KAPITEL 28

Fiske erklärte Sara den Weg, als sie in das Viertel am Rand von Richmond fuhren, in dem sein Vater wohnte, und schließlich auf die Schotterauffahrt abbogen. Nach einem weiteren heißen und feuchten Sommer in Richmond war das Gras stellenweise braun, doch vor dem Haus befanden sich sorgfältig gepflegte Blumenbeete, die vom ständigen Gießen prächtig gediehen.

»Sind Sie in diesem Haus aufgewachsen?«

»Das einzige Haus, das meinen Eltern je gehört hat.« Fiske schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Ich sehe seinen Wagen nicht.«

»Vielleicht steht er in der Garage.«

»Da ist kein Platz mehr. Mein Vater hat vierzig Jahre lang als Automechaniker gearbeitet. Da hat sich eine Menge Schrott angesammelt.« Er schaute auf die Uhr. »Verdammt, wo steckt er bloß?« Er stieg aus, und Sara folgte ihm.

Fiske blickte sie über das Wagendach hinweg an. »Wenn Sie wollen, können Sie hier warten.«

»Ich begleite Sie«, sagte Sara rasch.

Fiske schloß die Haustür auf, und sie traten ein. Er knipste das Licht an. Durch das kleine Wohnzimmer gingen sie ins angrenzende Eßzimmer. Auf dem Eßtisch standen zahlreiche Fotos. Sara betrachtete sie. Eins zeigte Fiske in seiner FootballMontur: Blutflecken im Gesicht, Grasflecke auf den Knien, verschwitzt. Sehr sexy.

Sie riß sich zusammen und wandte den Blick ab. Plötzlich kam sie sich schuldig vor.

Sie schaute sich einige der anderen Fotos an. »Sie beide waren sehr sportlich.«

»Mike war der Supersportier in unserer Familie. Er hat jede meiner Bestleistungen übertroffen. Spielend leicht.«

»Der Ehrgeiz liegt wohl in der Familie.«

»Mike hat auch die Abschiedsrede seiner Klasse gehalten. Er hatte einen weit überdurchschnittlichen Notendurchschnitt und fast die höchste erreichbare Punktzahl bei den Aufnahmeprüfungen an den Colleges und der juristischen Fakultät.«

»Sie hören sich an wie der stolze große Bruder.«

»Viele Leute waren stolz auf Mike«, sagte Fiske.

»Und Sie?«

Er schaute sie ruhig an. »Wegen einiger Dinge war ich stolz auf ihn, wegen anderer nicht. Alles klar?«

Sara nahm ein Foto vom Tisch. »Ihre Eltern?«

Fiske trat neben sie. »An ihrem dreißigsten Hochzeitstag. Bevor Mom krank wurde.«

»Sie sehen glücklich aus.«

»Sie waren glücklich«, sagte Fiske rasch. Es wurde ihm allmählich unangenehm, daß Sara diese Relikte aus seiner Vergangenheit sah. »Warten Sie hier.« Fiske ging in das hintere Zimmer, das früher die zwei Brüder bewohnt hatten und das nun in ein kleines Wohnzimmer umgebaut worden war. Er hörte den Anrufbeantworter ab. Sein Vater hatte seine Nachrichten nicht abgerufen. Fiske wollte das Zimmer schon wieder verlassen, als er den Baseball-Handschuh sah. Er nahm ihn vom Regal. Es war der Handschuh seines Bruders. Eine Naht war aufgeplatzt, aber das Leder war gut eingefettet worden - offensichtlich von seinem Vater. Mike war Linkshänder, aber die Familie hatte kein Geld gehabt, um einen Spezialhandschuh für ihn zu kaufen. Deshalb hatte Mike gelernt, den Ball aufzufangen, den Handschuh auszuziehen und erst dann zu werfen. Er hatte es schließlich so gut beherrscht, daß er schneller fangen und werfen konnte als ein Rechtshänder. Fiske erinnerte sich an die überragende Begabung seines Bruders; es gab kein Hindernis, das Mike nicht überwinden konnte. Fiske legte den Handschuh wieder auf das Regal und ging zurück zu Sara.

»Dad hat meine Anrufe nicht abgehört.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«

Fiske dachte kurz nach; dann schnippte er mit den Fingern. »Normalerweise sagt er Mrs. German, wohin er fährt.«

Während Fiske bei der Nachbarin war, schaute Sara sich noch ein wenig im Wohnzimmer um. Ihr fiel ein kleiner, eingerahmter Brief auf einem hölzernen Sockel auf. Um den Rahmen hing ein Orden. Sie hob den Rahmen hoch und las den Brief. Der Orden war eine Tapferkeitsmedaille, die dem Streifenpolizisten John Fiske verliehen worden war; der Brief erwies sich als Verleihungsurkunde. Sara schaute sich das Datum an, rechnete rasch nach und kam zu dem Schluß, daß Fiske die Auszeichnung etwa zu der Zeit verliehen worden war, als er den Polizeidienst quittiert hatte. Sie wußte noch immer nicht, weshalb er diesen Schritt getan hatte; Michael hatte es ihr einfach nicht sagen wollen. Als Sara hörte, daß die Hintertür geöffnet wurde, stellte sie den Brief und den Orden rasch wieder hin.

Fiske betrat das Zimmer. »Er ist beim Wohnwagen.«

»Was für ein Wohnwagen?«

»Unten am Fluß. Er geht dort fischen. Und hat ein Boot da.«

»Können Sie dort anrufen?«

Fiske schüttelte den Kopf. »Kein Telefon.«

»Na schön, dann fahren wir. Wo ist es?«

»Sie haben schon mehr als genug getan.«

»Es macht mir wirklich nichts aus, John.«

»Das ist noch mal anderthalb Stunden von hier entfernt.«

»Der Abend ist sowieso schon gelaufen.«

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich fahre? Es ist am Arsch der Welt.«

Sie warf ihm die Schlüssel zu. »Ich dachte schon, Sie würden nie fragen.«