KAPITEL 35

Die Flagge vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten wehte auf halbmast. Sämtliche Zeitungen, Fernseh- und Radiosender brachten Meldungen über die beiden ermordeten Assessoren. Die Telefone im Presse- und Informationsbüro des Gerichts klingelten unaufhörlich. Aus dem angrenzenden Presseraum hatte man die Stühle hinausgeräumt, um mehr Platz zu schaffen. Große Fernseh- und Radiosender berichteten live aus Mini-Studios im Erdgeschoß des Gebäudes. Die Gerichtspolizei, verstärkt um fünfzig Beamte der Polizei von Washington, D.C., der Nationalgarde und des FBI, riegelten das Gerichtsgelände ab.

Die Gänge vor den Kammern der Richter waren voller Menschen, die sich zu kleinen Gruppen zusammendrängten und nervös unterhielten. Die meisten Richter hatten sich in ihre Kammern zurückgezogen. Sie hatten mit Mühe und Not die mündlichen Verhandlungen hinter sich gebracht, ohne sich richtig auf die Fälle und die Darlegungen der Anwälte konzentrieren zu können. Auch den jungen Gesichtern der Assessoren war das Entsetzen anzusehen, das die Morde ausgelöst hatten.

Der kleine Raum im ersten Stock, in dem normalerweise die Konferenzen der Richter stattfanden, war überfüllt. Die Wände waren dunkel getäfelt und von Regalen gesäumt, in denen ledergebundene Bände standen, die sämtliche Urteile enthielten, welche in der zweihundertjährigen Geschichte des Gerichts ergangen waren. In eine Wand war ein Kamin eingelassen, in dem an diesem sehr warmen Tag jedoch kein Feuer brannte. Unter der Decke hing ein großer Kronleuchter. Ramsey saß am Kopf des Tisches; Richterin Knight und Richter Murphy hatten in ihren angestammten Sesseln Platz genommen.

Während die Blicke Elizabeth Knights über den Tisch hin und her schossen, hielt Murphy den Kopf gesenkt und befingerte nervös eine alte Taschenuhr, welche mit einer Kette an seinem Anzug befestigt war, der sich um seine beträchtliche Leibesfülle spannte. Ebenfalls anwesend waren Chandler, Fiske, Perkins, Ron Klaus und McKenna. Fiske und McKenna stellten gelegentlich Blickkontakt her, doch Fiske hatte sich unter Kontrolle.

Die Leiche Wrights war in einem Park gefunden worden, ein halbes Dutzend Querstraßen von seiner Wohnung auf dem Capitol Hill entfernt. Er war durch einen Kopfschuß getötet worden. Wrights Geldbörse fehlte, genau wie bei Michael Fiske. Das oberflächliche Motiv war Raub, aber niemand im Raum glaubte, daß die Antwort so einfach war. Die vorläufigen Ermittlungen hatten ergeben, daß Wright zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens erschossen worden war.

Auf der Fahrt zum Gericht hatte Chandler Fiske über die jüngsten Entwicklungen informiert. Er hatte angeordnet, Michael Fiskes Autopsie umgehend vorzunehmen, wartete aber noch auf den offiziellen Bericht und die genaue Todeszeit. Die Todesursache jedoch war eindeutig: ein Schuß in den Kopf. Chandler hatte die Werkstatt - einen Supermarkt mit angeschlossener Tankstelle im nördlichen Virginia - ausfindig gemacht, wo Michael Fiske seinen Wagen zur Inspektion gegeben hatte, doch keiner der Angestellten hatte Chandler eine Information geben können, die ihm weiterhalf.

Fiske war ein Einfall gekommen, der ihn und Chandler bewogen hatte, auf der Fahrt zum Gericht einen kleinen Umweg zu machen: Sie waren zu dem Parkplatz für beschlagnahmte Autos gefahren, um sich noch einmal Michaels Honda anzuschauen. Fiske hatte die seitlichen und hinteren Taschen der Vordersitze durchsucht.

»Er hat hier eine Straßenkarte aufbewahrt, hat sie immer dabeigehabt. Er hatte eine geradezu verrückte Angst davor, sich zu verfahren, mußte alles immer genau vorausplanen, bevor er auch nur einen Fuß in den Wagen setzte. Eine Karte oder einen

Atlas habe ich nicht gefunden, aber das hier.« Er hielt einen gelben Notizblock hoch, der ganz unten in der Sitztasche gelegen hatte. In dem Notizblock standen die Namen und Bezeichnungen von Interstates und Landstraßen - eine genaue Wegbeschreibung. Doch wenn man von der verblichenen Tinte ausging, handelte es sich um eine Fahrt, die Michael schon vor langer Zeit unternommen hatte.

Chandler betrachtete die gelben Zettel. »Und warum hätte der Täter die Karte oder den Notizblock mitnehmen sollen?«

»Weil sich eine genaue Wegbeschreibung zu Mikes Ziel darauf befand.«

»Also besteht ein Zusammenhang zwischen der Fahrtstrecke und dem Tod Ihres Bruders?«

Fiske zögerte kurz, überlegte, ob er Chandler von der Akte Harms berichten sollte. Aber das war eine verzwickte Angelegenheit, mit der er sich im Augenblick nicht befassen wollte. »Schon möglich«, sagte er schließlich.

Anschließend waren er und Chandler zum Gericht gefahren.

Nun befanden sie alle sich in dem Konferenzraum und starrten sich gegenseitig an. Ohne zu enthüllen, wie er an die Information gekommen war, hatte Chandler soeben erklärt, daß in der Nacht zuvor jemand in Michael Fiskes Wohnung eingebrochen war.

»Wir überlassen die Entscheidungen Ihnen, Detective Chandler«, sagte Ramsey. »Auch wenn ich inzwischen der Ansicht bin, daß hier eher ein Verrückter am Werk ist, der einen Groll gegen das Gericht hegt, als daß die Sache mit einem Fall zu tun hat, mit dem Michael beschäftigt war.«

»Ich darf Ihnen mitteilen, daß das FBI einhundert Agenten für diesen Fall abgestellt hat«, sagte McKenna. »Des weiteren werden wir die Richter rund um die Uhr bewachen.«

»Was ist mit den Assessoren?« fragte Fiske. »Sie sind die Mordopfer.«

»Ich habe die Adressen sämtlicher Assessoren zusammengestellt«, warf Chandler ein. »Die meisten wohnen in der Nähe des Gerichts auf dem Capitol Hill. Ich lasse in dieser Gegend verstärkt Streife fahren. Wir haben allen Assessoren angeboten, sie in einem Hotel hier im Ort unterzubringen, wo wir Ihnen Schutz garantieren können. Außerdem lasse ich sie von einem unserer Experten darüber informieren, was sie selbst für ihre Sicherheit tun können. Zum Beispiel, nach verdächtigen Personen Ausschau zu halten, nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr allein die Wohnung zu verlassen und so weiter.« Er schaute kurz in die Runde. »Wo ist eigentlich Dellasandro?«

»Er versucht, die neuen Sicherheitsvorkehrungen zu koordinieren«, erklärte Klaus. »Ich habe ihn noch nie so besorgt gesehen. Er nimmt die Sache offenbar persönlich.«

»Ich bin jetzt seit fast dreißig Jahren an diesem Gericht«, sagte Richter Murphy traurig, »und ich hätte nie gedacht, einmal so etwas erleben zu müssen.«

»Das gilt für uns alle, Tommy«, sagte Richterin Knight energisch. Dann blickte sie Chandler fragend an. »Sie haben überhaupt keine Spuren?«

»So weit würde ich nicht gehen. Wir ermitteln in verschiedene Richtungen. Ich spreche von Michael Fiskes Tod. Im Mordfall Wright ist es noch zu früh, irgend etwas zu sagen.«

»Aber Sie glauben, daß es einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen gibt?« fragte Ramsey.

»Auch das können wir noch nicht sagen.«

»Was empfehlen Sie uns dann? Wie sollen wir uns verhalten?«

Chandler schüttelte den Kopf. »Gehen Sie Ihren Angelegenheiten wie üblich nach. Falls es das Werk eines Verrückten ist, der den Arbeitsablauf des Gerichts stören will, spielen Sie ihm nur in die Hände, wenn Sie den routinemäßigen Ablauf aufgeben.«

»Aber wir könnten riskieren, den Zorn des unbekannten Täters zu erregen, mit dem Ergebnis, daß er erneut zuschlägt«, sagte Elizabeth Knight.

»Diese Möglichkeit besteht immer, Richterin Knight«, gab Chandler zu. »Aber ich bin nicht davon überzeugt, daß das Verhalten des Gerichts irgendeine Auswirkung darauf hat. Falls überhaupt ein Zusammenhang zwischen den Fällen besteht.« Er schaute Ramsey an. »Aber wir sollten uns die Fälle vornehmen, an denen die beiden ermordeten Assessoren gearbeitet haben, nur um in dieser Richtung ganz sicher zu gehen. Ich weiß, es ist weit hergeholt, aber ich würde mich später vielleicht in den Hintern treten, wenn ich das Problem jetzt nicht angehe.«

»Ich verstehe.«

Chandler wandte sich an Richter Murphy. »Können Sie und Ihre Mitarbeiter heute die Fälle durchsehen, an denen Michael Fiske gearbeitet hat?«

»Ja«, erwiderte Murphy sofort.

»Und ich möchte Sie alle bitten, mit den anderen Richtern zu sprechen und festzustellen, ob irgendein Fall, den Sie in den letzten Jahren verhandelt haben, zu diesen Taten geführt haben könnte.«

Elizabeth Knight schaute ihn an; dann schüttelte sie den Kopf. »Detective Chandler, viele der Fälle, mit denen wir uns befassen, lösen in der Bevölkerung unglaubliche Emotionen aus. Wir wüßten nicht einmal, wo wir anfangen sollten.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Dann können Sie wohl von Glück sagen, daß noch nie jemand so etwas versucht hat.«

»Nun ja, wenn Sie wollen, daß wir unseren üblichen Ablauf beibehalten, muß das Diner zu Ehren von Richter Wilkinson heute abend wohl stattfinden«, sagte Elizabeth Knight.

Murphy richtete sich protestierend auf. »Beth, der Mord an zwei Assessoren des Gerichts verbietet es wohl, daß wir dieses Diner veranstalten.«

»Sie haben gut reden, Tommy. Sie haben das Diner nicht vorbereitet. Ich schon. Kenneth Wilkinson ist fünfundachtzig Jahre alt und hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, das Essen abzusagen, so unglücklich der Zeitpunkt auch sein mag. Das Diner ist sehr wichtig für Wilkinson.«

»Und auch für Sie, nicht wahr, Beth?« sagte Ramsey.

»Da haben Sie recht. Wilkinson hat für mich eine sehr große Rolle gespielt. Müssen wir eine weitere Diskussion über die Standespflichten der Juristen führen, Harold? Vor all diesen Leuten?«

»Nein«, sagte er. »Sie kennen meine Meinung zu diesem Thema.«

»Ja, allerdings, und das Diner wird stattfinden.«

Der Wortwechsel faszinierte Fiske. Er glaubte, die Andeutung eines Lächelns über Ramseys Gesicht huschen zu sehen, als der Mann sagte: »Na schön, Beth. Es steht mir fern, Sie in einer wichtigen Angelegenheit zum Umdenken überreden zu wollen. Vor allem wenn es um eine Sache geht, die ans Triviale grenzt.«