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KAPITEL 18

Es war eine ungewöhnliche Versammlung aller Assessoren und Richter. Der Marshal des Obersten Gerichtshofs, Richard Perkins, und der Chef der Gerichtspolizei, Leo Dellasandro, waren ebenfalls anwesend und schauten mit steinernen Mienen um den großen Tisch im Raum herum. Elizabeth Knights Augen waren feucht; sie tupfte sie ständig mit einem Taschentuch ab.

Als Sara Evans die grimmigen Gesichter der Richter betrachtete, blieb ihr Blick auf Thomas Murphy haften. Murphy war klein und schwammig, hatte weißes Haar und buschige Brauen. Sein breites Gesicht wurde von mandelförmigen Wangenknochen geziert. Er bevorzugte noch immer dreiteilige Anzüge und trug große, protzige Manschettenknöpfe. Doch nicht sein Aufzug erregte Saras Aufmerksamkeit, vielmehr der Gesichtsausdruck überwältigender Trauer. Sie stellte rasch fest, wer sonst noch anwesend war; Michael Fiske war nicht darunter. Sie spürte, wie Blut in ihren Kopf schoß. Als Harold Ramsey sich vom Tisch erhob und das Wort ergriff, klang seine tiefe Stimme seltsam gedämpft; Sara konnte ihn kaum verstehen, wußte aber genau, was er sagte, als würde sie von seinen Lippen ablesen.

»Ich habe eine schlimme Nachricht. Eine schreckliche Nachricht. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern, daß so etwas schon einmal vorgekommen ist.« Ramsey suchte den Raum mit Blicken ab, ballte vor Nervosität die Hände zu Fäusten, und sein großer Körper zitterte.

Er atmete tief ein. »Michael Fiske ist tot.«

Die Richter wußten es offensichtlich schon. Doch sämtlichen Mitarbeitern stockte gleichzeitig der Atem.

Ramsey wollte etwas sagen, hielt dann aber inne. Er deutete auf Leo Dellasandro, der nickte und vortrat, während der Oberste Richter sich auf seinen Stuhl fallen ließ.

Dellasandro war etwa eins fünfundsiebzig groß, hatte ein breites Gesicht, flache Wangen und eine Stumpfnase, und über seinem muskulösen Körperbau lag eine Fettschicht. Seine Haut besaß eine olivbraune Tönung, und er hatte drahtiges, schwarzes und graues Haar. Von seinen Poren strömte der Geruch von Zigarren aus. Man merkte ihm deutlich den Stolz an, mit dem er seine Uniform trug; seine Finger steckten im Gürtel des Halfters.

Der andere Uniformierte, der direkt hinter ihm stand, war Ron Klaus, sein Stellvertreter. Klaus war schlank und verbreitete eine professionelle Aura. Die pfeilschnell hin und her schießenden Blicke seiner blauen Augen ließen auf einen beweglichen Geist schließen. Klaus und Dellasandro waren die Wachhunde dieser Institution. Sie schienen stets gemeinsam aufzutreten. Wer hier bei diesem Gericht arbeitete, konnte sich den einen nicht ohne den anderen vorstellen.

»Es sind noch nicht allzu viele Einzelheiten bekannt, doch offensichtlich ist Michael einem Raubmord zum Opfer gefallen. Er wurde in seinem Wagen in einer Seitenstraße im Southeast gefunden, in der Nähe des Anacostia River.«

Ein nervös aussehender Assessor hob die Hand. »Steht fest, daß es ein Raubüberfall war? Es hatte nichts damit zu tun, daß Michael hier arbeitet?«

Sara blickte wütend zu dem Mann hinüber. So eine Frage wollte man wirklich nicht jetzt schon hören - fünf Sekunden nachdem man erfahren hatte, daß jemand, mit dem man zusammenarbeitete, der einem etwas bedeutete, tot war. Aber das bewirkte offenbar ein gewaltsamer Tod bei anderen Menschen: Instinktiv fürchteten sie um ihr eigenes Leben.

Dellasandro hob beruhigend die großen Hände. »Wir haben nichts gehört, das uns zu der Annahme verleiten könnte, daß Mr. Fiskes Tod auch nur das geringste mit dem Gericht zu tun hat. Doch als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme verstärken wir die Sicherheitsvorkehrungen hier, und sollte jemand etwas Verdächtiges oder Außergewöhnliches bemerken, meldet er sich bitte bei mir oder Mr. Klaus. Zu gegebener Zeit werden wir Sie über alle zukünftigen Entwicklungen des Falles unterrichten.« Er schaute zu Ramsey hinüber, der den Kopf in den Händen hielt und keine Anstalten machte, sich zu erheben. Dellasandro stand unbeholfen da, bis Elizabeth Knight aufstand.

»Ich weiß, das ist ein schrecklicher Schock für uns alle. Michael zählte zu den beliebtesten Mitarbeitern, die je hier gearbeitet haben. Sein Tod bedrückt uns alle sehr, besonders jene, die ihm nahegestanden habe.« Sie hielt inne und blickte Sara kurz an. »Wenn jemand von Ihnen darüber sprechen möchte, Ihr Richter steht Ihnen zur Verfügung. Sie können aber auch bei mir vorbeischauen. Ich weiß nicht genau, wie wir weitermachen können, aber das Gericht muß Michaels Arbeit fortsetzen, trotz dieses schrecklichen . schrecklichen .« Elizabeth Knight verstummte wieder und hielt sich am Tisch fest, um nicht zusammenzubrechen. Dellasandro ergriff rasch ihren Arm, doch sie winkte ihn zurück.

Knight sammelte sich so weit, daß sie die Versammlung für beendet erklären konnte, und der Raum leerte sich rasch. Bis auf Sara Evans. Sie saß dort wie betäubt und starrte die Stelle an, an der Elizabeth Knight gestanden hatte. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Michael war tot. Er hatte einen Berufungsantrag entwendet, sich über eine Woche lang sehr seltsam benommen, und nun war er tot. Ermordet.

Ein Raubmord, hieß es. Sara glaubte nicht, daß es so einfach war. Aber im Augenblick spielte das keine Rolle. Wichtig war nur, daß sie jemanden verloren hatte, der ihr sehr nahe stand. Jemanden, mit dem sie unter anderen Umständen vielleicht gern ihr Leben verbracht hätte. Sie legte den Kopf auf den Tisch und schluchzte hemmungslos.

Elizabeth Knight beobachtete sie von der Schwelle aus.