Prolog
004
Lord Krelis, der neue Hauptmann der Wache, versuchte völlig regungslos dazustehen, während er beobachtete, wie Dorothea SaDiablo langsam in ihrem privaten Audienzzimmer auf- und abging. Bei einer anderen Frau hätte er vielleicht unverhohlen die schlanke Figur bewundert und sich gefragt, ob sich das schwarze, elegant hochgesteckte Haar so seidenweich anfühlte, wie es aussah. Vielleicht hätte er es sogar gewagt, eine Hand über die gebräunte Haut gleiten zu lassen, die nicht von ihrem langen roten Kleid verhüllt wurde. Eventuell hätte er es genossen, wie das Kleid im Rhythmus ihrer wiegenden Hüften raschelte, und sich vielleicht gefragt, ob die Art, wie sie sich mit einer großen wei ßen Feder über das Kinn strich, einem zarten Wink gleichkam, dass sie nichts dagegen hätte, auch auf andere Weise gestreichelt zu werden.
Doch Dorothea SaDiablo war eine Schwarze Witwe, ein Mitglied des Stundenglases, des gefährlichsten und am meisten gefürchteten Hexensabbats im ganzen Reich Terreille. Schwarze Witwen kannten sich mit Giften ebenso aus wie mit den verschlungenen Pfaden des Geistes, mit Schatten und Illusionen, mit Traumlandschaften, in denen sich ein Mann verlieren konnte, bis er in einem endlosen Albtraum gefangen war.
Noch dazu war sie die Hohepriesterin von Hayll und trug ein rotes Juwel. Da es im Territorium von Hayll keine Königinnen gab, deren Macht an die mentalen Kräfte heranreichte, für die dieses Juwel stand, und da sämtliche schwächere Königinnen weder ihr Leben noch ihre Gesundheit aufs Spiel setzen wollten, indem sie die Hohepriesterin herausforderten, herrschte Dorothea, wie es ihr gefiel – ein Umstand, den kein Mann in Hayll zu vergessen wagte.
»Bist du in letzter Zeit deinem Vorgänger über den Weg gelaufen?«, fragte Dorothea mit schmeichelnder Stimme, als sie an ihm vorbeiraschelte. Ihr kokettes Lächeln bildete einen eigenartigen Kontrast zu dem grausamen Funkeln in ihren goldenen Augen.
»Ja, Priesterin«, erwiderte Krelis, der sich Mühe gab, unbeteiligt zu klingen. Als er und eine Truppe Männer im Armenviertel von Haylls Hauptstadt Draega auf der Suche nach entbehrlichen Arbeitskräften den dortigen Abschaum ausgehoben hatten, war ihm sein ehemaliger Befehlshaber aus einer schmutzigen Gasse entgegengetorkelt.
Der frühere Hauptmann der Wache war nur noch ein verstümmeltes, gefoltertes Zerrbild des Mannes, der er einst gewesen war. Schlimmer noch: Sein inneres Netz, jener intime Kern des Selbst, der die Angehörigen des Blutes ausmachte, war zerstört worden, sodass er seine Juwelen nicht länger tragen konnte. Wenn überhaupt, konnte er sich höchstens der einfachsten Kunst bedienen. Der flinke, taktisch klug denkende Geist, der Dorothea so viele Jahrzehnte lang beschützt hatte, war wie eine Wassermelone aufgeschlitzt und ausgehöhlt worden. Doch nicht ganz. Den gehetzten Augen in dem narbigen Gesicht nach zu schlie ßen, verfügte er immer noch über genug geistiges Potenzial, um sich erinnern zu können, was er einst gewesen war. Und wer ihm dies angetan hatte.
Erneut raschelte Dorothea an Krelis vorbei. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, während er versuchte, an nichts zu denken, und zur Dunkelheit betete, dass Dorothea nichts spüren würde, das sie dazu veranlassen könnte, seine inneren Barrieren zu öffnen und sich eine Kostprobe seiner Gedanken zu Gemüte zu führen.
»Ich hatte deinen Vorgänger mit einer wichtigen Aufgabe betraut, und er hat mich enttäuscht.« Dorothea blieb vor ihm stehen und strich ihm lächelnd mit der Feder über die Wange. »Jetzt gehört er der gefiederten Bruderschaft an.«
Krelis erschauderte. Mutter der Nacht! Wenn man abrasiert bekam, was einen Mann zu einem Mann machte, und man fortan einen dieser gewaltigen Federkiele brauchte, um …
»Wirst du mich enttäuschen?«, säuselte Dorothea, die sich nun nahe zu ihm beugte.
»Nein, Priesterin«, stammelte Krelis. »Sag mir, was du von mir erwartest, und ich werde es tun.«
»Ein kluger Mann.« Sie fuhr ihm mit der Feder über die Lippen, bevor sie sich wieder abwandte. »Du hast von der Grauen Lady gehört?«
War er bereits dabei, sie zu enttäuschen? Zwar hatte er vor ein paar Monaten unbestimmtes Geflüster vernommen, doch damals war er noch Wächter im Dritten Kreis gewesen – und die Befehlshaber pflegten ihren Männern nur das absolut Notwendige zu sagen. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf. Er musste hart schlucken, bevor er flüsternd hervorbrachte: »Nein, Priesterin.«
Dorothea warf ihm einen ebenso heimtückischen wie amüsierten Blick zu, bevor sie wieder in dem Zimmer aufund abging. »Sie ist eine gefährliche Feindin. Eine Königin mit grauem Juwel, die über das Territorium Dena Nehele jenseits des Tamanaragebirges herrscht. Seitdem sie vor vierzig Jahren ihren Hof gegründet hat, ist sie mir ein Dorn im Auge, denn sie kämpft gegen meine Versuche an, dem Reich Terreille die wohltätige Führung von Hayll angedeihen zu lassen.«
Zögernd sagte Krelis: »Da sie keinem der langlebigen Völker entstammt, muss sie mittlerweile ziemlich alt sein.«
»Aber sie ist immer noch stark«, versetzte Dorothea unwirsch. »Solange sie am Leben ist, wird sich Dena Nehele Haylls Einfluss entziehen können, und die angrenzenden Territorien werden weiterhin durch diesen Widerstand gestärkt werden. Selbst wenn sie morgen sterben würde, bräuchte es mindestens eine Generation, um ihren Einfluss ganz auszulöschen.«
»Du hast vor, dieser Grauen Lady den Krieg zu erklären?«
Dorotheas goldene Augen nahmen einen harten gelblichen Farbton an. »Hayll lässt sich nicht zu solch barbarischen Akten wie Krieg herab. Worin bestünde der Nutzen, ein Territorium zu erlangen, das von einem Krieg gebeutelt wurde, wie die Angehörigen des Blutes ihn führen?« Sie strich sich erneut mit der Feder übers Kinn. »Es gibt subtilere Wege, dafür zu sorgen, dass ein Territorium reif für die Ernte ist. Aber das ist nicht deine Angelegenheit.«
Krelis starrte zu Boden. »Nein, Priesterin.«
»Deine Aufgabe besteht darin, die Graue Lady aus dem Weg zu räumen.«
Ohne nachzudenken, stieß er hervor: »Wie denn?«
Sie blickte ihn voller Abscheu an. Bereute sie es, dem alten Hauptmann übel mitgespielt und auf diese Weise seinen taktisch klugen Verstand verloren zu haben? Doch dann änderte sich ihre Miene.
»Armer Junge«, murmelte sie und streichelte ihm sanft über die Wange. »Ich bin grausam zu dir gewesen, nicht wahr? Nein, Liebling« – sie legte ihm die Finger auf die Lippen – »du brauchst es nicht zu leugnen. Schließlich kannst du von den Gewohnheiten dieses Miststücks nichts wissen.« Sie trat einen Schritt zurück und seufzte. »In ihrem eigenen Territorium ist Grizelle zu gut beschützt, als dass du dort an sie herankommen könntest. Doch in den letzten paar Jahren ist sie zweimal im Jahr aus ihrer Höhle hervorgekrochen, um den Sklavenmarkt in Raej zu besuchen.«
»Ein Sklavenmarkt.« Krelis’ goldene Augen leuchteten auf.
Dorothea schüttelte den Kopf. »Raej gilt als neutraler Boden. Wenn dort aus irgendeinem Grund eine Königin umgebracht wird, könnte es passieren, dass andere in Zukunft fernbleiben. Und wie sollte man dann Spielzeuge verkaufen, derer man überdrüssig ist, und sich neue zulegen?«
»Ein Sklave könnte mit einem treu ergebenen Diener ausgetauscht werden, und dann …«
»Sie kauft niemanden aus Hayll, und außerhalb unseres Volkes gibt es keine treu ergebenen Diener. Manchmal nicht einmal innerhalb unseres Volkes.«
Krelis musste seine Frustration niederkämpfen. Dies war die erste wichtige Aufgabe, die sie ihm übertrug, seitdem er vor ein paar Monaten zum Hauptmann der Wache aufgestiegen war. Er wollte sie nicht enttäuschen. Auf keinen Fall. »Was soll ich dann tun, Priesterin?«
Dorothea blieb stehen. »Lord Krelis, du bist der Hauptmann der Wache. Es liegt ganz bei dir, wie du es anstellst, sie zu beseitigen.« Ihr Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf. »Wenn du es allerdings möchtest, werde ich meine besondere Kunst einsetzen, um dir auf jede erdenkliche Art behilflich zu sein.«
Er atmete erleichtert auf. »Danke, Priesterin.«
Dorothea musterte ihn unangenehm lange. Dann lächelte sie. »Ich wusste, dass ich die richtige Wahl getroffen habe, was den neuen Hauptmann meiner Wache betrifft. Deinem Vorgänger habe ich das gleiche Angebot unterbreitet, doch er wollte meine Hilfe nicht. Dass das Miststück seiner Falle recht leicht entkommen konnte, war Grund genug, an seiner Loyalität zu zweifeln, meinst du nicht auch?«
Bei dem Gedanken daran, wie das Gesicht des ehemaligen Hauptmanns jetzt aussah, durchlief Krelis ein Zittern. »Ja, Priesterin.«
»Um deine Treue werde ich mir doch wohl keine Sorgen machen müssen, oder?«
»Nein, Priesterin.«
Dorothea trat auf ihn zu und schlang ihm die Arme um den Hals. »Weißt du, Liebling, ich bin sehr großzügig zu einem Mann, der mich zufriedenstellt.« Sie rieb ihre Brüste an seinem Oberkörper und küsste ihn leidenschaftlich. Dann gurrte sie: »Das soll dich an die Belohnung erinnern, die dir winkt, wenn du mir brav dienst. Und das hier« – sie klemmte ihm die große weiße Feder in den Gürtel – »soll dich an die Strafe erinnern, die dir blüht, solltest du mich enttäuschen.«
Die schwarzen Juwelen 05 - Finsternis
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