KAPITEL 36
Tremaine setzte den Army-Hubschrauber auf dem Rasenstück auf. Als die Rotoren langsamer kreisten, schauten er und Rayfield zu der Limousine hinüber, die am Rand der Baumgrenze stand. Sie lösten die Sicherheitsgurte, stiegen aus dem Helikopter und liefen gebückt unter den Rotoren zu dem Wagen hinüber. Rayfield nahm vorn Platz, während Tremaine auf den Rücksitz schlüpfte.
»Schön, daß ihr es geschafft habt«, sagte der Mann auf dem Fahrersitz und drehte sich zu Rayfield um.
Der Colonel riß die Augen auf. »Was ist denn mit dir passiert?«
Die Prellungen spielten ins Violette und waren an den Rändern gelblich verfärbt. Eine bildete an der rechten Schläfe einen Halbkreis um das Auge, die beiden anderen breiteten sich am Hals unter dem Hemdkragen aus.
»Fiske«, erwiderte der Mann.
»Fiske? Er ist tot.«
»Sein Bruder. John Fiske«, sagte der Mann ungeduldig. »Er hat mich in Michaels Wohnung erwischt.«
»Hat er dich erkannt?«
»Ich habe eine Maske getragen.«
»Was hat er in der Wohnung seines Bruders zu suchen gehabt?«
»Dasselbe, was ich gesucht habe. Alles, was den Cops helfen könnte, die Wahrheit herauszufinden.«
»Hat er was gefunden?«
»Es gab nichts mehr zu finden. Wir haben Fiskes Laptop schon vorher aus der Wohnung geholt.« Er schaute Tremaine an. »Und du hast seinen Aktenkoffer aus dem Wagen genommen, bevor du den Jungen getötet hast, nicht wahr?«
Tremaine nickte.
»Wo ist der Aktenkoffer jetzt?« fragte der Mann.
»Ein Haufen Asche.«
»Gut.«
»Ist dieser Bruder, dieser John, ein Problem?« wollte Rayfield wissen.
»Vielleicht. Er war früher bei der Polizei. Er und eine Assessorin schnüffeln herum. Fiske hilft dem Detective, der in den beiden Mordfällen ermittelt.«
Rayfield fuhr erschrocken zusammen. »In beiden Mordfällen? Gibt es mehr als einen?«
»Steven Wright.«
»Verdammt noch mal, was ist passiert?« fragte Rayfield.
»Wright sah eine bestimmte Person aus Michael Fiskes Büro kommen. Und er hat etwas gehört, das er nicht hören sollte. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, daß er den Mund hält, also mußte ich ihn aus dem Gebäude locken und töten. Aus dieser Richtung kann uns jetzt nichts mehr passieren.«
»Bist du verrückt geworden?« stieß Rayfield wütend hervor. »Die Sache gerät völlig außer Kontrolle.«
Der Mann blickte Tremaine an. »He, Vic, sag deinem Vorgesetzten, er soll die Ruhe bewahren. Vietnam hat wohl ziemlich an deinen Nerven genagt, was, Frank? Seitdem bist du nicht mehr der Alte.«
»Vier Morde, und du sagst, ich soll ruhig bleiben? Und Harms und sein Bruder laufen noch frei herum.«
»Ja, die beiden müssen wir auch noch beseitigen. Die beiden wichtigsten Personen. Das ist dir doch klar, Vic?«
»Ja«, erwiderte Tremaine.
Der Mann schaute zu Rayfield hinüber. Sein Blick war eiskalt.
Rayfield schluckte nervös. »Jetzt gibt es wohl kein Zurück mehr.«
»Da hast du recht.«
»John Fiske und diese Assessorin ... Was willst du wegen der beiden unternehmen? Wenn Fiske sich dazu berufen fühlt, den Mörder seines Bruders zu finden, könnte er zum Problem werden.«
»Er ist bereits ein Problem. Wir halten sie an der ganz kurzen Leine, bis wir beschlossen haben, was wir mit ihnen anstellen sollen.«
»Und das heißt?« fragte Rayfield.
»Das heißt, daß wir vielleicht nicht nur zwei, sondern vier Personen beseitigen müssen.«
Sara saß in ihrem neuen Büro. Chandler hatte den Zutritt zu dem Zimmer verboten, das sie sich mit Wright geteilt hatte, dem Gerichtspersonal aber gestattet, Saras Computer und Akten in diesen viel zu kleinen Raum zu bringen. Fiske hatte ihr die Liste der Staatsgefängnisse gegeben, die er erstellt hatte, und Sara hatte sich ans Telefon geklemmt. Nach einer halben Stunde legte sie deprimiert den Hörer auf. In keiner Anstalt in einem der in Frage kommenden Staaten saß ein Häftling mit Namen Harms ein. Sara versuchte, sich an irgendein anderes Wort oder eine Formulierung aus den Dokumenten zu erinnern, die sie gesehen hatte, doch ihr fiel nichts ein. Seufzend stand sie auf - und in diesem Augenblick sah sie es. Sie hatte mit ihrer ruckartigen Bewegung einen Aktenstapel umgestoßen, ohne es zu bemerken. Ganz oben lag die Vorlage zum Fall Chance. Am gestrigen Abend hatte sie Wright ausgerichtet, er solle die Akte abschließen, und wenn er die ganze Nacht daran arbeiten müsse. Am Deckel war eine handschriftliche Notiz mit der Bitte befestigt, Sara möge sich das Gutachten noch einmal ansehen.
Sie setzte sich, und ihr Kopf sank auf die Schreibtischplatte. Was, wenn es tatsächlich irgendeinen Psychopathen gab, der es auf Assessoren abgesehen hatte? War es nur Zufall, daß Wright ermordet worden war und nicht sie? Einen Moment lang saß sie regungslos da. Komm schon, Sara, du wirst damit fertig. Du mußt damit fertig werden, drängte sie sich. Mit der letzten Entschlossenheit, die sie aufbringen konnte, erhob sie sich und verließ das Büro.
Kurz darauf betrat sie das Verwaltungsbüro und ging zu einem Assessor, der hinter einem der Computerterminals saß, die Zugriff auf die Datenbank ermöglichten. Sara wollte ihm eine Frage stellen, die sie schon einmal gestellt hatte, doch sie mußte absolut sichergehen.
»Könnten Sie mal überprüfen, ob ein Fall eingereicht wurde, bei dem der Kläger oder Beklagte Harms heißt?«
Der Mitarbeiter nickte und machte sich an die Arbeit. Nach etwa einer Minute schüttelte er den Kopf.
»Ich finde nichts. Wann wurde der Antrag denn eingereicht?«
»Vor kurzem. Innerhalb der letzten Wochen.«
»Ich bin ein halbes Jahr zurückgegangen, aber es gibt keinen solchen Fall. Haben Sie sich nicht schon mal danach erkundigt?«
Bevor Sara antworten konnte, erklang hinter ihr eine andere Stimme. »Wie war der Name? Harms?«
Sara drehte sich um und sah den anderen Kollegen an. »Ja. Harms ist der Nachname.«
»Das ist aber komisch.«
Sara wurden vor Aufregung die Knie weich. »Wie meinen Sie das?«
»Heute morgen hat jemand angerufen und sich nach einem Berufungsantrag erkundigt. Er hat diesen Namen genannt. Ich habe ihm gesagt, daß hier kein Fall mit diesem Namen eingereicht wurde.«
»Harms? Sind Sie sicher?«
Der Assessor nickte.
»Was ist mit dem Vornamen?« fragte Sara und versuchte, ihre Erregung zu unterdrücken.
Der Assessor dachte kurz nach.
»Fing er vielleicht mit einem >R< an?« versuchte Sara ihm auf die Sprünge zu helfen.
»Genau!« Der Assessor schnippte mit den Fingern. »Rufus. Rufus Harms. Klingt nach einem Hinterwäldler.«
»Hat der Anrufer seinen Namen genannt?«
»Nein. Er hat sich aber ganz schön aufgeregt.«
»Fällt Ihnen sonst noch was ein?«
Der Mann dachte ein bißchen länger nach. »Er hat gesagt, dieser Harms würde in einem Bau verrotten, was immer das heißen mag.«
Sara riß die Augen auf und wollte schon aus dem Büro stürmen.
»Was hat das alles zu bedeuten, Sara? Hat es mit den Morden zu tun?« fragte der Assessor.
Sara verließ den Raum, ohne zu antworten. Der Assessor zögerte kurz und schaute sich dann um, ob jemand ihn beobachtete. Dann griff er nach seinem Telefon und wählte eine Nummer. Als abgehoben wurde, sprach er leise in den Hörer.
Sara rannte beinahe die Treppe hinauf. Der Begriff »Bau« hatte ihr gezeigt, daß es in Fiskes Liste eine große Lücke gab. Sie stürmte in ihr neues Büro, fischte eine Karte aus ihrem Rolodex und wählte die Nummer. Sie rief bei der Militärpolizei an. Fiske hatte sowohl die Bundes- als auch die Staatsgefängnisse der einzelnen Bundesstaaten abgeklappert, aber nicht ans Militär gedacht. Saras Lieblingsonkel hatte als Brigadegeneral seinen Abschied von der Army genommen, und deshalb wußte sie genau, was ein »Bau« war: Rufus Harms war Häftling der Armee der Vereinigten Staaten.
Sara wurde mit Master Sergeant Billard verbunden, dem diensthabenden für die Strafanstalten zuständigen Beamten. »Ich habe seine Häftlingsnummer nicht, gehe aber davon aus, daß er in einem Militärgefängnis einsitzt, das sich nicht weiter als etwa sechshundert Kilometer von Washington entfernt befindet«, sagte sie.
»Ich darf Ihnen diese Information nicht geben. Sie müssen eine schriftliche Anfrage an das Büro des Stabschefs für Organisation und Planung stellen. Dann wird diese Abteilung den Antrag an die zuständige Informationsabteilung der Bundesregierung weiterleiten. Sie wissen ja, daß jedem amerikanischen Bürger verfassungsmäßig die Einsicht in fast alle behördlichen Akten und Unterlagen zusteht.« Seine Stimme klang nicht gerade begeistert. »Dort wird man dann die Rechtslage prüfen und über Ihren Antrag entscheiden.«
»Aber ich brauche die Information sofort.«
»Sind Sie bei einer Zeitung oder beim Fernsehen?«
»Nein, ich arbeite beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.«
»Na klar. Das kann jeder behaupten.«
Sara dachte kurz nach. »Rufen Sie die Auskunft an, und lassen Sie sich die Nummer des Obersten Gerichts geben. Dann rufen Sie dort an und lassen sich mit mir verbinden. Mein Name ist Sara Evans.«
Dillard klang skeptisch. »Das ist höchst ungewöhnlich.«
»Bitte, Sergeant Dillard, es ist wirklich wichtig.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen. »Es wird ’ne Weile dauern«, sagte er dann.
Fünf sehr lange Minuten später wurde der Anruf zu Saras Apparat durchgestellt. »Wissen Sie, Sergeant Dillard, ich habe von Ihrer Abteilung schon Informationen über Militärhäftlinge bekommen, ohne mich vorher mit der Behörde herumzuschlagen, die für die verfassungsmäßig verankerte Informationsfreiheit zuständig ist.«
»Na ja, manchmal gehen meine Kollegen ein wenig zu großzügig mit den Informationen um.«
»Ich will nur wissen, wo Rufus Harms ist, mehr nicht.«
»Bei allen anderen Häftlingen wäre das eigentlich gar kein Problem.«
»Ich verstehe nicht. Wieso ist Rufus Harms eine Ausnahme?« »Haben Sie Ihre Zeitung nicht gelesen?«
»Nein, heute noch nicht. Warum?«
»Vielleicht ist es keine große Schlagzeile, aber die Öffentlichkeit sollte es wissen, allein schon ihrer Sicherheit wegen.«
»Was sollte die Öffentlichkeit wissen?«
»Daß Rufus Harms geflohen ist.« Mit kurzen, knappen Sätzen teilte Dillard ihr die Einzelheiten mit.
»In welchem Gefängnis war Harms inhaftiert?«
»Fort Jackson.«
»Wo ist das?«
Dillard erklärte es ihr, und Sara schrieb alles mit.
»Und jetzt habe ich eine Frage an Sie, Miss Evans. Warum interessiert der Oberste Gerichtshof sich für Rufus Harms?«
»Er hat einen Berufungsantrag eingereicht.«
»Was für einen Antrag?«
»Es tut mir leid, Sergeant Dillard, aber mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Auch ich habe meine Vorschriften.«
»Na schön. Aber einen Rat darf ich Ihnen noch geben, ja? An Ihrer Stelle würde ich nicht allzu viel Arbeit in seinen Antrag stecken. Die Gerichte stehen Toten nicht offen, oder?«
»Doch, im Prinzip schon. Was genau hat der Mann getan?«
»Das müssen Sie in seiner Militärakte nachsehen.«
»Und wie komme ich an die heran?«
»Sie sind doch Anwältin, oder?«
»Ja, aber ich habe nicht oft mit dem Militär zu tun.«
Sie hörte, wie Dillard leise vor sich hin brummelte. »Da Rufus Harms Strafgefangener im Gewahrsam des Militärs ist, gehört er formaljuristisch nicht mehr der Army an. Mit seiner Verurteilung wurde er entweder unehrenhaft oder wegen schlechter Führung entlassen. Seine Militärakten wurden an das Archiv für militärische Personalakten in St. Louis geschickt. Dort werden die Originale aufbewahrt. Computerdateien oder so etwas gibt es nicht. Harms wurde vor fünfundzwanzig Jahren verurteilt, also müßten seine Unterlagen mittlerweile auf Mikrofilm übertragen worden sein, wenngleich das Personal dort ein wenig dem Zeitplan hinterherhinkt. Wenn Sie oder eine andere Person außer Harms selbst Einsicht in die Akten nehmen wollen, müssen Sie eine gerichtliche Verfügung erwirken.«
Sara schrieb alles mit. »Nochmals vielen Dank, Sergeant Dillard, Sie waren mir eine große Hilfe.«
Sara hatte eine Landkarten-Datei auf ihrem Computer. Sie lud sie und zog mit der Maus eine Linie von Washington, D.C., bis zum ungefähren Standort von Fort Jackson. »Fast genau sechshundert Kilometer«, murmelte sie.
Sie eilte zur Gerichtsbibliothek im zweiten Stock und ging auf einem der dortigen Computerterminals ins Internet. Aus Gründen der Sicherheit und Vertraulichkeit verfügten die Terminals in den Büros der Assessoren nicht über Modems, doch die Computer in der Bibliothek ermöglichten einen InternetZugang. Sara wählte eine Suchmaschine an und gab Rufus Harms’ Namen ein. Während sie darauf wartete, daß der Computer seinen technologischen Zauberstab schwang, betrachtete sie die handgeschnitzte Eichentäfelung der Bibliothekswände.
Ein paar Minuten später las sie die neuesten Nachrichten über Rufus Harms sowie Berichte über seine Vergangenheit und die seines Bruders. Sara druckte alles aus. In einer Story wurde der Chefredakteur der Lokalzeitung von Harms’ Heimatstadt zitiert. Mit Hilfe eines Internet-Telefonbuchs suchte Sara die Nummer des Mannes heraus. Er wohnte noch immer in derselben Kleinstadt in der Nähe von Mobile, Alabama, in der die Harms-Brüder aufgewachsen waren.
Nach dreimaligem Klingeln wurde abgehoben. Sara stellte sich dem Mann vor, George Barker, noch immer Chefredakteur der Lokalzeitung.
»Ich habe schon mit den Zeitungen darüber gesprochen«, sagte er rundweg.
Sein schwerer Südstaatenakzent ließ Sara an schreiende Waschbären und große Gläser mit Selbstgebranntem denken. »Es wäre nett, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten würden, mehr nicht.«
»Bei welcher Zeitung arbeiten Sie noch mal?«
»Ich arbeite für eine unabhängige Nachrichtenagentur. Ich bin Freiberuflerin.«
»Tja, was genau wollen Sie denn wissen?«
»Ich habe gelesen, daß Rufus Harms wegen Mordes an einem jungen Mädchen auf dem Militärstützpunkt, auf dem er stationiert war, verurteilt wurde.« Sie warf einen Blick auf die Artikel, die sie ausgedruckt hatte. »In Fort Plessy, in der Nähe von Savannah, Georgia.«
»Er hat ein kleines weißes Mädchen umgebracht. Er ist nämlich Neger.«
»Ja, ich weiß«, sagte Sara knapp. »Kennen Sie den Namen des Anwalts, der Harms bei dem Prozeß verteidigt hat?«
»War eigentlich gar kein Prozeß. Er hat ein Teilgeständnis abgelegt und dafür ein milderes Strafmaß bekommen. Ich habe damals persönlich darüber berichtet. Rufus kam ja aus unserer Stadt, war sozusagen das Gegenteil vom Jungen aus der Heimat, der zum Helden wird.«
»Kennen Sie nun den Namen seines Anwalts?«
»Da müßte ich erst nachschlagen. Geben Sie mir Ihre Nummer, und ich rufe Sie zurück.«
Sara gab ihm ihre Privatnummer. »Wenn ich nicht da bin, sprechen Sie bitte auf den Anrufbeantworter. Was können Sie mir über Rufus und seinen Bruder sonst noch sagen?«
»Na ja, am auffälligsten an Rufus war seine Größe. Er muß mit vierzehn schon über eins neunzig gewesen sein. Und er war nicht schlaksig oder schlank, sondern massig und stark wie ein Ochse.«
»Ein guter Schüler? Ein schlechter? Hatte er Schwierigkeiten mit der Polizei?«
»Wenn ich mich recht entsinne, war er kein guter Schüler. Er hat die High School nie abgeschlossen, konnte aber sehr gut mit den Händen umgehen. Als Junge hat er mit seinem Vater in einer kleinen Druckerei gearbeitet. Sein Bruder übrigens auch. Ich weiß noch, einmal hat die Druckerpresse meiner Zeitung ihren Geist aufgegeben. Da haben sie Rufus rübergeschickt, damit er sie repariert. Ich habe ihm die Reparaturanweisung für die Presse gegeben, aber er wollte keinen Blick reinwerfen. >Worte verwirren mich nur, Mr. Barkerc, hat er gesagt, oder so was in der Art. Er hat sich einfach an die Arbeit gemacht, und nach einer Stunde lief das verdammte Ding wieder und war so gut wie neu.«
»Das ist ziemlich beeindruckend.«
»Und mit der Polizei hat er nie Scherereien gehabt. Das hätte seine Momma ihm nie durchgehen lassen. Sie müssen wissen, das ist eine kleine Stadt, hier haben nie mehr als tausend Seelen gewohnt. Heute sind es noch weniger. Ich gehe auf die Achtzig zu und gebe die Zeitung noch immer heraus. Keiner lebt schon so lange hier wie ich. Die Harms’ haben natürlich in dem Teil der Stadt gewohnt, in dem die Schwarzen unter sich waren, aber wir kannten sie trotzdem. Na ja, mir kommen zwar keine Farbigen ins Haus, aber die Harms schienen ganz ordentliche Leute zu sein. Die Mutter hat im Schlachthof gearbeitet, wie fast alle hier. Als Putzfrau, ein mies bezahlter Job. Aber sie hat sich um ihre Jungs gekümmert.«
»Was ist aus dem Vater geworden?«
»Er war ein guter Mann. Hat nicht gesoffen oder ein ausschweifendes Leben geführt, wie viele von den Schwarzen. Er hat hart gearbeitet. Zu hart, denn eines Tages ist er nicht mehr aufgewacht. Herzanfall.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Ich habe seinen Nachruf geschrieben.«
»Was ist mit Rufus’ Bruder?«
»Oh, mit Josh ist es ganz was anderes. Hier in der Gegend nennen wir solche Burschen schwarze Schwarze. Hitzköpfig, arrogant, will was Besseres sein, als er ist. Ich hab’ keine Vorurteile oder so, und ich dulde nicht, daß man in meiner Gegenwart das Wort Nigger in den Mund nimmt, aber genau damit würde ich Josh Harms beschreiben. Er hat ’ner Menge Leute auf die Füße getreten.«
»Ich habe gelesen, daß er in Vietnam gekämpft hat und ein Kriegsheld war.«
»Ja, das stimmt«, gestand Barker rasch ein. »Er war der bei weitem höchst dekorierte Kriegsheld, der je aus dieser Stadt gekommen ist. Das hat die Leute verdammt überrascht, das können Sie mir glauben. Josh konnte kämpfen, das gestehe ich dem Mann zu.«
»Was noch?«
»Na ja, er hat auch die High School abgeschlossen.« Barkers Tonfall veränderte sich. »Aber so richtig ausgestochen hat er alle anderen beim Sport. Ich bin hier ein Ein-Mann-Betrieb und schreibe alle Artikel selbst. Josh Harms war der größte Athlet, den ich jemals sehen durfte. Ob weiß, schwarz, grün oder blau, dieser Junge konnte schneller laufen, höher springen und weiter werfen als alle anderen. Ja, ich weiß, die Farbigen sind sowieso tolle Sportler, aber Josh war etwas ganz Besonderes. Er war so ziemlich in jeder Sportart Spitzenklasse. Wissen Sie, daß er noch etwa ein halbes Dutzend Leichtathletikrekorde dieses Staates hält? Und Alabama«, fügte er stolz hinzu, »hat sehr viele gute Athleten hervorgebracht.«
Sara seufzte. »Hat er auch auf dem College gespielt?«
»Sie meinen Football und so? Man hat ihm ein paar Stipendien für Football- und Basketball-Teams angeboten. Bear Bryant wollte ihn sogar an die University of Alabama holen, so ein As war er. Wäre in der NBA oder der NFL wahrscheinlich ein Star geworden. Aber er wurde auf ein Nebengleis geschoben.«
»Inwiefern?«
»Na ja, Sie wissen schon. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat ihn gebeten, sein Land im Krieg gegen den Kommunismus zu verteidigen.«
»Mit anderen Worten, man hat ihn eingezogen und nach Vietnam geschickt.«
»Genau.«
»Ist er danach wieder in seine Heimatstadt gekommen?«
»Ja, klar. Seine Momma hat damals noch gelebt, aber nicht mehr lange. Das war so um die Zeit, als Rufus sich den ganzen Ärger einbrockte. Wahrscheinlich hat Rufus sich wegen Josh freiwillig zur Army gemeldet. Vielleicht wollte er wie sein älterer Bruder sein, Sie wissen schon, ein Held. Ich glaube wirklich, damals wollte Rufus zur Abwechslung mal was Vernünftiges mit seinem Leben anfangen. Nachdem sein Daddy starb, hat ihn in dieser Stadt nichts mehr gehalten. Natürlich ging alles so schief, wie es nur schiefgehen konnte. Auf jeden Fall kam Josh zu mir und hat mich gefragt, ob ich was tun könnte. Sie wissen schon, die Macht der Presse. Aber ich konnte gar nichts tun.«
»Kam es für Sie überraschend, daß Rufus das Mädchen getötet hat? Ich meine ... wissen Sie, ob er jemals gewalttätig war?«
»Soweit ich weiß, hat er nie auch nur ’ner Fliege was zuleide getan. Ein richtiger sanfter Riese. Als ich das mit dem kleinen Mädchen hörte, konnte ich es nicht fassen. Na ja, wäre es Josh gewesen, hätte ich nicht mal geblinzelt, aber Rufus? Niemals. Aber die Beweise waren ja wohl so eindeutig, daß sie eindeutiger nicht sein konnten.«
»Ist Josh in Ihrer Stadt geblieben?«
»Na ja, das führt mich zu einem besonders unangenehmen Teil der Geschichte dieser Stadt.«
»Inwiefern?«
»Ich möcht’s lieber nicht erzählen.«
»Auch nicht ganz inoffiziell?«
»Wirklich?« Barkers Stimme klang mißtrauisch.
»Ich verspreche es Ihnen. Ich werde Sie nicht zitieren. Es bleibt unter uns.«
»Sie müssen wissen, daß ich gerade auf Tonband aufgenommen habe, was Sie gesagt haben. Sollte ich also in irgendeiner Zeitung lesen, was ich Ihnen jetzt sage, werde ich Sie und Ihr Blatt bis auf den letzten Cent verklagen«, sagte er streng. »Ich bin Journalist. Ich weiß, wie so was läuft.«
»Mr. Barker, ich verspreche Ihnen, was Sie mir jetzt sagen, wird in keinem Artikel erscheinen.«
»Na schön. Außerdem ist mittlerweile so viel Zeit vergangen, daß es sowieso keine Rolle mehr spielt - zumindest in rechtlicher Hinsicht. Aber man kann nie vorsichtig genug sein.« Er räusperte sich. »Na ja, was Rufus getan hatte, sprach sich schnell in der Stadt herum. War ja nicht zu vermeiden. Ein paar Jungs haben sich einen angetrunken, sich zusammengetan und beschlossen, was zu unternehmen. An Rufus kamen sie nicht ran, er war im Gewahrsam der Armee. Aber da waren ja noch die anderen Harms, die hier in der Stadt wohnten.«
»Und was haben diese ... Jungs unternommen?«
»Tja, sie haben Mrs. Harms das Haus über dem Kopf angezündet.«
»Großer Gott! War sie etwa noch darin?«
»Ja, bis Josh sie rausholte. Und ich will Ihnen was sagen. Josh hat sich diese Jungs geschnappt. Er hat sie buchstäblich durch die Straßen der Stadt gejagt, rauf und runter. Ich hab’s von meinem Büro aus sehen können. Es müssen zehn Mann gewesen sein, gegen Josh allein, aber er hat die Hälfte von ihnen krankenhausreif geschlagen, bis die anderen ihn dann ganz, ganz übel zusammengedroschen haben. So was hatte ich nie zuvor gesehen. Und ich hoffe, daß ich es nie wieder sehen muß.«
»Das hört sich ja fast nach einem Aufruhr an. Ist die Polizei denn nicht gekommen?«
Barker hüstelte peinlich berührt. »Na ja, es wurde gemunkelt, daß ein paar der Jungs, die dabei mitgemacht haben ... Sie wissen schon, die das Haus niedergebrannt haben .«
»Bei der Polizei waren«, beendete Sara den Satz für ihn.
Barker schwieg.
»Hoffentlich hat Josh Harms die ganze Stadt bis auf den letzten Heller verklagt«, sagte sie.
»Nun ja, in Wirklichkeit haben sie ihn verklagt. Ich meine, die Jungs, die er halbtot geschlagen hat. Josh konnte ihnen wegen des Feuers nichts beweisen. Ich meine, ich hatte so eine Ahnung, aber das war auch schon alles. Und die Polizei hat in ihrem Bericht dann von Widerstand gegen die Staatsgewalt und so weiter geschrieben. Es waren zehn Aussagen gegen eine ... und die war auch noch von ’nem Farbigen. Tja, langer Rede kurzer Sinn, Josh kam für ’ne Weile ins Gefängnis, und man hat ihm und seiner Momma alles weggenommen, was sie besaßen, so wenig es auch war. Kurz darauf ist sie gestorben. Was ihren beiden Jungs zugestoßen ist, war wohl zuviel für sie.«
Sara mußte sich zusammenreißen, um den Mann nicht anzuschreien.
»Mr. Barker, das ist die widerwärtigste Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte sie. »Ich weiß nicht viel über Ihre Stadt, aber ich danke Gott, daß niemand dort wohnt, an dem mir etwas liegt.«
»Die Stadt hat auch ihre guten Seiten.«
»Ach ja? Zum Beispiel, einen Kriegshelden auf diese Weise willkommen zu heißen?«
»Ich weiß. Ich habe auch darüber nachgedacht. Man kämpft für sein Land, es wird auf einen geschossen, und dann kommt man nach Hause, und so was passiert. Wahrscheinlich fragt man sich dann, wofür, verdammt noch mal, man gekämpft hat.«
»Sie hören sich an, als würden Sie die Wahrheit kennen. Haben Sie bei dieser Gelegenheit die Macht der Presse eingesetzt?«
Barker seufzte tief. »Diese Stadt war immer mein Zuhause,
Miss Evans, und man kann nicht sein Leben lang gegen die herrschenden Kräfte ankämpfen, auch wenn sie es verdient haben. Ich will nicht behaupten, ich wäre ein großer Freund der Schwarzen; denn das bin ich nicht. Und ich will Sie auch nicht belügen und sagen, ich wäre für Josh Harms’ Sache eingetreten; denn das habe ich, ehrlich gesagt, nicht getan.«
»Nun ja, nicht zuletzt deshalb sind wohl die Gerichte da. Um Menschen wie die Bewohner Ihrer Stadt daran zu hindern, Leute wie Josh Harms fertigzumachen. Bitte rufen Sie mich zurück und geben Sie mir den Namen von Harms’ Anwalt durch.«
Sara legte auf. Vor Wut über das, was sie gerade gehört hatte, zitterte sie am ganzen Leib. Andererseits ... wie viele Schwarze hatte sie selbst gekannt, als sie in Carolina aufgewachsen war? Die Generationen armer Leute ein Stück die Straße hinunter. Menschen, die ohne Rechtsanspruch auf unbebautem Land gesiedelt hatten. Oder die Aushilfskräfte, die ihr Vater als Erntehelfer eingestellt hatte. Sara hatte diese Männer von der Veranda aus beobachtet; Schweiß tränkte den dünnen Stoff ihrer Hemden, und ihre Haut wurde unter der brennenden Sonne noch dunkler. Sie und ihre Mutter brachten ihnen Limonade und etwas zu essen. Sie murmelten ihren Dank, mieden aber jeden Blickkontakt, aßen ihre Mahlzeit und schleppten sich in die Dunkelheit davon. In Saras Schule waren nur weiße Kinder gewesen, trotz der zahlreichen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, die etwas anderes verlangten. Diese Fälle waren die Schlachtfelder der Rassengleichheit des zwanzigsten Jahrhunderts; sie ersetzten die Antietams, Gettysburgs und Chickamaugas des vorherigen. Und einige Schlachten wurden ebenso sinnlos und vergeblich geschlagen. Hier, an diesem Gericht, gab es nur einen schwarzen Richter, der den sogenannten Thurgood-Marshall-Sitz innehatte, und derzeit nur einen schwarzen Assessor - einen von sechsunddreißig. Viele der Richter hatten nie einen Assessor gehabt, der einer Minderheit entstammte. Was für eine Botschaft verkündete das? Beim höchsten Gericht des Bundes?
Als Sara auf der Suche nach Fiske über den Korridor eilte, fragte sie sich, ob sie jemals die Wahrheit herausfinden würden. Falls die Army die Brüder Harms zuerst fand, würde die Wahrheit höchstwahrscheinlich mit ihnen sterben.