KAPITEL 12

Michael Fiske schaute beim Fahren nervös nach vorn. Die Straße war schlecht, und die Scheibenwischer kämpften gegen den Wolkenbruch um ein Minimum an Sicht. Bis jetzt war Michael gut vorangekommen, denn er war praktisch nur auf dem Highway gefahren. Doch kaum hatte er die Interstate 81 verlassen, hatte es sich schlagartig geändert. Er war in Richtung Westen gefahren, vorbei an Orten mit Namen wie Pulaski, Bland und sogar an einem Etwas namens Hungry Mothers State Park, was vor seinem geistigen Auge die unbehagliche Vision sich aneinanderdrängender Massen von Müttern und Kindern heraufbeschwor, die neben den Parkwegen um etwas zu essen bettelten. Windböen, die vom nahen Big A Mountain hinunterstiegen, schüttelten den Wagen. Obwohl Fiske in Virginia geboren und aufgewachsen war, war er niemals westlich von Roanoke gewesen und hatte sich nur dort hingewagt, um das Staatsexamen abzulegen.

Er schaute zu dem Aktenkoffer hinüber, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag, und atmete tief ein. Er hatte eine Menge herausgefunden, seit er Rufus Harms’ Gesuch um Hilfe gelesen hatte.

Harms hatte ein kleines Mädchen ermordet, das mit den Eltern den Militärstützpunkt besucht hatte, wo Harms gegen Ende des Vietnamkriegs stationiert gewesen war. Harms hatte damals im Bau gesessen, doch irgendwie war ihm der Ausbruch gelungen. Aber es gab kein Motiv. Es schien sich um die zufällige Gewalttat eines Verrückten zu handeln. Diese Fakten waren unbestritten. Als Mitarbeiter am Obersten Gerichtshof standen Michael viele Informationsquellen zur Verfügung, und er hatte sie allesamt ausgeschöpft, um sich einen Überblick über die Hintergründe zu verschaffen. Doch es gab keinen Hinweis von seiten des Militärs, daß die Gründe, wie Harms sie in seiner Petition beschrieb, je existiert hatte. Michael hämmerte die Faust ans Lenkrad. Hätten Harms oder sein Anwalt dem Antrag doch nur den Brief der Army beigelegt!

Michael war schließlich zu dem Schluß gelangt, daß er seine Informationen von der Quelle selbst würde beziehen müssen: von Rufus Harms. Er hatte versucht, eine direkte Begegnung zu vermeiden, und zunächst einige Umwege probiert. Über den Rückschein hatte er Samuel Rider ausfindig gemacht, doch der Mann hatte auf Michaels Bitten um Rückruf nicht reagiert. War Rider der Verfasser des maschinengeschriebenen Briefes? Michael hielt es für möglich, ja, er ging praktisch davon aus. Er hatte im Gefängnis angerufen, um mit Harms am Telefon zu sprechen, doch man hatte seine Bitte abschlägig beschieden. Das hatte seinen Verdacht nur erhärtet. Wenn ein Unschuldiger im Gefängnis saß, war es Michaels Aufgabe - seine Pflicht, berichtigte er sich -, für dessen Freilassung zu sorgen.

Und es gab noch einen letzten Grund für diese Fahrt. Einige der in der Petition aufgeführten Namen - die Namen der Leute, die angeblich in den Tod des kleinen Mädchens verwickelt waren - kannte Michael sehr gut. Falls sich herausstellte, daß Rufus Harms die Wahrheit sagte . Michael erschauerte, während ein alptraumhaftes Szenario nach dem anderen durch seine Gedanken huschte.

Auf dem Sitz neben ihm lagen eine Straßenkarte und ein Blatt mit einer selbstverfaßten Wegbeschreibung, welche die genaue Strecke zum Gefängnis enthielt. Er war kilometerweit über Nebenstraßen mit morschen Holzbrücken gefahren, die vom Wetter und von Auspuffabgasen geschwärzt waren; durch Städte, die nicht groß genug waren, um diese Bezeichnung verdient zu haben; und vorbei an heruntergekommenen, dauergeparkten Wohnwagen, die man in schmale Felsspalten in den Ausläufern der Appalachen gezwängt hatte. Er war schlammverkrusteten Pickups begegnet, an deren Radioantennen Miniaturflaggen der Konföderierten flatterten und auf deren Gestellen in den Rückfenstern Schrotflinten und Jagdgewehre lagen. Als er sich dem Militärgefängnis näherte, wurden die verkniffenen, wettergegerbten Gesichter der wenigen Menschen, die er sah, immer unfreundlicher, und ihre Augen waren von einem ständigen, unveränderlichen Argwohn erfüllt.

Als Michael eine Felsnase umrundete, erhob sich vor ihm plötzlich die Haftanstalt. Die steinernen Wände waren dick, hoch und weitläufig, wie eine mittelalterliche Burg, die man auf dieses elende Fleckchen steinigen Bodens versetzt hatte. Er fragte sich kurz, ob die Steine von den Häftlingen selbst herbeigeschleppt worden waren und sie damit ihre eigenen Gräber hatten errichten müssen.

Er erhielt seinen Besucherausweis, fuhr durch das Haupttor und wurde dann zum Besucherparkplatz des Gefängnisses weitergeleitet. Dem Wachtposten am Eingang erklärte Michael den Grund für seinen Besuch.

»Sie stehen nicht auf der Besucherliste«, sagte der junge Soldat. Er musterte Michaels dunkelblauen Anzug und die intelligenten Gesichtszüge voller Verachtung. Ein reicher, schnieker Klugscheißer aus der Stadt, konnte Michael in den Augen des Mannes lesen.

»Ich habe mehrmals angerufen, konnte aber niemanden erreichen, der mir gesagt hätte, wie man auf die Liste gesetzt wird.«

»Das hängt vom Häftling ab. Ganz allgemein gesagt ... wenn er Sie sehen will, sehen Sie ihn. Wenn nicht, dann nicht.« Ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. »Das ist das einzige, was die Burschen zu sagen haben.«

»Wenn Sie ihm sagen, daß ein Anwalt ihn sprechen möchte, wird er mich bestimmt auf die Besucherliste setzen.«

»Sie sind sein Anwalt?«

»Ich habe im Augenblick mit einem Berufungsantrag von ihm zu tun«, sagte Michael ausweichend.

Der Wachtposten schaute in sein Hauptbuch. »Rufus Harms«, sagte er, offensichtlich verwirrt. »Der sitzt schon länger hier, als ich lebe. Was für einen Berufungsantrag kann so einer wie der denn nach all dieser Zeit noch stellen?«

»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen«, sagte Michael. »Meine Arbeit fällt unter die Schweigepflicht und ist absolut vertraulich.«

»Weiß ich. Halten Sie mich für blöd?«

»Keineswegs.«

»Wenn ich Sie hereinlasse, und es stellt sich raus, ich hätte es nicht gedurft, macht man mir die Hölle heiß.«

»Nun ja, wie wär’s, wenn Sie bei Ihrem Vorgesetzten nachfragen? Dann ist es nicht Ihre Entscheidung, und Sie kriegen keinen Ärger.«

Der Wachtposten griff nach seinem Telefon. »Das hatte ich sowieso vor«, sagte er in sehr unfreundlichem Tonfall.

Der Mann telefonierte ein paar Minuten lang und legte dann auf. »Es kommt jemand runter.«

Michael nickte.

»Woher kommen Sie?« fragte der Soldat.

»Aus Washington, D.C.«

»Wieviel verdient so einer wie Sie?« Ganz klar, welche Summe Michael jetzt auch nannte, sie wäre zu hoch gewesen.

Er sah, daß sich ein uniformierter Soldat näherte, und atmete tief ein. »Eigentlich nicht mal annähernd genug.«

Der junge Wachtposten stand schnell auf und bedachte seinen vorgesetzten Offizier mit einem militärischen Gruß. Der Offizier wandte sich Michael zu. »Bitte, kommen Sie mit, Mr. Fiske.« Der Mann war in den Fünfzigern, schlank, hatte ein ruhiges, aber energisches Auftreten und kurzgeschnittenes graues Haar, das dazu beitrug, ihn auf den ersten Blick als Berufsoffizier einzustufen.

Michael folgte dem präzise ausschreitenden Mann über den Gang in ein kleines Büro. Dann erklärte er ihm fünf Minuten lang genau, was ihn hierhergeführt hatte, ohne irgendwelche bedeutenden Informationen preiszugeben. Das Juristen-Fachchinesisch half Michael, um den heißen Brei zu reden.

»Wenn Sie Mr. Harms sagen, daß ich hier bin, wird er mich empfangen.«

Der Mann drehte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern und hielt den Blick der toten Augen auf sein Gegenüber gerichtet. »Das ist ziemlich verwirrend. Rufus Harms hat vor kurzem Besuch von seinem Anwalt bekommen. Und das waren nicht Sie.«

»Ach ja? Hieß der Anwalt Samuel Rider?« Der Offizier antwortete nicht, doch das kurze Aufblitzen von Erstaunen auf seinem Gesicht ließ Michael innerlich lächeln. Seine Ahnung hatte sich als richtig erwiesen. Harms ehemaliger Militäranwalt hatte die beiliegende maschinengeschriebene Seite verfaßt. »Man kann mehr als nur einen Anwalt haben, Sir.«

»Nicht jemand wie Rufus Harms. Er hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren gar keinen Anwalt gehabt. Sicher, sein Bruder besucht ihn regelmäßig, aber dieses plötzliche Interesse an dem Mann verwirrt uns schon. Das können Sie sicher verstehen.«

Michael lächelte freundlich, doch seine nächsten Worte waren bestimmt. »Sie werden doch sicher das Recht eines Häftlings anerkennen, mit einem Anwalt zu sprechen.«

Der Offizier musterte ihn einen Moment, griff schließlich nach dem Telefon und sprach in den Hörer. Dann legte er wieder auf und schaute Michael wortlos an. Fünf Minuten verstrichen, dann klingelte das Telefon. Der Mann hob ab, lauschte kurz und nickte Michael dann zu. »Er will mit Ihnen sprechen«, erklärte er knapp.