KAPITEL 49

Die Richter nahmen nach mündlichen Verhandlungen traditionsgemäß ein privates Mittagessen im Speisesaal im ersten Stock des Gebäudes ein. Fiske hatte Sara im Büro gelassen; sie mußte noch einiges aufarbeiten. Er nutzte die Gelegenheit, um selbst Nachforschungen zu betreiben. Da die Mordkommission der Polizei von Washington ihn nicht mehr mit Informationen versorgte, mußte er sich nach einer anderen Quelle umsehen. Vielleicht würde ihm Leo Dellasandro, der Chief der Gerichtspolizei, helfen.

Als er durch den Gang schritt, dachte er an die mündliche Verhandlung, der er gerade beigewohnt hatte. Obwohl er Anwalt war, war ihm nie richtig bewußt gewesen, was für eine Macht von diesem Gebäude ausging. Der Oberste Gerichtshof hatte im Verlauf seiner Geschichte bei einer Vielzahl wichtiger Themen einige sehr unpopuläre Entscheidungen getroffen. Viele davon waren mutig und, zumindest nach Fiskes Meinung, richtig gewesen. Aber die Erkenntnis, daß das Land heutzutage vielleicht ganz anders aussehen würde, hätten sich ein oder zwei Richter bei einigen oder allen dieser Abstimmungen anders entschieden, war beunruhigend. Seiner Meinung zufolge war das ein bedenklicher, wenn nicht gar gefährlicher Zustand.

Fiske dachte auch an seinen Bruder, und daran, wie viel Gutes er zweifellos an diesen Ort gebracht hatte, auch wenn er nur ein wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen war. Mike Fiske war mit seinen Ansichten und Taten immer fair und gerecht gewesen. Und wenn er seine Zuneigung erst einmal vergeben hatte, hätte niemand sich einen treueren Freund wünschen können.

Mike Fiske war wie geschaffen für diesen Ort gewesen. Das Gericht hatte in der Tat einen großen Verlust erlitten, als ihm jemand das Leben genommen hatte. Aber keinen so großen wie die Familie Fiske.

Fiske blieb vor Dellasandros Tür im Erdgeschoß stehen, klopfte an und wartete. Er klopfte noch einmal, öffnete die Tür dann und spähte hinein. Er sah ins Vorzimmer von Dellasandros Büro, in dem dessen Sekretärin arbeitete. Wahrscheinlich ist sie beim Mittagessen, dachte Fiske. Er trat in das Büro. »Chief Dellasandro?« Er wollte wissen, ob man auf den Überwachungsvideos irgend etwas gefunden hatte. Und, ob einer der Gerichtspolizisten Wright nach Hause gefahren hatte.

Er ging zur Tür des inneren Büros. »Chief Dellasandro, ich bin’s, John Fiske. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?« Noch immer keine Antwort. Fiske entschloß sich, dem Mann eine Nachricht zu hinterlassen. Aber er wollte sie nicht auf den Schreibtisch der Sekretärin legen.

Er betrat Dellasandros Büro und ging zu dessen Schreibtisch. Dort fand er einen Zettel und schrieb mit einem Kuli aus dem Halter auf dem Tisch eine kurze Mitteilung. Als er fertig war und den Zettel so auf den Schreibtisch legte, daß man ihn sofort bemerken mußte, schaute er sich kurz in dem Büro um. Auf den Regalen und an den Wänden bemerkte er zahlreiche Andenken, die von einer glänzenden Laufbahn zeugten. An einer Wand hing ein Foto von einem viel jüngeren Dellasandro in seiner Uniform.

Fiske drehte sich zur Tür um. An der Rückseite des Türblatts hing eine Jacke. Sie mußte Dellasandro gehören, war offensichtlich Bestandteil seiner Gerichtsuniform. Als Fiske daran vorbei ging, fielen ihm mehrere Flecken auf dem Kragen auf. Er rieb mit dem Finger darüber und untersuchte den Rückstand: Make-up. Er ging ins Vorzimmer und sah sich die Fotos an, die dort auf dem Schreibtisch standen. Er hatte Dellasandros Sekretärin einmal gesehen. Eine junge, große Brünette mit ziemlich beeindruckenden Gesichtszügen. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Foto von ihr und Chief Dellasandro. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt; beide lächelten in die Kamera. Wahrscheinlich hatten viele Sekretärinnen Fotos machen lassen, die sie mit ihrem Boß zeigten. Aber da war etwas in ihren Augen, und auch der Umstand, wie dicht nebeneinander sie standen, ließ darauf schließen, daß es sich vielleicht um mehr als nur eine platonische berufliche Beziehung handelte. Er fragte sich, ob das Gericht besondere Vorschriften über den Kontakt der Mitarbeiter untereinander erlassen hatte. Und es gab noch einen Grund, wieso Dellasandro gut beraten wäre, die Hosen an und die Hände von der Sekretärin zu lassen: Fiske warf einen Blick zurück in Dellasandros Büro und auf das Foto auf seinem Bücherschrank. Es zeigte seine Frau und seine Kinder. Eine sehr glücklich aussehende Familie. Offensichtlich nur an der Oberfläche. Als er das Büro verließ, kam er zum Schluß, daß das Foto ziemlich genau zusammenfaßte, wie diese Institution und die Welt im allgemeinen funktionierte: Oberflächen konnten sehr trügerisch sein; man mußte tiefer graben, um die unverfälschte Wirklichkeit zu finden.

Rufus trat auf die Bremse. »Ich werde den ersten Cop anhalten, den ich sehe«, sagte er. »Du brauchst dringend Hilfe.«

Mühsam setzte Josh sich auf. »Den Teufel wirst du tun. Die Cops nehmen dich fest, finden Tremaine und Rayfield, und du bist erledigt.«

»Du brauchst einen Arzt, Josh.«

»Ich brauche gar nichts.« Mit einer plötzlichen Bewegung griff er nach seiner Pistole. »Wir haben das angefangen, wir bringen es zu Ende.« Er richtete den Lauf der Waffe auf seinen Bauch. »Wenn du anhältst, schieße ich mir ein Loch in den Balg.«

»Du bist verrückt. Verdammt, was soll ich denn machen?«

Josh spuckte Blut. »Suche Fiske und das Mädchen. Ich kann dir nicht mehr helfen, vielleicht können sie es.«

Rufus warf einen Blick auf die Pistole.

»Versuch es erst gar nicht. So eine Kugel ist verdammt schnell.«

Rufus legte den Gang wieder ein und fuhr auf die Straße zurück. Josh beobachtete ihn; sein Blick wurde immer wieder unscharf. »Hör mit der Scheiße auf.«

»Was?«

»Ich sehe doch, daß du vor dich hin murmelst. Hör auf, für mich zu beten.«

»Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, wann ich mit dem lieben Gott spreche.«

»Halt mich aber da raus.«

»Ich bete dafür, daß er dich am Leben hält.«

»Hast du den Eindruck, das würde mich einen Dreck scheren? Du verschwendest deine Zeit.«

»Gott hat mir die Kraft gegeben, diesen Jeep hochzuheben.«

»Du hast diesen verdammten Schrotthaufen hochgehoben. Es sind keine Engel vom Himmel hinabgestiegen, um dir zu helfen.«

»Josh .«

»Fahr einfach.« Die Intensität des Schmerzes zwang Josh, sich plötzlich vorzubeugen. »Ich will mich nicht mehr unterhalten.«

Als Sara in ihrem Büro gerade ein Gutachten abschließen wollte, erhielt sie eine dringende Aufforderung von Elizabeth Knight, zu ihr zu kommen. Das überraschte sie beträchtlich, denn normalerweise hielten die Richter am Mittwochnachmittag eine Konferenz ab, bei der sie die Fälle besprachen, die sie am Montag gehört hatten. Jeder Richter hatte zwei Sekretärinnen und einen persönlichen Assistenten. Als sie die Kammer der Knight betrat, begrüßte sie Harriet, die langjährige Sekretärin der Knight, welche die Richterin schon auf mehreren Stationen ihrer Laufbahn begleitet hatte. Normalerweise war Harriet fröhlich und freundlich, doch nun klang ihr Tonfall kalt. »Sie werden schon erwartet, Miss Evans.«

Sara ging an Harriets Schreibtisch vorbei und blieb an der Tür von Elizabeth Knights Büro stehen. Sie drehte sich um und sah, daß Harriet sie anstarrte. Schnell wandte die Sekretärin sich wieder ihrer Arbeit zu. Sara atmete tief ein und öffnete die Tür.

In dem Büro standen oder saßen Ramsey, Detective Chandler, Perkins und Agent McKenna. Elizabeth Knight saß hinter ihrem antiken Schreibtisch und fummelte nervös mit einem Brieföffner herum, als sie Sara sah.

»Bitte kommen Sie herein und setzen sich.«

Ihr Tonfall ist aber nicht gerade herzlich, dachte Sara.

Sie nahm in einem Ohrensessel Platz, der sorgfältig postiert worden war, wie sie dachte, denn sein Standort ermöglichte es allen Anwesenden, sie direkt anzusehen. Oder vielleicht zu konfrontieren?

Sie sah die Knight an. »Sie wollten mich sprechen?«

Ramsey trat vor. »Wir alle wollten Sie sprechen, oder genauer gesagt anhören, Miss Evans. Aber ich werde Detective Chandler die Ehre überlassen.« So ernst hatte Sara Ramsey noch nie gesehen. Er lehnte sich gegen den Kamin und sah sie weiterhin an. Nervös faltete er die Hände und öffnete sie wieder.

Chandler saß ihr gegenüber. Seine Knie berührten fast die ihren. »Ich muß Ihnen einige Fragen stellen, Miss Evans, und möchte, daß Sie wahrheitsgemäß antworten«, sagte er ruhig.

Sara sah sich im Raum um. »Brauche ich einen Anwalt?« fragte sie nur halb im Scherz.

»Nicht, wenn Sie nichts Falsches getan haben, Sara«, stellte die Knight schnell klar. »Doch Sie sollten die Entscheidung, ob Sie einen Rechtsbeistand hinzuziehen möchten, selbst treffen.«

Sara schluckte unter Schwierigkeiten und sah dann wieder Chandler an. »Was möchten Sie also wissen?«

»Haben Sie je den Namen Rufus Harms gehört?«

Sara schloß kurz die Augen. Ach, du Scheiße. »Lassen Sie mich erklären .«

»Ja oder nein, Miss Evans?« sagte Chandler. »Für Erklärungen haben Sie später Gelegenheit.«

Sie nickte. »Ja«, sagte sie dann.

»Woher genau kennen Sie diesen Namen?«

Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Ich weiß, daß er ein entflohener Häftling ist. Das habe ich in der Zeitung gelesen.«

»Wann haben Sie zum erstenmal von ihm gehört?« Als sie nicht antwortete, fuhr Chandler fort: »Sie haben sich im Postraum nach einem Berufungsantrag erkundigt, den Rufus Harms angeblich eingereicht hat. Und zwar, bevor er aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, nicht wahr? Wonach haben Sie gesucht?«

»Ich dachte . ich wollte .«

»Hat John Fiske Sie darauf angesetzt?« fragte die Richterin scharf. Sie betrachtete Sara forschend, und die Enttäuschung auf ihrem Gesicht bewirkte, daß Sara sich noch schuldiger fühlte.

»Nein. Ich habe mich aus eigenem Antrieb danach erkundigt.«

»Warum?« fragte Chandler. Aufgrund seines unverbindlichen Gesprächs mit Fiske in der Cafeteria des Gerichts ahnte er die Wahrheit bereits. Aber er mußte sie von ihr hören.

Sara atmete tief aus und ließ den Blick erneut über die Mächte gleiten, die sich gegen sie verbündet hatten. Sie wünschte sich, Fiske würde plötzlich auftauchen und ihr helfen, aber das würde nicht geschehen. »Ich habe irgendwann zufällig etwas gesehen, das wie ein Antrag mit Rufus Harms’ Namen darauf aussah. Im Postraum habe ich mich danach erkundigt, weil ich mich nicht entsann, ihn auf der Liste gesehen zu haben. Dort fand sich aber kein Eintrag.«

»Wo haben Sie diesen Antrag gesehen?« warf Ramsey ein, bevor Chandler dieselbe Frage stellen konnte.

»Irgendwo«, sagte Sara und schaute ganz elend drein.

»Sara«, sagte die Knight barsch, »es hat keinen Zweck, jemanden zu decken. Sagen Sie uns einfach die Wahrheit. Werfen Sie dafür nicht Ihre Karriere weg.«

»Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn gesehen habe, ich habe ihn einfach irgendwo gesehen. Vielleicht zwei Sekunden lang. Und ich habe nur den Namen >Harms< gesehen, nicht, was in der Akte stand«, sagte Sara starrsinnig.

»Aber wenn Sie vermutet haben, daß es ein Berufungsantrag war, der nicht ordnungsgemäß verzeichnet worden war«, sagte Perkins, »hätten Sie ihn doch in den Postraum bringen und eintragen lassen können.«

Was sollte sie darauf antworten? »Ich hatte gerade keine Zeit, und eine weitere Gelegenheit bot sich nicht.«

»Sie hatten gerade keine Zeit?« Ramsey schien jeden Augenblick explodieren zu wollen. »Wie ich gehört habe, haben Sie sich erst vor kurzem im Postraum nach diesem >verschwundenen< Antrag erkundigt. Da hatten Sie immer noch keine Zeit, ihn eintragen zu lassen?«

»Zu diesem Zeitpunkt wußte ich nicht, wo der Antrag war.«

»Hören Sie, Miss Evans«, sagte McKenna energisch, »entweder, Sie sagen es uns, oder wir erfahren es von einer anderen Quelle.«

Sara ging zum Gegenangriff über. »Ich mag Ihren Tonfall nicht, und noch weniger, daß Sie mich so behandeln.«

»Es liegt wohl in Ihrem Interesse, mit uns zusammenzuarbeiten«, sagte McKenna, »und endlich damit aufzuhören, die Fiske-Brüder zu schützen.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Wir haben Grund zu der Annahme, daß Michael Fiske diesen Antrag entwendet hat und Sie irgendwie in diese Sache verwickelt sind«, klärte Chandler sie auf.

»Wenn er den Antrag an sich genommen hat, und Sie haben davon gewußt, aber geschwiegen, haben Sie sich eines schwerwiegenden Verstoßes gegen das Berufsethos schuldig gemacht, Miss Evans«, sagte Ramsey.

»Sie haben all diese Fragen doch nur gestellt, weil John Fiske Sie dazu angestiftet hat, nicht wahr?«

»Es mag Ihnen zwar unglaublich vorkommen, aber ich kann durchaus selbständig denken und handeln, Agent McKenna«, erwiderte sie hitzig.

»Sie wissen, daß Michael Fiske eine Lebensversicherung von einer halben Million Dollar abgeschlossen und seinen Bruder als Begünstigten eingetragen hat?«

»Ja, das hat er mir gesagt.«

»Und Sie wissen auch, daß John Fiske kein Alibi für die Tatzeit hat?«

Sara schüttelte den Kopf und lächelte verkniffen. »Sie verschwenden kostbare Zeit, wenn Sie versuchen, den Mord an Michael seinem Bruder anzuhängen. Er hat nichts damit zu tun, und er setzt alles daran, Michaels Mörder zu finden.«

McKenna steckte die Hände in die Taschen und betrachtete sie einen Moment lang. Dann änderte er seine Taktik.

»Würden Sie sagen, daß die Fiske-Brüder sich nahestanden?«

»Was meinen Sie mit >nah<?«

McKenna verdrehte die Augen. »Das, was man im allgemeinen darunter versteht, mehr nicht.«

»Nein, ich glaube nicht, daß sie sich besonders nahestanden. Und?«

»Wir haben die Versicherungspolice in Michael Fiskes Wohnung gefunden. Erklären Sie mir mal, warum er eine so hohe Lebensversicherung abgeschlossen und seinen Bruder, dem er gar nicht so nahe stand, zum Begünstigten gemacht hat. Warum nicht seine Eltern? Wie ich herausgefunden habe, könnten sie das Geld sehr gut brauchen.«

»Ich weiß nicht, was Michael gedacht hat, als er seinen Bruder einsetzte. Das werden wir wohl nie erfahren.«

»Vielleicht hat Michael die Versicherung gar nicht abgeschlossen.«

Einen Moment lang war Sara wie betäubt. »Was meinen Sie damit?«

»Wissen Sie, wie einfach es ist, eine Lebensversicherung auf eine andere Person abzuschließen? Man muß sich nicht durch ein Foto ausweisen. Eine Krankenschwester kommt ins Haus und nimmt einem die Maße und eine Blutprobe ab. Man fälscht ein paar Unterschriften und bezahlt die Prämien über ein Konto, das man unter falschem Namen eingerichtet hat.«

Sara riß die Augen auf. »Behaupten Sie etwa, John hätte sich als sein Bruder ausgegeben, um eine Lebensversicherung auf ihn abzuschließen?«

»Warum nicht? Damit wäre doch viel klarer, warum zwei entfremdete Brüder einen so starken finanziellen Pakt geschlossen haben.«

»Sie kennen John Fiske offensichtlich nicht.«

McKenna betrachtete sie auf eine Art und Weise, die ihr entnervend vorkam. »Sie aber auch nicht, Miss Evans.«

McKennas nächste Sätze versetzten ihr fast den K.-o.-Schlag.

»Haben Sie gewußt, daß Michael Fiske von einer Kugel getötet wurde, die aus einer Neun-Millimeter-Pistole abgefeuert wurde?« Er legte der Wirkung halber eine Pause ein. »Und daß John Fiske einen Waffenschein für eine Neun-MillimeterPistole hat? Und er hat Ihnen bestimmt auch erzählt, dieser Berufungsantrag hätte etwas mit dem Mord an seinem Bruder zu tun, nicht wahr?«

Sara sah Chandler an. »Das kann ich nicht glauben.«

»Na ja«, erwiderte der Detective, »bewiesen ist natürlich noch nichts.«

Perkins verschränkte die Arme vor der Brust und nickte nachdenklich. »Wir haben einen Anruf vom Office of Special Military Operations bekommen, Miss Evans. Ein Master Sergeant Dillard. Er behauptet, Sie hätten ihn wegen Rufus Harms anrufen und gesagt, Harms hätte beim Obersten Gerichtshof einen Berufungsantrag eingereicht, und Sie wollten etwas

überprüfen.«

»Kein Gesetz auf der Welt verbietet mir, ein Telefongespräch zu führen, um etwas zu klären, oder?«

»Also gestehen Sie ein, ihn angerufen zu haben«, sagte Perkins triumphierend und sah zuerst Ramsey und dann die Knight an. »Das heißt, Sie gestehen ein, Einrichtungen des Gerichts benutzt zu haben, um während Ihrer Arbeitszeit persönliche Nachforschungen über irgendeinen entflohenen Sträfling zu betreiben. Und überdies haben Sie auch noch das Militär belogen, denn wie Sie selbst gesagt haben, ist hier solch ein Antrag nicht verzeichnet.«

»Ihre Verstöße häufen sich«, fügte McKenna hinzu.

»Ich weise diesen Vorwurf zurück. Soweit es mich betrifft, war es eine Angelegenheit des Gerichts, und ich war zu diesem Anruf berechtigt.«

»Miss Evans, werden Sie uns sagen, wer genau diesen Antrag an sich genommen hat?« Ramsey musterte sie, wie er während der mündlichen Verhandlung an diesem Morgen die Anwälte gemustert hatte. »Wenn jemand bei diesem Gericht einen Antrag gestohlen hat, bevor er abgelegt wurde - schon dieser Gedanke ist unvorstellbar -, und Sie wissen, wer es war, haben Sie dieser Institution gegenüber die Pflicht, uns zu sagen, wer es war.«

Sie alle kannten die Antwort auf diese Frage, wurde Sara klar, oder glaubten sie zumindest zu kennen. Doch sie würde ihnen keine Klarheit verschaffen. Sie brachte die letzten Kraftreserven auf, von denen sie gar nicht wußte, daß sie sie überhaupt hatte, und erhob sich langsam. »Ich glaube, ich habe genug Fragen beantwortet, Chief Justice.«

Ramsey schaute zu Perkins und dann zu Elizabeth Knight hinüber. Sara glaubte zu sehen, wie alle drei fast unmerklich nickten.

»Dann, Sara, muß ich Sie bitten, mit sofortiger Wirkung freiwillig von Ihrem Posten als wissenschaftliche Mitarbeiterin

zurückzutreten«, sagte die Knight mit brechender Stimme.

Sara verspürte kaum Überraschung. »Ich verstehe, Richterin Knight. Es tut mir leid, daß es dazu gekommen ist.«

»Nicht annähernd so leid wie mir. Mr. Perkins wird Sie hinausbegleiten. Sie dürfen Ihre persönlichen Besitztümer aus Ihrem Büro holen.« Die Richterin wandte den Blick abrupt ab.

Als Sara sich umdrehte, erklang wieder Ramseys dröhnende Stimme. »Miss Evans, falls Ihr Vorgehen dieser Institution auch nur den geringsten Schaden zugefügt haben sollte, werden wir alle geeigneten Schritte gegen Sie und alle anderen Beteiligten einleiten. Doch wenn ich die Lage richtig einschätze, ist der Schaden schon geschehen und vielleicht nicht wiedergutzumachen.« Seine Stimme hob sich dramatisch. »In diesem Fall möge Ihr Gewissen Sie wegen dieser ungeheuerlichen Tatsache bis ans Ende Ihrer Tage plagen!«

Ramseys Gesicht war rot vor Entrüstung; sein hagerer Körper schien die Nähte des Anzugs sprengen zu wollen. Sara konnte alles in seinen glühenden Augen sehen: Ein Skandal während seiner Amtszeit! In der einen Institution, die in einer Stadt, die schon berühmt dafür war, daß ihr Name ständig durch solche Eklats in den Schmutz gezogen wurde, bislang über jeden Zweifel erhaben gewesen war. Sein Platz in den Geschichtsbüchern, seine lange, erfolgreiche Laufbahn in der Rechtsprechung wurde nun durch die Fehler einer unbedeutenden Assistentin verunstaltet; die Überlieferung seines Berufslebens wurde auf einige erklärende Fußnoten reduziert. Hätte sie vor seinen Augen seine gesamte Familie niedergestreckt, hätte sie den Mann nicht schwerer treffen können. Sara Evans floh aus dem Raum, bevor sie in Tränen ausbrach.