Augenblick konnte irgend etwas in seinem Inneren zerreißen, das ihn am Leben hielt. Er drückte sich die Pistole noch immer an den Leib. Doch es sah nicht so aus, als wäre eine Kugel nötig, um seinem Leben ein Ende zu machen. Jedenfalls nicht noch eine.

Sie konnten von Glück sagen, daß Tremaine und Rayfield sie nicht mit einem Armeefahrzeug verfolgt hatten. Doch die Seite des Jeep, die Josh und Rufus mit dem Wohnmobil gerammt hatten, war eingedrückt, und das würde unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie ziehen. Und das Stoffverdeck, das sie vor den meisten neugierigen Blicken hätte schützen können, hatte Rufus abmontiert.

Er wußte nicht, wohin er fahren sollte, und Josh verlor viel zu oft das Bewußtsein, als daß er Rufus eine Hilfe hätte sein können. Rufus öffnete das Handschuhfach und nahm eine Straßenkarte heraus. Dann zog er die Visitenkarte aus seiner Hemdtasche und überflog die Namen und Rufnummern. Nun mußte er nur noch ein Telefon finden.

»Worauf warten wir?« fragte McKenna, als er und Fiske vor dessen Bürotür standen.

»Auf die Polizei«, sagte Fiske mit Nachdruck.

Er hatte den Mund kaum geschlossen, als ein Streifenwagen am Straßenrand hielt und Officer Hawkins ausstieg.

»Verdammt noch mal, was geht hier vor John?« fragte Hawkins verwirrt.

Fiske zeigte auf McKenna. »Agent McKenna glaubt, daß ich Mike ermordet habe. Er will meine Waffe beschlagnahmen, um ballistische Untersuchungen vorzunehmen.«

Hawkins warf McKenna einen feindseligen Blick zu. »Wenn das nicht die größte Scheiße ist, die ich je gehört habe ...«

McKenna trat vor. »Vielen Dank für Ihre offizielle Einschätzung ... Officer Hawkins, nicht wahr?«

»Genau«, sagte Hawkins grimmig.

»Nun, Officer Hawkins, Sie haben Mr. Fiskes Einwilligung, sein Büro nach einer Neun-Millimeter-Pistole zu durchsuchen, die auf seinen Namen zugelassen ist.« Er blickte Fiske an. »Ich gehe davon aus, daß Sie Ihre Erlaubnis nicht zurückgezogen haben.« Als Fiske nicht antwortete, wandte McKenna sich wieder an Hawkins. »Wenn Sie also ein Problem damit haben, Officer, sprechen wir mal kurz mit Ihrem Boß, und Sie können sich schon mal nach einem Job als Nachtwächter umsehen.«

Bevor Hawkins etwas Dummes tun konnte, packte Fiske ihn am Arm. »Komm, Billy. Bringen wir’s hinter uns.«

Sie betraten das Gebäude. »Dein Gesicht sieht schon viel besser aus, Billy«, sagte Fiske.

Hawkins lächelte peinlich berührt. »Ja, danke.«

»Was ist passiert?« fragte McKenna.

Hawkins betrachtete ihn verdrossen. »So ein Typ mußte sich unbedingt Drogen reinwerfen. Es war nicht ganz einfach, ihn festzunehmen.«

Vor Fiskes Bürotür lag ein Stapel Briefe und Päckchen. Er hob sie auf und drehte den Schlüssel im Türschloß. Die Männer betraten das Büro.

Fiske ging zu seinem Schreibtisch und ließ den Stapel Post darauf fallen. Er zog die oberste Schublade auf und schaute hinein. Dann schob er die Hand in die Schublade, wühlte darin herum und blickte schließlich zu den beiden Männern auf. »Die Neunmillimeter war in dieser Schublade, verdammt. Ich hab’ sie noch an dem Tag herausgeholt, als du mir das von Mike erzählt hast, Billy.«

McKenna verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Fiske streng. »Na schön, hat sonst noch jemand Zutritt zu Ihrem Büro? Die Putzfrau, die Sekretärin? Lieferanten? Der Fensterputzer?«

»Nein, niemand. Nur der Vermieter hat einen zweiten Schlüssel.«

»Wie lange warst du weg?« fragte Hawkins. »Ungefähr zwei Tage?«

»Genau.«

McKenna blickte zur Tür. »Aber es gibt keine Spuren, die auf gewaltsames Eindringen schließen lassen.«

»Das hat doch gar nichts zu bedeuten«, sagte Hawkins. »Ein Profi kann dieses Schloß knacken, ohne daß man es überhaupt merkt.«

»Wer weiß, daß Sie hier eine Waffe aufbewahren?« fragte McKenna.

»Niemand.«

»Vielleicht hat einer Ihrer Mandanten sie gestohlen, um für seinen nächsten Banküberfall ordentlich ausgerüstet zu sein«, sagte McKenna.

»In diesem Büro habe ich nur selten Besuch von Mandanten, McKenna. Normalerweise rufen sie mich aus dem Gefängnis an.«

»Tja, dann scheinen wir hier ein kleines Problem zu haben. Ihr Bruder wurde von einer Neun-Millimeter-Kugel getötet. Und auf Ihren Namen ist eine Neun-Millimeter-SIG registriert. Sie gestehen, daß die Waffe vor ein paar Tagen noch in Ihrem Besitz war. Nun ist sie verschwunden. Sie haben kein Alibi für die Tatzeit, und der Tod Ihres Bruders hat Sie um eine halbe Million Dollar reicher gemacht.«

Hawkins warf Fiske einen fragenden Blick zu.

»Eine Lebensversicherung, die Mike abgeschlossen hat«, erklärte Fiske. »Sie war für Mom und Dad bestimmt.«

»Das behaupten Sie jedenfalls.«

Fiske trat näher an McKenna heran. »Wenn Sie glauben, ausreichend Beweise zu haben, um Klage gegen mich zu erheben, dann tun Sie’s. Wenn nicht, verschwinden Sie aus meinem Büro.«

McKenna blieb unbeeindruckt. »Wenn ich mich nicht irre, hat Officer Hawkins Ihre Erlaubnis, Ihr gesamtes Büro nach der Waffe zu durchsuchen, nicht nur den Schreibtisch, in dem Sie sie angeblich aufbewahrt haben. Ob der Officer nun Ihr Freund ist oder nicht, ich hoffe doch sehr, daß er seine Pflicht tut.«

Fiske trat zurück und schaute Hawkins an. »Nur zu, Billy. Ich gehe unten im Café an der Ecke was trinken. Soll ich dir was mitbringen?«

Hawkins schüttelte den Kopf.

»Ich könnte eine Tasse Kaffee vertragen«, sagte McKenna und folgte Fiske aus dem Büro. »Dabei können wir uns ja ein wenig unterhalten.«

Sara stoppte den Wagen und atmete tief durch. Der Buick stand auf der Auffahrt. Als sie ausstieg, stieg ihr der Geruch von frisch gemähtem Gras in die Nase. Die Wahrnehmung war tröstlich, entführte sie in die Vergangenheit, zu Footballspielen während ihrer Zeit an der High School, zu trägen Sommern im friedlichen Carolina.

Als sie anklopfte, wurde die Tür so schnell aufgerissen, daß Sara beinahe von der kleinen Veranda gefallen wäre. Ed Fiske mußte gesehen haben, wie sie zum Haus gekommen war. Bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, hielt sie das Foto in die Höhe.

Vier Personen waren darauf zu sehen: Ed und Gladys Fiske und ihre beiden Söhne. Alle lächelten strahlend.

Ed blickte Sara fragend an.

»Michael hatte das Bild in seinem Büro stehen. Ich wollte, daß Sie es bekommen.« »Und warum?« Sein Tonfall war noch immer kalt, doch wenigstens schrie er ihr keine Obszönitäten ins Gesicht.

»Weil es mir ... richtig vorkam.«

Ed nahm das Foto von Sara entgegen. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Aber ich habe Ihnen eine Menge zu sagen. Ich habe jemandem etwas versprochen, und ich pflege meine Versprechen zu halten.«

»Versprochen? Wem? Johnny? Tja, dann können Sie ihm sagen, daß es keinen Zweck hat, Sie zu mir zu schicken, um die Dinge wieder hinzubiegen.«

»Er weiß nicht, daß ich hier bin. Er hat mir gesagt, ich solle nicht kommen.«

Ed schaute überrascht drein. »Und warum sind Sie dann hier?«

»Wegen meines Versprechens. Was Sie in dieser Nacht neulich gesehen haben, war nicht Johns Schuld, sondern meine.«

»Dazu gehören immer noch zwei. Jetzt erzählen Sie mir bloß nichts anderes.«

»Darf ich reinkommen?«

»Ich wüßte nicht, warum.«

»Ich muß mit Ihnen über Ihre beiden Söhne sprechen. Es ist wichtig. Ich glaube, Sie sollten einiges wissen. Was ich Ihnen zu sagen habe, läßt die ganze Sache vielleicht in einem deutlicheren Licht erscheinen. Es wird nicht lange dauern. Ich verspreche Ihnen, danach werde ich Sie nie wieder belästigen. Bitte.«

Nach einem langen Augenblick trat Ed endlich zur Seite und ließ Sara herein. Lautstark schloß er die Tür hinter ihnen.

Das Wohnzimmer sah fast genauso aus wie damals, als sie es zum erstenmal betreten hatte. Ed schien ein ordentlicher Mensch zu sein. Sara konnte sich vorstellen, daß die Werkzeuge in seiner Garage genauso sorgfältig, ja pedantisch aufgeräumt waren. Ed deutete auf das Sofa, und Sara setzte sich. Er ging ins Eßzimmer und stellte das Foto sorgfältig zu den anderen. »Wollen Sie was trinken?« fragte er widerwillig.

»Nur, wenn Sie auch etwas trinken.«

Ed nahm auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz. »Nein.«

Sara musterte ihn genau. Nun konnte sie in seinem Gesicht, seinem Körperbau beide Söhne ein wenig deutlicher wiedererkennen. Besonders John; Michael kam stärker auf die Mutter. Ed wollte sich eine Zigarette anzünden, hielt dann aber inne.

»Sie können ruhig rauchen. Es ist Ihr Haus.«

Ed steckte die Schachtel und das Feuerzeug wieder in die Hosentasche. »Gladys hat nicht geduldet, daß ich im Haus rauche, nur draußen. Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, daß Sara sagte, was sie zu sagen hatte.

»Michael und ich waren sehr enge Freunde.«

»Nach dem, was ich neulich gesehen habe, kann ich mir das nicht so richtig vorstellen.« Eds Gesicht lief rot an.

»Tatsache ist, Mr. Fiske .«

»Nennen Sie mich Ed«, sagte er schroff.

»Na schön, Ed. Mike und ich waren wirklich enge Freunde. So habe ich es jedenfalls gesehen, aber Michael wollte mehr als das.«

»Was soll das heißen?«

Sara schluckte heftig und errötete. »Michael hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«

Ed wirkte schockiert. »Er hat mir nie etwas davon gesagt.«

»Das kann ich mir vorstellen. Denn ich ...« Sie zögerte kurz, hatte Angst davor, wie Eds Reaktion auf ihre nächsten Worte ausfallen würde. »Denn ich habe abgelehnt.« Sie zuckte ein wenig zurück, doch Ed blieb unbewegt sitzen und versuchte, Saras Worte zu verdauen.

»Ach ja? Also haben Sie ihn nicht geliebt?«

»Nein ... jedenfalls nicht auf diese Weise. Ich weiß nicht genau, warum ich ihn nicht geliebt habe. Er war ... perfekt. Vielleicht hat mir genau das angst gemacht . angst davor, bis ans Ende meiner Tage so hohen Ansprüchen genügen zu müssen. Und Mike ging so sehr in seiner Arbeit auf. Selbst wenn ich ihn geliebt hätte, ich weiß nicht, ob in seinem Leben Platz für mich gewesen wäre.«

Ed schaute zu Boden. »Es war nicht leicht, die beiden Jungs großzuziehen. Johnny hat fast alles mit Leichtigkeit geschafft, aber Mike ... Mike war phantastisch, egal, was er angefaßt hat. Ich habe die ganze Zeit wie ein Ochse geschuftet und es damals gar nicht für so erfreulich gehalten, daß Mike alles in den Schoß fiel. Heute weiß ich es besser. Ich habe oft mit Mike geprahlt. Zu oft. Mike hat mir gesagt, Johnny wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben, wollte aber nicht so richtig damit rausrücken, warum. Johnny ist ziemlich verschlossen. Es ist nicht einfach, ihn zum Sprechen zu bringen.«

Sara schaute an Ed vorbei und zum Fenster hinaus, an dem ein Kardinalvogel vorüber flatterte und sich dann auf den Ast einer Trauerweide niederließ.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich war in den letzten Tagen oft mit ihm zusammen. Wissen Sie, bei John denke ich immer: Das ist der Mann, mit dem du dein Leben verbringen willst. Diese Vorstellung ist vermutlich lächerlich. Und unfair. Nicht wahr?«

Der Anflug eines Lächelns legte sich auf das Gesicht des alten Mannes. »Als ich Gladys zum erstenmal sah, war sie Kellnerin in diesem kleinen Restaurant gegenüber von der Spedition, bei der ich damals arbeitete. Ich ging eines Tages mit ein paar Kumpels zur Tür rein und hörte von dem Moment an, in dem ich Gladys sah, kein einziges Wort mehr, das die anderen Jungs sagten. Es war, als wären Gladys und ich ganz allein auf der Welt. Nach der Mittagspause ging ich wieder an die Arbeit und habe einen Dieselmotor völlig vermurkst. Ich bekam das Mädel einfach nicht mehr aus dem Kopf.«

Sara lächelte. »Ich weiß genau, wie stur John ist ... und wie stur auch Michael sein konnte. Deshalb bezweifle ich, daß Sie

es einfach dabei beließen, nur an Gladys zu denken.«

Ed lächelte ebenfalls. »Im nächsten halben Jahr habe ich in diesem Restaurant gefrühstückt und zu Mittag und zu Abend gegessen. Wir gingen miteinander aus. Dann habe ich allen Mut zusammengenommen und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich schwöre bei Gott, ich hätte es schon am ersten Tag getan, aber ich dachte, sie würde mich dann für verrückt halten oder so.« Er hielt kurz inne. »Und wir haben ein verdammt gutes Leben zusammen gehabt«, sagte er dann nachdrücklich und schaute Sara an. »Ist es Ihnen genauso ergangen, als Sie Johnny zum erstenmal gesehen haben?«

Sie nickte.

»Hat Mike es gewußt?«

»Ich glaube, er ist dahintergekommen. Als ich John dann kennenlernte, habe ich ihn gefragt, warum er und sein Bruder sich nicht näherstünden. Ich dachte, das hätte vielleicht eine Rolle gespielt . bei mir, meine ich . aber Mike und John haben sich offenbar schon vorher entfremdet.« Sara nahm allen Mut zusammen. »Sie haben es also gesehen, nicht wahr? Ich meine, wie ich mich an diesem Abend auf dem Boot Ihrem Sohn an den Hals geworfen habe. Er hatte den schrecklichsten Tag hinter sich, den man sich nur vorstellen kann, und ich habe nur an mich gedacht.« Sie schaute Ed in die Augen. »Er hat mich geradeheraus zurückgewiesen.« Sie dachte an die letzte Nacht, an die Zärtlichkeiten, die sie und John Fiske ausgetauscht hatten, sowohl im Bett als auch außerhalb. Und dann der Morgen danach. Sie hatte gedacht, sie wäre endlich schlau aus ihm geworden, was sie unglaublich erleichtert hatte. Doch sie hatte gar nichts über diesen Mann oder seine Gefühle gewußt, und diese Erkenntnis lastete schwer auf ihr. Sie lachte bekümmert auf. »Das war eine sehr demütigende Erfahrung.« Sie holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Augen ab. »Mehr wollte ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie schon jemanden hassen müssen, dann mich, nicht Ihren Sohn.«

Ed schaute lange Zeit zu Boden und erhob sich schließlich. »Ich habe gerade den Rasen gemäht und würde jetzt gern einen Eistee trinken. Möchten Sie auch einen?«

Sara nickte überrascht.

Kurz darauf kam Ed mit zwei Gläsern und einer Kanne Tee zurück. »Ich habe viel über diese Nacht nachgedacht«, sagte er, während er die Gläser füllte, in denen Eisstücke lagen. »Ich erinnere mich kaum noch daran. Am nächsten Morgen hatte ich einen furchtbaren Kater. So wütend ich auch war, ich hätte Johnny nie schlagen dürfen. Nicht so. Nicht in den Magen.«

»Er ist ziemlich hart im Nehmen.«

»Das meine ich nicht.« Ed trank einen Schluck Tee, lehnte sich zurück und nagte an seiner Lippe. »Hat Johnny Ihnen je erzählt, warum er aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist?«

»Er hat mal einen Jungen wegen eines Drogendelikts verhaftet, sagt er. Der Junge tat ihm so leid, daß er beschlossen hat, solchen Leuten zu helfen.«

Ed nickte. »Na ja, verhaftet hat er ihn eigentlich gar nicht. Der Junge ist noch vor Ort gestorben. Genau wie der Officer, der Johnny bei dem Einsatz unterstützt hat.«

Sara hätte beinahe ihren Tee verschüttet. »Was?«

Nun, da Ed dieses Thema zur Sprache gebracht hatte, schaute er ein wenig unbehaglich drein, doch er fuhr fort: »Johnny hat nie so richtig darüber gesprochen, aber ich habe die Geschichte von den Beamten erfahren, die am Tatort eintrafen, kurz nachdem alles passiert war. Johnny hat aus irgendeinem Grund einen Wagen angehalten. Ich glaube, er war gestohlen. Auf jeden Fall hat Johnny Verstärkung angefordert. Hat den beiden Jungs befohlen, aus dem Wagen zu steigen. Fand die Drogen. Dann kam seine Verstärkung. Gerade als sie die Burschen durchsuchen wollten, brach einer von ihnen zusammen, als hätte er einen Anfall. Johnny wollte ihm helfen. Sein Kollege, der zur Verstärkung gekommen war, hätte die Waffe weiterhin auf den anderen Jungen richten sollen, tat es aber nicht. Da zog der Bursche eine Pistole und hat Johnnys Kollegen erschossen. Dann feuerte Johnny. aber da hatte der andere Kerl ihm schon zwei Kugeln in den Magen gejagt.

Beide brachen zusammen, lagen sich gegenüber. Der andere Bursche hatte den Anfall nur vorgetäuscht. Er sprang auf, raste mit dem Wagen davon, wurde aber kurz darauf gefaßt. Der andere Kerl und Johnny lagen keinen halben Meter voneinander entfernt, beide haben wie verrückt geblutet.«

»O Gott!«

»Johnny hat einen Finger in eins der Einschußlöcher gestopft. So konnte er die Blutung ein wenig aufhalten. Na ja . er hat mir einen Teil der Geschichte erzählt, als er halb bewußtlos im Krankenhaus lag . der Junge, der neben Johnny lag, hatte irgendwas zu ihm gesagt. Ich weiß nicht genau, was, Johnny wollte nie so richtig damit raus, aber die haben den Jungen dann tot aufgefunden, und Johnny lag neben ihm, hatte den Arm um ihn gelegt. Er muß sich irgendwie zu dem Jungen geschleppt haben. Einigen Cops gefiel das gar nicht ... schließlich war ja einer von ihnen wegen des Jungen draufgegangen. Aber sie haben alles überprüft, und Johnny wurde von jeder Schuld freigesprochen. Es war der Fehler seines Kollegen gewesen. Auf jeden Fall ... auf dem Weg ins Krankenhaus wäre Johnny fast gestorben. Er wurde mehr als einen Monat stationär behandelt. Womit der Junge seine Waffe auch geladen hatte ... es hat Johnny innerlich zerfetzt.«

Sara mußte daran denken, daß John sein Hemd wieder heruntergezogen hatte, bevor sie miteinander schliefen. »Hat er eine Narbe?«

Ed warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Warum fragen Sie?«

»Er hat so eine Bemerkung gemacht.«

Ed nickte langsam. »Vom Bauch bis zum Hals.«

»Zu alt fürs Nacktbaden«, murmelte Sara zu sich selbst.

»Die Ärzte hätten mit plastischer Chirurgie wohl einiges machen können, aber Johnny hatte die Nase voll von Krankenhäusern. Außerdem dachte er wohl ... wenn sie seine inneren Organe nicht wieder hinkriegen, spielt es sowieso keine Rolle, wie’s außen aussieht.«

Sara schaute angsterfüllt drein. »Was soll das heißen? Er wurde doch völlig wiederhergestellt, oder?«

Ed schüttelte traurig den Kopf. »Die Geschosse haben ihn schlimm zerrissen«, er legte die Hand auf seinen Leib, »hier drinnen. Sind wie Flipperkugeln in ihm herumgesprungen. Die Ärzte haben ihn zusammengeflickt, aber so ziemlich jedes innere Organ wurde verletzt. Vielleicht hätten sie ihn wieder hingekriegt, wenn Johnny ein paar Jahre lang im Krankenhaus geblieben wäre und sich Transplantationen und so unterzogen hätte. Aber so was ist nichts für Johnny. Die Ärzte sagen, irgendwann wird eines der verletzten Organe einfach ... aufhören zu arbeiten. Es ist wie bei Diabetes. Sie wissen schon, die Organe des Kranken sind schließlich ... kaputt.«

Sara drehte sich der Magen um, doch sie brachte ein Nicken zustande.

»Na ja, die Ärzte meinen, daß die beiden Kugeln Johnny zwanzig Jahre seines Lebens gekostet haben, vielleicht sogar mehr. Und sie konnten wirklich nichts dagegen tun. Damals war uns das egal. Verdammt, Johnny hatte überlebt, und nur darauf kam es uns an. Aber ich weiß, daß es ihm schwer zu schaffen macht. Tja, Johnny hat alles getan, um sich wieder in gute Form zu bringen, zumindest äußerlich. Hat Eisen gestemmt, ist gejoggt, bis er fast umkippte, und so was alles. Und er hat den Polizeidienst quittiert. Wollte nicht mal die verdammte Erwerbsunfähigkeitsrente annehmen, obwohl er sie sich verdient hat, finden Sie nicht auch? Johnny wurde Anwalt . und jetzt arbeitet er sich krumm und schief, ohne groß was dabei zu verdienen, und gibt mir und seiner Momma das meiste davon ab. Ich bekomme keine Rente, wissen Sie, und die Arztrechnungen meiner Frau sind mittlerweile so hoch, daß es mehr ist, als ich in meinem ganzen Leben verdient habe. Verdammt, ich mußte wieder eine Hypothek auf das Haus aufnehmen, nachdem ich es dreißig Jahre lang abbezahlt habe. Aber es ließ sich nun mal nicht ändern.«

Als Ed innehielt, schaute Sara zu dem Tisch hinüber, auf dem John Fiskes Tapferkeitsmedaille stand. Ein kleines Stück Metall für so viel Schmerz.

»Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie begreifen, daß Johnny wirklich nicht dieselben Ziele hat, die Sie und ich vielleicht haben. Er hat nie geheiratet, spricht nie davon, Kinder zu haben. Für ihn vergeht die Zeit viel schneller als für andere Menschen. Sollte er fünfzig Jahre alt werden, wird er sich für den glücklichsten Menschen auf Erden halten. Das hat er mir selbst gesagt.« Ed Fiske starrte zu Boden und mußte sich räuspern. »Ich hätte nie gedacht, daß ich Mike überleben werde. Und jetzt hoffe ich bei Gott, daß ich nicht auch noch meinen anderen Jungen überlebe.«

Endlich fand Sara ihre Stimme wieder. »Ich ... ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir das alles erzählt haben. Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das alles für Sie sein muß. Und dabei kennen Sie mich ja gar nicht.«

»Es kommt immer darauf an. Manchmal lernt man einen Menschen in zehn Minuten besser kennen als einen anderen, mit dem man schon das ganze Leben lang zu tun gehabt hat.«

Sara stand auf. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben. Und Sie sollten sich wirklich bei John melden.«

Ed nickte ernst. »Das werde ich.«

Als Saras Hand den Türknopf berührte, hörte sie Ed fragen: »Lieben Sie meinen Sohn noch immer?«

Sara ging, ohne zu antworten.

In dem kleinen Café gegenüber dem Bürogebäude setzte Fiske sich an einen Tisch am Fenster. Er und McKenna bestellten sich Kaffee.

Zuerst ignorierte Fiske den FBI-Agenten völlig, der neben ihm stehen blieb, und beobachtete desinteressiert die Passanten, während er den Kaffee trank. Als die Sonne über das Dach des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite stieg und die Schatten beider Männer auf die Ziegelwand warf, setzte er seine Sonnenbrille auf.

McKenna aß schweigend ein paar Cracker, die er bestellt hatte, und drehte den Plastikbecher mit dem Kaffee zwischen den Fingern.

»Wie geht es Ihrem Magen? Tut mir leid, daß ich Sie so hart schlagen mußte.«

»Es tut Ihnen höchstens leid, daß Sie mich nicht härter geschlagen haben.«

»Nein, wirklich. Ich sah das Gewehr und bekam es mit der Angst.«

Fiske schaute zu ihm hoch. »Haben Sie befürchtet, ich könnte die Wagentür aufreißen, das Gewehr rausholen, in Anschlag bringen, mich zu Ihnen herumdrehen und einen Schuß abgeben - und das alles, bevor Sie mich aus einer Entfernung von höchstens zwei Metern wegpusten können?«

McKenna zuckte die Achseln. »Zu Ihrer Information, ich habe Ihre Personalakte gelesen. Sie waren ein guter Polizist. Jedenfalls bis zum Schluß.«

»Was soll das jetzt schon wieder heißen, verdammt noch mal?«

McKenna setzte sich an den Tisch. »Nichts. Nur, daß es bei dem letzten Vorfall in Ihrer Akte ein paar Fragen gab. Wollen Sie mich darüber aufklären?«

Fiske nahm die Brille ab und schaute den Mann durchdringend an. »Warum schießen Sie mir statt dessen nicht eine Kugel in den Kopf? Das würde mir vermutlich mehr Spaß bereiten.«

McKenna lehnte seinen Stuhl nach hinten gegen die Wand und zündete sich eine Zigarette an. »Wenn Sie so versessen darauf sind, Ihre Unschuld zu beweisen, sollten Sie allmählich ein bißchen kooperativer sein.«

»Sie sind überzeugt davon, McKenna, daß ich meinen Bruder getötet habe. Warum sollte ich mir also die Mühe machen?«

»Ich habe im Lauf der Jahre viele Fälle bearbeitet. Die Hälfte der Zeit hat meine ursprüngliche Theorie sich als falsch erwiesen. Meine Philosophie lautet: Sag niemals nie.«

»Mann, Sie hören sich ja echt aufrichtig an.«

McKenna schlug einen freundlicheren Tonfall an. »Hören Sie, John, ich mache das jetzt wirklich lange genug, okay? Saubere, ordentliche, eindeutige Fälle sind nun mal nicht die Regel. Bei diesem gibt es Ungereimtheiten, und die werde ich nicht ignorieren.« Er hielt kurz inne. »Wieso hat Ihr Bruder sich für Rufus Harms interessiert?« fragte er dann so beiläufig, wie er konnte. »Und was genau stand in dem Berufungsantrag?«

Fiske setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Das paßt aber nicht in Ihre Theorie, daß ich meinen Bruder getötet habe.«

»Das ist nur eine meiner Theorien. Und der gehe ich nach, indem ich hier nach Ihrer plötzlich verschwundenen NeunMillimeter-Pistole suche. Und während ich auf die Waffe warte, betrachte ich den Fall aus einem anderen Blickwinkel: Rufus Harms. Ihr Bruder hat den Antrag an sich genommen, und es sieht so aus, als hätte er Harms im Gefängnis besucht.«

»Das hat Chandler Ihnen gesagt?«

»Ich habe viele Quellen. Sie und Sara Evans haben in Harms’ Vergangenheit herumgeschnüffelt. Er war in einem Militärgefängnis im Süden Virginias inhaftiert. Und Sie beide sind gestern abend mit einem Charterflugzeug in diese Gegend geflogen. Warum erzählen Sie mir nicht darüber? Wo waren Sie, und warum waren Sie dort?«

Fiske lehnte sich verblüfft zurück. McKenna hatte ihn und Sara beschatten lassen. Das war zwar nicht ungewöhnlich, und doch hatte Fiske an diese Möglichkeit nicht einmal im Traum gedacht. »Warum fragen Sie mich, wenn Sie sowieso schon so viel wissen?«

»Vielleicht haben Sie Informationen, die mir noch fehlen, um diesen Fall aufzuklären.«

»Bevor Chandler ihn löst?«

»Spielt es eine Rolle, wer dieser Sache als erster Einhalt gebietet, wenn Menschen umgebracht werden?«

Dieser Einwand war allerdings logisch. Zumindest oberflächlich. Doch es spielte in der Tat eine große Rolle. Die verschiedenen Behörden, die die Einhaltung der Gesetze überwachten, führten Buch, wie alle anderen Behörden und Unternehmen auch. Fiske stand auf. »Sehen wir mal nach, was Billy so treibt. Mittlerweile müßte er die beiden Leichen gefunden haben, die ich letzte Woche in meinem Aktenschrank versteckt habe.«

Als sie ins Büro zurückkamen, war Hawkins gerade fertig. »Nichts«, erwiderte er auf McKennas Blick. »Wenn Sie wollen, können Sie sich selbst noch mal an die Arbeit machen«, fügte er trotzig hinzu.

»Schon gut, ich vertraue Ihnen«, sagte McKenna freundschaftlich.

Fiske musterte Hawkins mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Was ist das, Billy?« Er zeigte auf den Nacken und Kragen des Polizisten.

»Was ist was?«

Fiske berührte Hawkins’ Kragen mit dem Finger und hielt ihn dem Officer vor die Nase.

Hawkins errötete leicht. »Oh. Verdammt, das war Bonnies Idee. Sie meinte, ich soll die blauen Flecken abdecken. Deshalb sieht mein Gesicht nicht mehr so mitgenommen aus. So schlimm bin ich noch nie im Leben verprügelt worden. Ich meine, dieser Bursche war zwar groß, aber das bin ich auch.«

»Ich hätte dem Mistkerl ein paar Kugeln in den Balg gejagt«, sagte McKenna.

Fiske starrte den FBI-Agenten mit offenem Mund an.

Hawkins nickte. »Ich war in Versuchung, ja. Aber was mein Gesicht angeht ... na ja, die Kollegen würden sich kaputtlachen, wenn sie meine ramponierte Visage sehen. Aber es ist so heiß draußen, und man schwitzt unwillkürlich, und dann läuft einem das Zeug vom Gesicht runter und auf die Klamotten. Ich weiß nicht, wie die Frauen das machen.«

»Du willst also sagen, das ist.«

»Ja, Make-up«, sagte Hawkins verlegen.

Schlagartig ging Fiske ein Licht auf, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Unwillkürlich rieb er seine noch immer schmerzende Schulter.

McKenna musterte ihn eindringlich.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war das Altenheim, in dem Gladys Fiske untergebracht war.

»Ich habe das mit Michael in der Zeitung gelesen. Es tut mir schrecklich leid, John.« Die Frau arbeitete schon seit Jahren in dem Altenheim, und Fiske kannte sie sehr gut.

»Danke, Anne. Im Augenblick ist es ein bißchen ungünstig .«

»Es ist furchtbar! Michael war vor kurzem noch hier, und jetzt ist er tot. Ich kann es nicht fassen.«

Fiske runzelte die Stirn. »Mit >hier< meinen Sie das Altenheim?«

»Ja. Er war letzte Woche noch bei uns. Donnerstag . nein, Freitag.«

Der Tag, an dem Mike verschwunden ist.

»Das weiß ich noch, weil er normalerweise immer samstags kam.«

Fiske schüttelte den Kopf, als wollte er alle störenden Gedanken verscheuchen. »Wovon sprechen Sie? Michael hat Mom doch nie besucht.«

»O doch. Natürlich hat er Ihre Mutter besucht. Wenn auch nicht so oft wie Sie.« »Das haben Sie mir nie gesagt.«

»Na ja, um ehrlich zu sein, Michael hat nicht gewollt, daß ich es Ihnen sage.«

»Was? Verdammt noch mal, warum denn nicht? Mir hängt es langsam zum Hals raus, daß mir keiner was über meinen Bruder erzählt!«

»Es tut mir leid, John«, erwiderte die Frau kleinlaut, »aber er hat mich gebeten, nichts zu sagen, und ich habe seiner Bitte selbstverständlich entsprochen. Das ist alles. Aber nun, da er tot ist . da dachte ich, es tut ihm ja nicht mehr weh, wenn Sie es erfahren.«

»Er hat Mom am Freitag besucht? Hat er auch mit Ihnen gesprochen?«

»Nein, eigentlich nicht. Er kam mir ziemlich nervös vor. Ich meine, sehr bedrückt. Er ist recht früh gekommen und nur eine halbe Stunde geblieben.«

»Dann hat er also mit meiner Mutter gesprochen?«

»Er war bei ihr. Ich weiß nicht, ob sie wirklich miteinander geredet haben. Gladys kann manchmal ziemlich schwierig sein. Wann werden Sie Ihre Mutter das nächste Mal besuchen? Ich meine, das mit Michael kann sie ja nicht wissen, aber aus irgendeinem Grund kommt sie mir sehr deprimiert vor.«

Offenbar glaubte die Frau, das Band zwischen einer Mutter und ihren Kindern könne sogar die Verheerungen der Alzheimerschen Krankheit überwinden. »Es paßt mir im Augenblick wirklich nicht ...« Fiske brach mitten im Satz ab. Es wäre ein Wunder, sollte seine Mutter sich an irgend etwas erinnern, das Mike im Verlauf ihres Gesprächs gesagt hatte . irgend etwas, das ihnen weiterhelfen könnte. Aber falls doch ...

»Ich fahre sofort los.«

Fiske legte auf, öffnete seinen Aktenkoffer und stopfte die Post hinein.

»Ihr Bruder hat Ihre Mutter an dem Tag besucht, an dem er verschwunden ist?« fragte McKenna.

Fiske nickte.

»Dann könnte sie uns vielleicht weiterhelfen.«

»McKenna, meine Mutter lebt im Heim und hat Alzheimer. Sie glaubt, daß John F. Kennedy noch Präsident ist.«

»Na schön, aber was ist mit den Leuten, die in dem Heim arbeiten?«

Fiske schrieb eine Adresse und Telefonnummer auf die Rückseite einer Visitenkarte. »Aber lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel, McKenna.«

»Dann werden Sie sie also besuchen? Wieso?«

»Sie ist meine Mutter.« Fiske ging zur Tür hinaus.

Hawkins schaute McKenna an. »Können wir gehen? Denn ich würde gern abschließen. Ich möchte vermeiden, daß noch jemand hier einbricht und irgend etwas stiehlt.«

Hawkins sagte es auf eine Art und Weise, daß McKenna zusammenzuckte. Der Bursche konnte doch nicht wissen, daß er, McKenna, die Pistole gestohlen hatte, oder? Trotzdem fühlte er sich schuldig. Doch er fühlte sich auch wegen anderer, bedeutenderer Dinge schuldig. Viel bedeutenderer Dinge.