KAPITEL 38

In ihrem Büro verbrachte Sara die nächste halbe Stunde damit, Fiske alles mitzuteilen, was sie herausgefunden hatte. »Wenn Barker zurückruft und uns den Namen des Anwalts nennt, können wir mit ihm sprechen und kommen vielleicht endlich ein Stück weiter.«

»Das wäre zu schön.«

»Glauben Sie, daß Michael diesen Harms im Gefängnis besucht hat?«

»Die Flucht dieses Burschen macht die Sache verflixt kompliziert.«

Sara kam plötzlich ein beängstigender Gedanke. »Sie glauben doch nicht, daß Michael irgend etwas damit zu tun hatte, oder?«

»Mein Bruder würde sich niemals an einer ungesetzlichen Tat beteiligen.«

»Nicht absichtlich, das habe ich nicht gemeint.«

»Den Zeitungsmeldungen zufolge ist Harms aus einem Krankenhaus in Roanoke geflohen, nachdem man Michaels Leiche gefunden hat. Aber ich will gar nicht behaupten, daß der Zeitpunkt rein zufällig ist.«

»Haben Sie irgendwelche brillanten Schlußfolgerungen?«

»Ich glaube, ich weiß, warum Wright ermordet wurde.«

»Warum? Weil er von Harms wußte? Weil er mitbekommen hat, was Michael getan hat?«

»Nein, er wurde umgebracht, weil er etwas gesehen hat. Etwas, das er nicht sehen sollte.«

Sara zog ihren Stuhl näher an den seinen heran. »Was meinen Sie damit?«

»Wrights Büro - Ihr ehemaliges Büro - liegt Michaels Büro genau gegenüber. Wright wollte die ganze Nacht durcharbeiten.«

Sara sank auf ihrem Stuhl zusammen. »Richtig. Weil ich es ihm gesagt habe.«

»Nein, weil Elizabeth Knight Sie angewiesen hat, Wright zu sagen, daß er notfalls durcharbeiten muß. Nun ja, seine Leiche wurde in einem Park gefunden, der nicht auf seinem Nachhauseweg liegt. Chandler hat mir gesagt, daß Wright zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens getötet wurde. Wenn er die ganze Nacht hier durcharbeiten wollte . was hatte er dann in diesem Park zu suchen?«

»Sie glauben, jemand hat ihn dorthin verschleppt und ermordet?«

»Genauer gesagt, jemand hat ihn aus diesem Gebäude in den Park gebracht und dort erschossen.«

Sara schnappte nach Luft. »Das heißt, der Mörder war hier?«

Fiske nickte. »Ich weiß nicht, ob er hier arbeitet, aber ich vermute, daß er gestern am späten Abend hier gewesen ist.«

»Was könnte Steven gesehen haben? Was hat ihn das Leben gekostet?«

»Ich glaube, er hat jemanden in Mikes Büro gehen sehen. Gestern. Wright hat gehört, wie Chandler gesagt hat, niemand dürfe das Büro betreten. Wer auch immer in Mikes Büro ging, er hat vielleicht nicht gewußt, daß Wright in seinem Büro war. Ich nehme an, Sie hängen es nicht an die große Glocke, wenn Sie Überstunden machen.«

»Manchmal erfahren wir erst in letzter Minute, daß wir länger arbeiten müssen. Wie gestern abend, zum Beispiel.«

»Sehen Sie? Also geht jemand in das Büro, um etwas zu suchen .«

»Was denn?«

»Wer weiß? Kopien des Antrags, den Mike an sich genommen hat. Telefonische Nachrichten, Computerdateien.«

»Aber das ist ein sehr, sehr großes Risiko. Das Gebäude wird rund um die Uhr vom Sicherheitspersonal bewacht.«

»Nun ja, wenn die Person wußte, daß die Polizei das Büro am nächsten Morgen gründlich durchsuchen würde, blieb ihr nur eine bestimmte Zeit, um ihr zuvorzukommen.«

»Das klingt logisch.«

»Also hört Wright etwas, oder er hat sein Memo fertig, geht hinaus und begegnet dem Eindringling.«

»Vorausgesetzt, Ihre Theorie trifft zu ... dann müßte Steven seinen Mörder doch gekannt haben?«

Fiske atmete tief ein und lehnte sich zurück. »Ich glaube schon. Andernfalls hätte er sofort Alarm geschlagen. Und ich habe gesehen, daß Perkins die Tür von Mikes Büro abgeschlossen hat. Es gibt keine Spur eines gewaltsamen Eindringens. Die Person hatte einen Schlüssel.«

»Aber dann muß doch sonst noch jemand etwas mitbekommen haben.«

»Nicht unbedingt. Wenn der Mörder sich hier im Gebäude auskennt, wird er wissen, wie er es vermeiden kann, mit Wright gesehen zu werden, bis sie das Gericht verlassen haben.«

»Dann müßte es jemand sein, dem Wright vertraut hat.«

Fiske schaute sie an. »Zum Beispiel einer der Richter?«

Sara erwiderte seinen Blick voller Entsetzen. »Ich bin ja einiges gewöhnt, aber das kann ich einfach nicht glauben.« Ihr kam ein Gedanke. »Vielleicht war es McKenna? Steven hätte ihm vertraut. FBI und so weiter.«

»Wie könnte McKenna in diese Sache verwickelt sein?«

»Keine Ahnung. Er kam mir als erster in den Sinn.«

»Weil er nicht beim Gericht ist und mich vermöbelt hat?«

Sara seufzte. »Wahrscheinlich.« Dann fiel ihr etwas ein, und sie durchstöberte die Papiere auf ihrem Schreibtisch, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. »Ich kann Ihnen sagen, wann Steven sein Büro verlassen hat.« Sie hielt die Nachricht in die Höhe, die Wright ihr hinterlassen hatte. Auf der oberen rechten Ecke befand sich ein Aufdruck mit Datums- und Uhrzeitangabe. Sie drehte das Blatt herum, damit Fiske es sehen konnte.

»Weil wir hier so viele Entwürfe erstellen, fügt das Textverarbeitungssystem automatisch das Datum und die Uhrzeit in jedes Dokument ein. Auf diese Weise können wir auf den ersten Blick sehen, ob es sich um eine aktuelle Fassung handelt oder nicht.«

Fiske betrachtete die Zeitangabe. »Dieses Blatt wurde um ein Uhr fünfzehn heute morgen ausgedruckt.«

»Genau. Steven hat die Vorlage fertiggestellt, ausgedruckt, auf meinen Schreibtisch gelegt und ist dann wahrscheinlich gegangen.«

»Und hat gesehen, was immer er gesehen hat.«

Sara schaute plötzlich verwirrt drein. »Augenblick mal. Irgendwas stimmt da nicht. Wenn ein Assessor bis spät in die Nacht arbeitet, fährt ihn normalerweise einer der Polizeibeamten des Gerichts nach Hause, falls er nicht allzu weit weg wohnt.« Sie schaute Fiske an. »Die Polizei hier ist wirklich sehr freundlich zu uns.«

»Und um ein Uhr fünfzehn fährt die U-Bahn nicht mehr, oder?«

»Nein. Außerdem ist es mit dem Auto nur ein Katzensprung zu Stevens Wohnung. Gerade mal fünf Minuten. Man hat ihn schon öfter nach Hause gefahren.«

»Also können wir davon ausgehen, daß jemand, der hier beim Gericht arbeitet, Steven nach Hause gefahren hat?«

»Wenn er wirklich erst um Viertel nach eins gegangen ist, würde ich jede Wette darauf abschließen.«

»Was ist mit einem Taxi? Vielleicht waren um diese Zeit nicht mehr so viele Wachen hier, daß jemand Wright nach Hause fahren konnte.«

Sara schaute skeptisch drein. »Das wäre schon möglich.«

»Es müßte leicht festzustellen sein, ob ein Angehöriger der Gerichtspolizei ihn nach Hause gefahren hat. Ich sage es Chandler.«

»Und was unternehmen wir jetzt?«

Fiske zuckte die Achseln. »Wir müssen Harms’ Militärakte einsehen. Ein alter Freund von mir arbeitet beim JAG. Ich rufe ihn an. Vielleicht kann er die Sache ja beschleunigen. Bis wir wissen, wer alles in diese Geschichte verwickelt ist, sollten so wenig Leute wie möglich erfahren, daß wir Nachforschungen anstellen.«

Sara erschauerte und schlang die Arme um die Brust.

»Wissen Sie was?« sagte sie. »Allmählich bekomme ich entsetzliche Angst davor, wie die Wahrheit aussehen könnte.«