KAPITEL 24
Chandler schaute sich in Michael Fiskes Büro um. Es befand sich im ersten Stock des Gebäudes - ein großes Zimmer mit hohen Decken und fünfzehn Zentimeter breiten Zierleisten. Zwei schwere Holzschreibtische, beide mit Workstations für die Computer. Zwei Wände wurden von Regalen mit juristischen Fachbüchern und Heftern mit Gerichtsakten gesäumt; an einer anderen Wand standen Holzschränke. Neben einem der Schreibtische, die beide mit Aktenstapeln beladen waren, stand ein Bücherrollwagen. Das Büro kam Chandler ziemlich unordentlich vor.
Perkins sah Chandler an. »Während Sie den Raum durchsuchen, muß jemand vom Gericht dabeisein. Hier gibt es viele vertrauliche Dokumente. Entwürfe von Urteilsbegründungen, Memos von Richtern und Assessoren und so weiter. Unterlagen über schwebende Verfahren.«
»In Ordnung. Wir werden nichts wegnehmen, was mit solchen Fällen zu tun haben könnte.«
»Woher wollen Sie denn wissen, ob es sich um ein solches Dokument handelt oder nicht?«
»Ich werde Sie fragen.«
»Das hilft Ihnen aber nicht weiter. Ich bin ja nicht mal Anwalt.«
»Tja«, sagte Chandler, »dann holen Sie jemanden her, der es mir sagen kann, denn ich werde dieses Büro durchsuchen.«
»Das geht heute wahrscheinlich nicht mehr. Kann es nicht bis morgen warten? Ich glaube, die Assessoren sind alle schon nach Hause gegangen. Chief Justice Ramsey war der Ansicht, daß sie nach den Vorfällen in letzter Zeit keine Überstunden machen sollten.«
»Ein paar Richter sind noch hier, Richard«, sagte Klaus.
Perkins warf Klaus einen unfreundlichen Blick zu, worauf Klaus zu Dellasandro hinüberschaute. »Ich wollte die Richter nicht in die Sache hineinziehen, wenn es nicht unbedingt nötig ist«, sagte er. »Aber ich will sehen, was ich tun kann. Bis ich zurück bin, muß ich diese Tür leider abschließen.«
Chandler trat einen Schritt auf Perkins zu. »Jetzt hören Sie mal gut zu, Richard. Ich bin von der Polizei, ja? Aber vielleicht habe ich Ihre Bemerkung falsch aufgefaßt, und Sie haben es gar nicht so gemeint, wie ich es verstanden habe.«
Perkins errötete, schloß die Tür aber nicht ab. Er bedeutete Klaus, ihm zu folgen, und die zwei Männer gingen davon. Dellasandro blieb zurück und unterhielt sich mit McKenna.
Chandler ging zu Fiske hinüber. »Ich habe das Gefühl, daß die sich schon ganz genau überlegt haben, wie sie uns abfertigen wollen.«
»McKenna kannte Ihren Namen bereits, bevor Sie ihm vorgestellt wurden.«
»Offensichtlich haben sie sich schon schlau gemacht, bevor wir hier eintrafen.«
»Tja, das kann man ihnen wohl nicht verdenken.«
»Ich gehe mal zu McKenna und rede mit ihm«, sagte Chandler. »Man weiß ja nie, wann man vom FBI mal eine Gefälligkeit braucht.«
Fiske lehnte sich an die Wand und schaute auf die Uhr. Er hatte seinen Vater noch immer nicht erreicht.
Die Tür des Büros, das sich schräg gegenüber vom Büro seines Bruders befand, wurde geöffnet, und ein junger Mann kam heraus.
Fiske nickte ihm zu. »Hier ist ja ganz schön was los.«
»Sind Sie von der Polizei?«
Fiske schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus. »Bin nur ein Beobachter. Ich bin John Fiske. Mike war mein Bruder.«
Der junge Mann erbleichte. »O Gott, es ist schrecklich. Schrecklich. Es tut mir sehr leid.« Er gab Fiske die Hand. »Ich bin Steven Wright.«
»Haben Sie Mike gut gekannt?«
»Eigentlich nicht. Ich habe erst in dieser Sitzungsperiode hier angefangen. Bei Richterin Knight. Ich weiß aber, daß jeder hier eine sehr hohe Meinung von Ihrem Bruder hatte.«
Fiske schaute zu der Tür, aus der Wright gekommen war. »Ist das Ihr Büro?«
Wright nickte.
»Im Büro meines Bruders war wohl ziemlich viel los.«
»Das können Sie laut sagen. Den ganzen Tag ging es dort rein und raus.«
»Mr. Perkins und Chief Dellasandro?«
»Und der Herr da drüben.«
Fiske drehte sich in die Richtung, in die Wright zeigte. »Das ist Agent McKenna vom FBI«, sagte er.
Wright schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe nie jemanden gekannt, der ...« Er hielt inne und schaute verlegen drein.
»Schon gut. Ich weiß, was Sie meinen.« Plötzlich galt Fiskes ganze Aufmerksamkeit zwei Personen, die auf ihn zukamen. Genauer gesagt, einer dieser Personen. Obwohl die Frau gut aussah, kam sie Fiske wie der Wildfang von nebenan vor. Wie jemand, mit dem man Football oder Schach spielen konnte. Und gegen den man wahrscheinlich den kürzeren zog.
Sara Evans musterte Fiske. Sie hatte ihn gesehen, als er das Gebäude betrat, und hatte sich denken können, weshalb er gekommen war. Sie war in der Nähe geblieben - für den Fall, daß sie mit einem der Assessoren sprechen mußten. Deshalb hatte Perkins sie so schnell »gefunden«. Sara blieb direkt vor Fiske stehen, so daß auch Perkins abrupt haltmachen mußte.
»Oh«, sagte er, »John Fiske, das ist Sara Evans.«
»Sie sind Michaels Bruder?«
»Lassen Sie mich raten ... er hat nie von mir gesprochen.«
»Doch, hat er.«
Sie wechselten einen festen Händedruck. Das Weiße in Saras Augen war gerötet, ebenso ihre Nasenspitze. Ihre Stimme klang müde. Fiske bemerkte, daß sie mit der anderen Hand ein Taschentuch umkrampfte. Er hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben.
»Das mit Michael tut mir sehr, sehr leid«, sagte sie.
»Danke. Es war ein schrecklicher Schock.« Fiske blinzelte. War da etwas in ihren Augen gewesen, als er diese Bemerkung gemacht hatte? Eine Andeutung, daß der Mord für Sara Evans gar nicht so schockierend, so überraschend gewesen war?
Perkins blickte Wright an. »Ich wußte gar nicht, daß Sie in Ihrem Büro waren.«
»Vielleicht hätten Sie mal anklopfen sollen«, sagte Fiske.
Perkins warf ihm einen unfreundlichen Blick zu und ging zu Chandler und McKenna hinüber.
»Hallo, Sara«, sagte Wright, und ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
So wie Wright Sara anschaute, konnte Fiske unschwer erkennen, daß der junge Mann vernarrt in sie war.
»Hallo, Steven. Wie geht es dir?«
»Nicht besonders, aber das dürfte heute wohl allen so ergangen sein. Ich fahre gleich nach Hause.«
Sara schaute Fiske an. »Steven will damit sagen ... heute haben wir alle nur an Ihren Bruder gedacht. Es hat uns sehr erschüttert, alle, die hier arbeiten, bis hinauf zum Obersten Richter. Aber ich weiß, das kommt nicht annähernd Ihrem Schmerz nahe, Ihrem Verlust, Mr. Fiske.«
Sara sagte es auf so seltsame Weise, daß Fiske unwillkürlich stutzte. Doch bevor er antworten konnte, gesellte Perkins sich wieder zu ihnen.
»Na schön, Detective Chandler von der Mordkommission Washington wartet mit einem Herrn vom FBI«, sagte Perkins zu Sara.
»Weshalb soll Michaels Büro durchsucht werden?«
Perkins’ Tonfall war beinahe schroff. »Das hat uns nicht zu kümmern.«
»Es gehört zur Ermittlungsarbeit, Miss Evans«, erklärte Fiske. »Für den Fall, daß es einen Zusammenhang mit dem Mord gibt.«
»Ich dachte, es sei ein Raubmord gewesen.«
»Es war Raubmord. Und je schneller wir Detective Chandler davon überzeugen können, daß die Tat nicht das geringste mit dem Gericht zu tun hat, um so besser«, sagte Perkins ungehalten.
»Falls dem so ist«, sagte Fiske.
»Natürlich ist dem so.« Perkins wandte sich an Sara. »Wie ich schon auf dem Weg hierher gesagt habe - sorgen Sie bitte dafür, daß die Beamten keine vertraulichen Dokumente zu sehen bekommen oder gar mitnehmen.«
»Was genau meinen Sie mit >vertraulich<?« fragte Sara.
»Sie wissen schon ... alles, was mit noch ausstehenden Urteilen zu tun hat. Begründungen, Memos und dergleichen.«
»Sollte ich nicht an dieser Entscheidung beteiligt werden, Richard?« erklang eine Stimme. »Oder liegt das außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs?«
Fiske erkannte den Mann sofort, der sich ihnen näherte. Wie ein altehrwürdiger Ozeanliner, der majestätisch in einen Hafen einfuhr, schritt Harold Ramsey auf sie zu.
»Ich habe Sie gar nicht gesehen, Chief«, sagte Perkins nervös.
»Offensichtlich nicht.« Ramsey schaute Fiske an. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«
»Michaels Bruder, John Fiske«, stellte Sara ihn vor.
Ramsey streckte die Hand aus; seine langen, knochigen Finger schienen sich zweimal um die Hand seines Gegenübers zu winden. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Michael war ein sehr außergewöhnlicher junger Mann. Ich weiß, daß dieser Verlust für Sie und Ihre Familie schrecklich sein muß. Wenn wir irgend etwas für Sie tun können, lassen Sie es uns bitte wissen.«
Fiske bedankte sich für die Anteilnahme. Er kam sich wie ein Fremder bei einer Totenwache vor, dem jeder sein Beileid ausspricht, obwohl niemand den Verstorbenen gekannt hatte.
»Das werde ich«, sagte Fiske ernst.
Ramsey schaute Perkins an und nickte zu Chandler und McKenna hinüber. »Was sind das für Leute, und was wollen sie?«
Perkins erklärte kurz und knapp, worum es ging, doch als er seinen Bericht beendet hatte, wurde deutlich, daß Ramsey ihm gedanklich um mindestens fünf Schritte voraus war.
»Würden Sie Detective Chandler und Agent McKenna bitten, zu uns zu kommen, Richard?«
Nachdem man sie miteinander bekannt gemacht hatte, wandte Ramsey sich an Chandler. »Wir bekommen das Problem vielleicht besser in den Griff, wenn wir uns mit Richter Murphy und seinen Mitarbeitern zusammensetzen und mündlich die Fälle durchgehen, mit denen Michael zu tun hatte. Ich möchte versuchen, Ihr Recht, Mr. Chandler, in diesem Fall zu ermitteln, gegen die Verantwortung des Gerichts abzuwägen, seine Entscheidungen so lange vertraulich zu behandeln, bis sie öffentlich bekanntgemacht werden.«
»Na schön.« Und ich will nicht, daß jemand mir unterstellt, ich könnte was durchsickern lassen, dachte Chandler bei sich.
»Ich sehe aber keinen Grund, Ihnen die Durchsuchung von Michaels persönlichen Besitztümern zu verwehren, falls er hier welche aufbewahrt hat. Ich möchte Sie nur bitten, sämtliche Dokumente beiseite zu legen, die mit der Arbeit des Gerichts zu tun haben, bis Sie mit Richter Murphy gesprochen haben. Sollte sich dann eine Verbindung zwischen einem Fall, an dem Michael gearbeitet hat, und seinem Tod ergeben, werden wir dafür sorgen, daß Sie dieser Spur rückhaltlos nachgehen können.«
»In Ordnung, Chief Justice«, sagte Chandler, und auch McKenna nickte zustimmend. »Ich habe übrigens schon kurz mit Richter Murphy gesprochen.«
»Gut.« Ramsey wandte sich an Perkins. »Richard, bitte informieren Sie Richter Murphy und seine Assessoren, daß Detective Chandler so schnell wie möglich mit ihnen sprechen möchte. Ich gehe doch recht in der Annahme, daß es morgen nach der mündlichen Verhandlung früh genug für Sie ist?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Chandler.
»Außerdem werde ich dafür sorgen, daß unsere Rechtsabteilung Ihnen bei der Koordination hilft und alle Fragen hinsichtlich der Vertraulichkeit beantwortet, die sich möglicherweise ergeben. Sara, Sie stehen morgen doch zur Verfügung, oder? Sie standen Michael nahe, nicht wahr?«
Fiske musterte Sara. Wie nahe, fragte er sich.
Wieder reichte Ramsey Fiske die Hand. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich wissen ließen, wann und wo die Beisetzung stattfindet.«
Dann wandte Ramsey sich an Perkins. »Richard, kommen Sie bitte in mein Büro, sobald Sie mit Richter Murphy gesprochen haben.« Seiner Stimme war deutlich zu entnehmen, worauf er anspielte.
Nachdem Ramsey und Perkins gegangen waren, beobachtete Chandler, wie McKenna noch einen Blick in Michael Fiskes Büro warf. »Chief Dellasandro«, sagte der Detective, »um Sie so wenig wie möglich bei der Arbeit zu stören, werde ich morgen mit einem ganzen Team anrücken, um das Büro zu durchsuchen. Dann können wir das mit einem Mal erledigen.«
»Sehr gut. Vielen Dank«, erwiderte Dellasandro.
»Aber ich möchte, daß diese Tür bis dahin verschlossen bleibt«, fuhr Chandler fort. »Niemand betritt das Büro. Das gilt auch für Sie, Mr. Perkins und« - er schaute demonstrativ auf Agent McKenna - »alle anderen.«
McKenna blickte zu Chandler hinüber, während Dellasandro zustimmend nickte.
Fiske sah sich um und bemerkte, daß Wright auf Chandler starrte. Dann zog der Assessor abrupt die Tür seines Büros zu, und Fiske hörte, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde. Kluger Junge, dachte er.
Als Fiske und Chandler das Gebäude verließen, ließ eine Stimme sie innehalten.
»Haben Sie etwas dagegen, daß ich Sie hinausbegleite?« fragte Sara.
»Aber nein«, erwiderte Chandler. »John?«
Fiske zuckte unverbindlich die Achseln.
Chandler lächelte, während sie zum Ausgang schlenderten. »Wieso habe ich bloß das Gefühl, als sei vorhin der Allmächtige bei uns gewesen?«
Sara lächelte. »Dieses Gefühl hat man fast immer, wenn der Oberste Richter sich in die Niederungen der Assessoren begibt.«
»Sie sind Assessorin bei Richterin Knight?« fragte Fiske.
»Im zweiten Jahr.«
Als sie um die Ecke gingen, stießen sie beinahe mit Elizabeth und Jordan Knight zusammen.
»Oh, Richterin Knight. Wir haben gerade über Sie gesprochen«, sagte Sara und machte die Ermittlungsbeamten mit der Richterin und dem Senator bekannt.
»Senator«, sagte Chandler, »wir wissen zu schätzen, was Sie für Washington tun. Ohne die zusätzlichen Mittel, die Sie kürzlich für die Polizei durchgepaukt haben, müßte ich die Ermittlungen in Mordsachen mit dem Fahrrad vornehmen.«
»Wie Sie wissen, ist noch viel mehr zu tun. Die Probleme sind über einen langen Zeitraum hinweg entstanden, und es wird genauso lange dauern, sie aus der Welt zu schaffen«, leierte Knight im Wahlkampfton herunter. Er blickte Fiske an, und seine Stimme wurde weicher. »Es tut mir sehr leid, was mit Ihrem Bruder geschehen ist, John, auch wenn ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Ich bin ziemlich selten hier im Gericht. Würde ich zu oft mit meiner Frau zu Mittag essen, kämen die Medienvertreter womöglich auf den Gedanken, daß ich ihre richterlichen Entscheidungen zu beeinflussen versuche. Diese Leute vergessen offenbar, daß Elizabeth und ich Haus und Bett miteinander teilen.« Er wurde ernst. »Mr. Fiske, ich möchte Ihnen und Ihrer Familie mein aufrichtiges Beileid aussprechen.«
Fiske dankte ihm. »Auch wenn es keine große Rolle spielt«, fügte er hinzu, »ich habe Sie gewählt.«
»Jede Stimme zählt.« Knight schaute zu seiner Frau hinüber und lächelte herzlich. »Genau wie hier am Gericht, nicht wahr, Frau Richterin? Wie hat Brennan es ausgedrückt? Man braucht fünf Stimmen, um irgend etwas bewirken zu können? Mein Gott, müßte ich mir nur um fünf Stimmen Sorgen machen, wäre ich mindestens fünfzehn Kilo leichter, und mein Haar wäre noch schwarz.«
Elizabeth Knight lächelte nicht. Ihre Augen waren so rot wie die Saras, ihre Haut noch bleicher als gewöhnlich. »Sara«, sagte sie, »morgen nach der Nachmittagssitzung würde ich gern mit Ihnen sprechen.« Sie räusperte sich. »Und ich möchte, daß Sie mit Steven das Memo für den Fall Chance durchsprechen. Ich brauche es spätestens morgen. Und wenn Steven die Nacht durcharbeitet - ich muß das Memo haben!« Ihre Stimme war beinahe schrill.
Sara schaute betroffen drein. »Ich werde ihm sofort Bescheid sagen, Richterin.«
Elizabeth Knight ergriff Saras rechte Hand. »Danke.« Sie schluckte mühsam. »Und bitte vergessen Sie nicht das Abendessen für Richter Wilkinson. Morgen abend um sieben bei mir zu Hause.«
»Ich hab’ es bereits in den Terminkalender eingetragen«, sagte Sara ein wenig zögerlich.
Elizabeth Knight schaute Fiske an. »Ihr Bruder war ein sehr begabter Anwalt, Mr. Fiske. Ich weiß, daß es Ihnen pietätlos erscheinen mag, daß wir an einem Tag wie diesem über Memos und Einladungen zum Abendessen sprechen, aber die Arbeit dieses Gerichts kann und darf nicht ins Stocken geraten, mögen noch so tragische Dinge geschehen sein. Diese Lektion habe ich schon vor langer Zeit gelernt«, fügte sie ein wenig müde hinzu. »Wie gesagt, es tut mir sehr leid.« Sie schaute auf die Uhr. »Du lieber Himmel, Jordan, du wirst noch deinen Termin auf dem Hill versäumen. Und auch ich muß noch einiges erledigen.« Wieder blickte sie Fiske an. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen.«
Fiske zuckte die Achseln. »Wie Sie schon sagten, das Räderwerk bleibt für nichts und niemanden stehen.«
»Richterin Knight ist hart, aber fair«, sagte Sara, nachdem der Senator und seine Frau gegangen waren, und warf Fiske einen raschen Blick zu. »Sie hat es bestimmt nicht so gemeint.«
»O doch«, sagte Fiske.
»Na ja«, warf Chandler ein, »sie mußte bestimmt dreimal so hart schuften wie ein Mann, um dorthin zu gelangen, wo sie jetzt ist. So was vergißt man nie.«
»Das ist aber eine sehr liberale Einstellung«, sagte Sara.
»Sie kennen meine Frau nicht, sonst wüßten Sie, wie ich darauf komme.«
Sara lächelte. »Auch wenn Ramsey und Knight in vieler Hinsicht zusammenarbeiten - sie stammen aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Ramsey ist übertrieben zuvorkommend gegenüber Richterin Knight. Vielleicht mag er keine Konfrontationen mit Frauen. Er gehört einer anderen Generation an.«
»Ich glaube nicht, daß das Geschlecht irgend etwas damit zu tun hat«, versetzte Fiske geradeheraus.
»Sie ist eine brillante Juristin«, sagte Sara ein wenig zu heftig.
Dann hörten alle den Piepton. Chandler griff an seinen Gürtel, hielt das Gerät in die Höhe und las die Nummer von dem winzigen Bildschirm ab. »Gibt es hier irgendwo ein Telefon?«
fragte er Sara.
Sie zeigte es ihm.
Kurz darauf kam Chandler zurück und schüttelte müde den Kopf. »Ich muß ein paar neue Kunden verhören. Schrotschußverletzungen an den Köpfen. Ich bin ein echter Glückspilz.«
»Könnten Sie mich zum Revier mitnehmen, damit ich wieder zu meinem Wagen komme?« fragte Fiske.
»Eigentlich muß ich genau in die entgegengesetzte Richtung.«
»Ich kann Sie fahren, Mr. Fiske«, sagte Sara schnell. Beide Männer schauten sie an. »Für heute bin ich mit der Arbeit fertig. Habe sowieso nichts geschafft gekriegt.« Sie schaute zu Boden und lächelte ein bißchen wehmütig. »Es ist die reinste Ironie, aber Michael würde es nicht gutheißen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so hingebungsvoll, so hart gearbeitet hat.« Sie schaute Fiske scharf an, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen.
»Gehen Sie doch essen, oder trinken Sie irgendwo einen Schluck«, schlug Chandler vor. »Vielleicht werden Sie feststellen, daß Sie viel zu besprechen haben.«
Fiske blickte sich um. Der Vorschlag war ihm sichtlich nicht geheuer; schließlich aber nickte er. »Wie wär’s?« fragte er Sara.
»Einverstanden.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Ich muß nur noch Steven Bescheid sagen, daß er die Nacht durcharbeiten muß«, sagte sie und ging davon.
»John«, sagte Chandler, »finden Sie soviel heraus, wie Sie können. Diese Frau stand Ihrem Bruder sehr nahe. Im Gegensatz zu Ihnen«, fügte er hinzu.
»Leute auszuhorchen ist nicht gerade meine Stärke«, sagte Fiske. Hinter Saras Rücken solche Ränke zu schmieden, verursachte ihm Schuldgefühle. Andererseits kannte er diese Frau ja nicht einmal.
»John«, sagte Chandler, als könne er Fiskes Gedanken lesen, »ich weiß, sie ist klug und hübsch, sie hat mit Ihrem Bruder zusammengearbeitet, und sein Tod hat sie schwer getroffen. Aber vergessen Sie eins nicht.«
»Und was?«
»Das alles sind keine Gründe, der Frau zu vertrauen.« Mit diesem Ratschlag zum Abschied ging Chandler davon.