KAPITEL 21

Rufus beobachtete, wie die Tür langsam geöffnet wurde. Er bereitete sich schon auf den Anblick von Männern in grünen Drillichanzügen vor, die über ihn herfallen würden, doch seine Anspannung wich, als er sah, wer es tatsächlich war.

»Ist es wieder an der Zeit, nach mir zu sehen?«

Cassandra trat neben das Bett. »Ist das nicht die lebenslange Pflicht der Frauen? Nach den Männern zu sehen?« Ihre Worte klangen heiter, ihr Tonfall war es nicht. Sie betrachtete die Monitore, trug etwas in ihre Diagramme ein und sah dabei verstohlen zu ihm hinüber.

»Es fühlt sich gut an. Ich bin das nicht gewohnt.« Er achtete darauf, nicht mit den Ketten zu rasseln, als er sich ein wenig aufsetzte.

»Ich habe Ihren Bruder angerufen.«

Rufus’ Miene wurde ernst. »Wirklich? Was hat er gesagt?«

»Daß er Sie besuchen wird.«

»Hat er gesagt, wann?«

»Eher früher als später. Tatsächlich schon heute.«

»Was alles haben Sie ihm gesagt?«

»Daß Sie krank sind, sich aber schnell erholen.«

»Hat er sonst noch was gesagt?«

»Er ist kein Mann vieler Worte«, versetzte Cassandra.

»Typisch für Josh.«

»Ist er so groß wie Sie?«

»Nee. Er ist ein ziemlich kleiner Bursche. Eins neunzig oder so, knapp zwei Zentner.«

Cassandra schüttelte den Kopf und drehte sich wieder zur Tür um.

»Haben Sie keine Zeit, sich zu setzen und sich ein bißchen mit mir zu unterhalten?«

»Eigentlich habe ich gerade Pause. Ich habe nur mal reingeschaut, um Ihnen das mit Ihrem Bruder zu sagen. Ich muß jetzt gehen.« Sie klang ein wenig unfreundlich.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Selbst wenn nicht alles in Ordnung wäre, könnten Sie nichts daran ändern.« Ihre Stimme wirkte nun nervös und rauh.

Rufus betrachtete sie einen Augenblick lang. »Gibt es hier irgendwo eine Bibel?«

Erstaunt wandte sie sich wieder um. »Warum?«

»Ich lese jeden Tag in der Bibel. Schon so lange, wie ich denken kann.«

Sie schaute zum Tisch neben dem Bett, ging hinüber und nahm eine Bibel hervor. »Ich kann sie Ihnen nicht geben. Ich darf Ihnen nicht so nahe kommen. Die Leute aus dem Gefängnis haben sich in dieser Hinsicht sehr, sehr klar ausgedrückt.«

»Sie müssen mir die Bibel auch nicht geben. Wenn Sie möchten, könnten Sie mir etwas vorlesen.«

»Ihnen vorlesen?«

»Sie müssen es nicht«, sagte er schnell. »Vielleicht interessieren Sie sich ja gar nicht dafür. Sie wissen schon, für die Bibel und die Kirche.«

Sie schaute zu ihm hinunter, die eine Hand auf die Hüfte gelegt, die andere um die grüne Bibel geschlossen. »Ich singe im Kirchenchor. Mein Mann - Gott sei seiner Seele gnädig - war Laienprediger.«

»Das ist wirklich schön, Cassandra. Und Ihre Kinder?«

»Woher wissen Sie, daß ich Kinder habe? Weil ich nicht mager bin?«

Er schüttelte den Kopf.

»Woher dann?«

»Sie sehen aus, als würden Sie kleine Kinder lieben.«

Seine Worte erstaunten sie, und sofort brach ein Lächeln durch die Wolken über ihrem Gesicht. »Ich muß wirklich vor Ihnen auf der Hut sein.« Sie bemerkte, daß er die Bibel betrachtete, als sei er durstig und brauche etwas zu trinken - und sie hielte das frischeste, kühlste Glas Wasser in der Hand, das es auf dem Antlitz der Erde je gegeben hatte.

»Was soll ich Ihnen vorlesen?«

»Psalm einhundertdrei.«

Cassandra überlegte kurz, zog dann einen Stuhl heran und setzte sich.

Rufus legte sich aufs Bett zurück. »Danke, Cassandra.«

Während sie las, schaute sie in seine Richtung. Die Augen hatte sie geschlossen. Sie las noch ein paar Worte, schaute dann auf, stellte fest, daß seine Lippen sich bewegten, und hielt inne. Sie las den nächsten Satz, prägte ihn sich schnell ein und las ihn vor, während sie ihn beobachtete. Rufus bildete mit den Lippen stumm jedes Wort, während sie es gerade sprach. Cassandra hielt inne, doch Rufus flüsterte bis zum Ende des Satzes weiter. Als sie nicht fortfuhr, schlug er die Augen auf. »Sie kennen den Psalm auswendig?« fragte sie.

»Ich kenne den Großteil der Bibel auswendig. Alle Psalmen und Sprüche.«

»Das ist ziemlich beeindruckend.«

»Ich hatte viel Zeit, daran zu arbeiten.«

»Weshalb wollten Sie, daß ich Ihnen den Psalm vorlese, wenn Sie ihn schon kennen?«

»Sie sehen so aus, als hätten Sie ein bißchen Kummer. Ich dachte, es könnte Ihnen helfen, die Heilige Schrift zu zitieren.«

»Mir helfen?« Cassandra blickte wieder auf die Seite und las laut vor: »>... der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.<« Die Arbeit war deprimierend. Ihre Kinder, Teenager, gerieten jeden Tag mehr außer Kontrolle. Sie hatte die Vierzig überschritten, zwanzig Kilo Übergewicht, und es war kein geeigneter Mann in Sicht. Und während sie nun diesen Gefangenen sah, diesen angeketteten Mörder, der im Gefängnis sterben würde, wäre sie angesichts seiner Freundlichkeit, seiner unverlangten Rücksichtnahme auf ihre Notlage am liebsten in Tränen ausgebrochen.

Psalm einhundertdrei hatte einen ganz besonderen Reiz für Rufus, vor allem eine Zeile. Er sprach sie leise vor sich hin: »>Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.<«

»Ist er das?« fragte Chandler, als sie sich dem silbernen Honda näherten, einem 87er-Modell, der auf dem Polizeiparkplatz abgestellt war.

Fiske nickte. »Wir haben ihn Mike zum Collegeabschluß geschenkt. Wir haben alle zusammengeworfen, meine Eltern und ich.«

»Ich habe fünf Brüder. So was haben sie nie für mich getan.«

Chandler schloß die Fahrertür auf und trat zurück, damit Fiske ins Innere des Wagens schauen konnte.

»Wo haben Sie die Wagenschlüssel gefunden?«

»Auf dem Vordersitz.«

»Und haben Sie noch andere persönliche Gegenstände entdeckt?«

Der Detective schüttelte den Kopf.

Fiske inspizierte den Fahrersitz, das Armaturenbrett, die Windschutzscheibe und die Seitenfenster. Seine Verwirrung war unverkennbar. »Wurde der Wagen saubergemacht?«

»Nein. Genau so haben wir ihn gefunden, von dem Insassen mal abgesehen.«

Fiske richtete sich wieder auf und schaute den Detective an. »Wenn man einem Menschen eine großkalibrige Pistole an die Schläfe setzt und dann in einem so engen Raum abdrückt, gibt es Blutflecke auf dem Sitz, dem Lenkrad, der Windschutzscheibe. Und Knochensplitter und Gewebe. Aber ich sehe nur hier und da ein paar Flecke. Wahrscheinlich die Stellen, an denen sein Kopf den Sitz berührt hat.«

Chandler blickte ihn amüsiert an. »Ach was?«

Fiske knirschte mit den Zähnen. »Ich verrate Ihnen nichts, was Sie nicht schon gewußt haben. War das wieder so ein kleiner Test von Ihnen?«

Chandler nickte langsam. »Könnte sein. Könnte aber auch einen anderen Grund haben. Ich habe doch gerade gesagt, daß ich fünf Brüder habe.«

»Ja, und?«

»Ursprünglich waren es sechs. Einer meiner Brüder wurde vor fünfunddreißig Jahren ermordet. Hat bei einer Tankstelle gearbeitet, und irgendein Scheißkerl kam rein und hat ihn wegen der zwölf Mäuse in der Registrierkasse umgelegt. Ich war damals erst sechzehn, erinnere mich aber noch an jede Einzelheit, als wäre es erst vor fünf Minuten passiert. Wie dem auch sei, die meisten Familienangehörigen, die einen geliebten Menschen identifizieren, kommen nicht in mein Büro gestürmt und bieten ihre Dienste an. Oh, sie wettern eine Zeitlang darüber, daß sie das Arschloch schnappen wollen, das die Tat begangen hat, aber mit der eigentlichen Ermittlung wollen sie nichts zu tun haben. Und normalerweise waren die Leute früher auch nicht bei der Polizei. Alles in allem dachte ich mir, Sie wären jemand, der mir wirklich helfen könnte. Und das haben Sie gerade bewiesen.

Mir ist klar, was für einen Zorn Sie jetzt verspüren müssen, John, ob Sie Ihren Bruder nun mochten oder nicht. Jemand hat Ihnen etwas genommen, etwas Wichtiges - hat es Ihnen im Grunde gestohlen, einfach entrissen. Ich kenne das. Es ist fünfunddreißig Jahre her, und ich verspüre diesen Zorn noch immer.«

Fiske schaute sich auf dem Parkplatz um und war erstaunt, wie viele Privatfahrzeuge hier abgestellt waren. Er vermutete, daß jede dieser Blechkarossen darauf wartete, die Geheimnisse einer weiteren Tragödie preiszugeben.

Er drehte sich zu Chandler um. »Ich vermute, der Zorn wird genügen.« Er schaute zu Boden. »Bis sich etwas anderes anbietet, denke ich.« Sein Tonfall stellte keine große Hoffnung in Aussicht.

»Dagegen ist nichts einzuwenden.« Chandler setzte seine Analyse fort. »Es hat mich in der Tat überrascht, daß alle Spuren fehlen, die Sie gerade erwähnt haben.«

»Es sieht nicht so aus, als sei er in diesem Wagen umgebracht worden.«

»Ganz meine Meinung. Sieht so aus, als hätte man ihn woanders getötet und seine Leiche dann auf den Fahrersitz gesetzt. Und schon diese eine Schlußfolgerung führt uns zu ganz neuen Möglichkeiten.«

»Dann sprechen wir nicht über einen zufälligen Raubmord. Dann stand der Mord im Vordergrund. Dann war er geplant. Dann sollte mein Bruder beseitigt werden.«

»Vielleicht, obwohl ihn tatsächlich ein paar Straßenjungs entführt und aus dem Wagen gezerrt haben könnten, um ihn zu zwingen, ihnen die Geheimzahl seiner Kreditkarte zu verraten. Er weigert sich, und sie legen ihn um. Kriegen es mit der Angst zu tun und setzen ihn zurück in den Wagen.«

»Dann müßte es bei dem Geldautomaten Spuren geben. Haben Sie welche gefunden?«

»Nein, aber es gibt verdammt viele Geldautomaten.«

»Und sehr viele Leute benutzen sie. Wenn die Sache schon mindestens einen Tag her ist, müßte es mittlerweile doch jemandem aufgefallen sein.«

»Sollte man meinen, aber sicher ist es nicht. Wir versuchen, genau zu rekonstruieren, was Ihr Bruder in den letzten achtundvierzig Stunden unternommen und wo er sich aufgehalten hat. Zum letztenmal hat man ihn vor zwei Tagen in seiner Wohnung gesehen. Danach ... nada.«

»Was ist mit Fingerabdrücken? Die meisten kleinen Gangster, die jemanden verschleppen, weil sie es auf seine Kreditkarte abgesehen haben, sind nicht clever genug, um Handschuhe zu tragen.«

»Daran arbeiten wir noch.«

»Mir ist noch etwas aufgefallen.«

»Schießen Sie los.«

Fiske hielt die Wagentür auf und zeigte auf die Innenseite der Türverstrebung, auf jenen Teil, den man nicht sah, wenn die Tür geschlossen war. Chandler suchte nach seiner Brille, setzte sie auf und schaute sich an, worauf Fiske ihn aufmerksam machen wollte. Dann streifte er zwei Gummihandschuhe über, die er aus seiner Manteltasche gezogen hatte, hob das kleine, klebrige Plastikstück vorsichtig hoch, legte es auf seine Handfläche und betrachtete es eingehend.

»Ihr Bruder hat seinen Wagen gerade in einem Wal-Mart durchchecken lassen.«

»Hier steht, daß der nächste Ölwechsel nach fünftausend Kilometern, spätestens in drei Monaten fällig ist. Die Werkstatt hat das Datum und den zukünftigen Kilometerstand auf diesem Aufkleber eingetragen, damit man den Termin nicht vergißt. Wenn wir vom Datum auf dem Sticker drei Monate abziehen, hat mein Bruder den Wagen drei Tage, bevor seine Leiche gefunden wurde, in die Werkstatt gebracht. Und jetzt sehen Sie sich mal den Kilometerstand an, für den die nächste technische Untersuchung empfohlen wird, und ziehen davon fünftausend Kilometer ab. Das müßte ungefähr der aktuelle Tachostand sein.«

Chandler rechnete schnell nach.

»Hundertneunundzwanzigtausendfünfhundertdreiundvierzig.«

»Und jetzt sehen Sie sich mal den tatsächlichen Tachometerstand an.«

Chandler beugte sich in den Wagen vor und überprüfte ihn. Dann blickte er Fiske an. Seine Augen hatten sich ein wenig geweitet. »Jemand ist mit diesem Wagen in den letzten drei Tagen etwa zwölfhundert Kilometer gefahren.«

»Genau«, sagte Fiske.

»Verdammt, wo ist er bloß gewesen?«

»Auf dem Aufkleber steht nicht, bei welchem Wal-Mart er die Wartung durchführen ließ, aber wahrscheinlich bei einem in der Nähe seiner Wohnung. Sie sollten sich umhören, vielleicht könnte die Werkstatt uns etwas Nützliches verraten.«

»Klar. Nicht zu fassen, daß wir das übersehen haben«, sagte Chandler. Er steckte den Aufkleber in einen Plastikbeutel, den er aus der Manteltasche holte, und schrieb etwas darauf. »Ach ja, John.«

»Ja?«

Chandler hielt den durchsichtigen Beutel in die Höhe. »Keine weiteren Tests, okay?«