KAPITEL 26

Als sie Michael Fiskes Wohnung erreichten, fand Sara einen Parkplatz um die Ecke. »Können Sie den Kofferraum von innen entriegeln?« fragte Fiske und stieg aus, als Sara nickte.

Sie hörte, wie er kurz den Kofferraum durchstöberte. Als er dann plötzlich am Seitenfenster auftauchte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Dann drehte sie rasch die Scheibe herunter.

»Verriegeln Sie die Türen, lassen Sie den Motor laufen und halten Sie die Augen auf, klar?«

Sie nickte und sah, daß er in der einen Hand den Wagenheber und in der anderen eine Taschenlampe hielt.

»Wenn Sie nervös werden oder irgend etwas passiert, geben Sie einfach Gas. Ich bin ein großer Junge. Ich komme schon irgendwie nach Richmond.«

Störrisch schüttelte Sara den Kopf. »Ich warte hier.«

Als sie beobachtete, wie Fiske um die Ecke ging, kam ihr ein Gedanke. Sie wartete noch eine Minute, bis sie sicher war, daß er das Haus betreten hatte; dann fuhr sie um die Ecke, zurück auf die Straße, an der Michael gewohnt hatte, und parkte gegenüber von dem Reihenhaus. Sie zog das Handy hervor und schaltete es wieder ein. Falls sie irgend etwas beobachten sollte, das ihr auch nur entfernt verdächtig vorkam, würde sie in Michaels Wohnung anrufen und Fiske warnen. Ein guter Plan für einen Notfall. Doch Sara hoffte, daß es nicht so weit kommen würde.

Fiske schloß die Tür hinter sich, schaltete die Taschenlampe ein und schaute sich um. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen dafür, daß jemand die Wohnung durchsucht hatte.

Er betrat die kleine Küche, die durch eine hüfthohe Theke vom Wohnzimmer abgetrennt wurde. Dann suchte er nach Plastikbeuteln, fand schließlich welche in einer Schublade des Küchenschranks und zog sie sich über die Hände, um keine Fingerabdrücke zurückzulassen. Eine schmale Tür führte in die Speisekammer, doch Fiske hielt sich gar nicht erst damit auf, den winzigen Raum zu inspizieren. Sein Bruder war nicht der Typ, der Dosen mit Mais und Erbsen in ordentlichen Reihen aufstellte.

Er ging durchs Wohnzimmer und sah in der kleinen Garderobe nach, entdeckte aber in keiner der Manteltaschen etwas. Dann ging er zum Schlafzimmer im hinteren Teil der Wohnung. Die Bodenbretter waren abgetreten und knirschten bei jedem Schritt. Er stieß die Tür auf, schaute ins Zimmer. Das Bett war nicht gemacht, und da und dort lagen Kleidungsstücke. Wieder durchwühlte Fiske die Taschen - nichts. In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch. Er durchsuchte ihn sorgfältig, fand aber nichts von Interesse. Er sah ein Stromkabel in einer Steckdose in der Wand und runzelte die Stirn, als er das andere Ende des Kabels in die Höhe hielt. Er schaute neben dem Schreibtisch nach, fand aber nicht, worauf er gehofft hatte: den Laptop, der an dem Kabel hätte angeschlossen sein müssen. Und den Aktenkoffer seines Bruders; Fiske hatte ihn Michael zum bestandenen Juraexamen geschenkt. Er nahm sich vor, Sara nach dem Laptop und dem Aktenkoffer zu fragen.

Als er das Schlafzimmer durchsucht hatte, ging er in den Korridor zurück und in Richtung der Küche. Dann blieb er kurz stehen, lauschte aufmerksam, wobei er den Wagenheber fester packte. Mit einem plötzlichen Sprung riß er die Tür zur Speisekammer auf, hob den Wagenheber und leuchtete mit der Taschenlampe direkt in den kleinen Raum.

Der Mann sprang hinaus und traf Fiske mit der Schulter genau in den Magen. Fiske stöhnte auf, die Taschenlampe flog in hohem Bogen davon. Doch er hielt das Gleichgewicht, holte aus und schlug dem Mann den Wagenheber in den Nacken. Er hörte einen gequälten Schrei; aber der Mann erholte sich schneller, als Fiske erwartet hatte: Der Unbekannte hob ihn hoch und schleuderte ihn über die Theke, Fiske schlug hart auf. Er spürte, wie seine Schulter taub wurde. Dennoch gelang es ihm, sich zur Seite zu drehen und dem Mann die Beine unter dem Leib wegzutreten, als der an ihm vorbei zur Tür stürmen wollte. Wieder holte Fiske mit dem Wagenheber aus, verfehlte in der Dunkelheit jedoch sein Ziel und schmetterte das Ding auf den Fußboden. Einen Sekundenbruchteil später hämmerte der Fremde ihm die Faust ans Kinn. Fiske schlug erneut zu, und diesmal traf er Fleisch und Knochen.

Doch wieder war der Unbekannte in Sekundenschnelle auf den Beinen und flitzte zur Tür hinaus. Fiske rappelte sich auf, setzte ihm nach. Er hörte Schritte durchs Treppenhaus poltern. Verbissen jagte Fiske dem Mann hinterher, hörte, wie die Haustür aufgerissen wurde. Zehn Sekunden später war auch Fiske auf der Straße, schaute blitzschnell nach rechts und links. Eine Hupe gellte.

Sara drehte das Seitenfenster hinunter und wies nach rechts. Durch den prasselnden Regen sprintete Fiske in die gewiesene Richtung, stürmte um die Ecke. Sara legte den Gang ein, mußte aber warten, bis zwei andere Wagen vorbeigefahren waren; dann jagte sie mit quietschenden Reifen los. Sie fuhr um die Ecke, raste den nächsten Häuserblock entlang, sah aber niemanden. Sie setzte zurück, bog in eine andere Straße ab, dann in eine weitere, wurde immer hektischer, ängstlicher. Als sie den nach Atem ringenden Fiske mitten auf der Straße sah, stieß sie einen Schrei der Erleichterung aus.

Sie sprang aus dem Wagen und lief zu ihm.

»John, Gott sei Dank, Ihnen ist nichts passiert.«

Fiskes Gesicht war düster. Wütend, daß der Fremde ihm entkommen war, stieß er hervor: »Verdammte Scheiße!«

»Was hatte das zu bedeuten, um Himmels willen?«

Fiske beruhigte sich allmählich. »Eins zu null für die Bösen.«

Sara legte einen Arm um seine Hüfte, führte ihn zum Wagen zurück und drängte ihn hinein. Dann rutschte sie hinter das Lenkrad und fuhr los. »Sie müssen zu einem Arzt.«

»Quatsch. Hab’ bloß eins auf die Schnauze bekommen. Haben Sie den Burschen gesehen?«

Sara schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht richtig. Er ist so schnell aus dem Haus gerannt, daß ich dachte, es wären Sie.«

»Meine Größe? Auffällige Kleidung? Ein Weißer? Ein Schwarzer?«

Sara überlegte angestrengt und versuchte, sich bildlich vorzustellen, was sie gesehen hatte. »Sein Alter ... ich weiß es wirklich nicht. Aber er war ungefähr so groß wie Sie. Dunkle Kleidung. Und er hatte eine Maske auf, glaube ich.« Sie seufzte. »Es ging alles so schnell. Wo hat der Mann gesteckt?«

»In der Speisekammer. Als ich die Wohnung betreten hatte, hab’ ich den Mistkerl nicht gehört, aber als ich zur Küche wollte, knarrte ein Bodenbrett.« Fiske rieb sich die Schulter. »Und jetzt kommt der unangenehme Teil.« Er griff nach Saras Handy und zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. »Ich muß Chandler sagen, was gerade passiert ist.«

Fiske wählte die Nummer von Chandlers Pieper, und der Detective rief ein paar Minuten später zurück. Als Fiske ihm sagte, was er getan hatte, mußte er das Handy zum Schutz des Trommelfells ein Stück vom Ohr entfernt halten.

»Hat sich wohl ein bißchen aufgeregt, hm?« fragte Sara.

»Ja, genau wie der Mount St. Helens ein bißchen ausbrach.« Fiske hielt sich das Handy wieder ans Ohr. »Hören Sie, Buford .«

»Verdammt noch mal, was haben Sie sich gedacht?« brüllte Chandler. »Wie können Sie nur eine solche Dummheit begehen? Sie waren doch mal Cop!«

»Eben. Genau so habe ich gedacht und gehandelt. Als wäre ich noch einer.«

»Aber Sie sind keiner mehr!«

»Wollen Sie nun die Beschreibung von dem Kerl oder nicht?« »Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig.«

»Ich weiß, aber dafür haben wir später noch Zeit.«

»Geben Sie mir die verdammte Beschreibung«, sagte Chandler.

Als Fiske geendet hatte, sagte der Detective: »Ich schicke sofort einen Streifenwagen rüber, um die Wohnung zu bewachen. Und den Jungs im Labor mach’ ich die Hölle heiß, damit sie so schnell wie möglich ein Team hinschicken.«

»Der Aktenkoffer meines Bruders war nicht in der Wohnung. War er in seinem Wagen?«

»Nein. Ich sagte Ihnen doch schon, daß wir keine persönlichen Besitzgegenstände gefunden haben.«

Fiske blickte Sara an. »Ist der Aktenkoffer in seinem Büro? Ich jedenfalls hab’ ihn nicht dort gesehen. Und auch nicht seinen Laptop.«

Sara schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich auch nicht, den Aktenkoffer gesehen zu haben. Und den Laptop hat Mike normalerweise nicht mit ins Büro gebracht. Wir haben dort Desktops.«

Fiske sprach wieder ins Handy. »Sieht so aus, als wäre sein Aktenkoffer verschwunden. Und sein Computer ebenfalls. Ich hab’ nur noch das Anschlußkabel gefunden.«

»Hat der Einbrecher einen dieser Gegenstände gestohlen?«

»Nein. Er hatte nichts dabei. Jedenfalls nichts in der Größe. Das weiß ich genau. Der Hurensohn hat mich mit bloßen Händen niedergeschlagen.«

»Na schön, dann haben wir einen verschwundenen Aktenkoffer, einen verschwundenen Laptop und einen ehemaligen Polizeibeamten, der so dumm ist, daß ich ihn am liebsten auf der Stelle verhaften würde.«

»Jetzt hören Sie aber auf. Ihre Leute haben schon meinen Wagen abgeschleppt.«

»Geben Sie mir mal Miss Evans.«

»Warum?« »Nun machen Sie schon!«

Fiske reichte einer verblüfften Sara das Handy.

»Ja, Detective Chandler?« sagte sie und zwirbelte nervös an einer Haarsträhne.

»Miss Evans«, begann Chandler höflich, »ich dachte, Sie wollten Mr. Fiske nur zu seinem Wagen fahren und vielleicht eine Kleinigkeit mit ihm essen. Aber daß Sie und Fiske in einem James-Bond-Film mitspielen, davon war nicht die Rede.«

»Aber sein Wagen wurde abgeschleppt, und .«

Chandlers Tonfall änderte sich schlagartig. »Ich bin wirklich nicht erfreut darüber, daß Sie und Mr. Fiske meine Arbeit noch schwieriger machen. Wo sind Sie jetzt?«

»Ungefähr einen Kilometer von Mikes Wohnung entfernt.«

»Und wohin fahren Sie gerade?«

»Nach Richmond. Um Johns Vater das mit Michael zu sagen.«

»Na schön, dann fahren Sie Mr. Fiske nach Richmond, Miss Evans. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen. Wenn er wieder Sherlock Holmes spielen will, rufen Sie mich an. Dann komme ich sofort rüber und schieße ihn höchstpersönlich über den Haufen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Jawohl, Detective Chandler. Überaus klar.«

»Und ich erwarte, Sie beide morgen früh wieder in Washington zu sehen. Haben Sie verstanden?«

»Ja, wir melden uns morgen bei Ihnen.«

»Gut, Miss Marple. Und jetzt geben Sie mir noch einmal Mr. Bond.«

Fiske nahm wieder das Handy. »Hören Sie, ich weiß, es war dumm, aber ich wollte doch nur helfen.«

»Tun Sie mir einen Gefallen und helfen Sie mir erst dann wieder, wenn ich bei Ihnen bin. Okay?«

»Okay.«

»John, heute abend hätte alles mögliche passieren können, nur nichts Gutes. Sie haben nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht, auch Miss Evans.«

Fiske rieb sich die Schulter und schaute zu Sara hinüber. »Ich weiß«, sagte er leise.

»Richten Sie Ihrem Vater mein Beileid aus.«

Fiske unterbrach die Verbindung.

»Können wir jetzt nach Richmond fahren?« fragte Sara.

»Ja, fahren wir.«