Prolog
Lord Krelis, der neue Hauptmann der Wache,
versuchte völlig regungslos dazustehen, während er beobachtete, wie
Dorothea SaDiablo langsam in ihrem privaten Audienzzimmer auf- und
abging. Bei einer anderen Frau hätte er vielleicht unverhohlen die
schlanke Figur bewundert und sich gefragt, ob sich das schwarze,
elegant hochgesteckte Haar so seidenweich anfühlte, wie es aussah.
Vielleicht hätte er es sogar gewagt, eine Hand über die gebräunte
Haut gleiten zu lassen, die nicht von ihrem langen roten Kleid
verhüllt wurde. Eventuell hätte er es genossen, wie das Kleid im
Rhythmus ihrer wiegenden Hüften raschelte, und sich vielleicht
gefragt, ob die Art, wie sie sich mit einer großen wei ßen Feder
über das Kinn strich, einem zarten Wink gleichkam, dass sie nichts
dagegen hätte, auch auf andere Weise gestreichelt zu werden.
Doch Dorothea SaDiablo war eine Schwarze Witwe,
ein Mitglied des Stundenglases, des gefährlichsten und am meisten
gefürchteten Hexensabbats im ganzen Reich Terreille. Schwarze
Witwen kannten sich mit Giften ebenso aus wie mit den
verschlungenen Pfaden des Geistes, mit Schatten und Illusionen, mit
Traumlandschaften, in denen sich ein Mann verlieren konnte, bis er
in einem endlosen Albtraum gefangen war.
Noch dazu war sie die Hohepriesterin von Hayll
und trug ein rotes Juwel. Da es im Territorium von Hayll keine
Königinnen gab, deren Macht an die mentalen Kräfte heranreichte,
für die dieses Juwel stand, und da sämtliche schwächere Königinnen
weder ihr Leben noch ihre Gesundheit aufs Spiel setzen wollten,
indem sie die Hohepriesterin
herausforderten, herrschte Dorothea, wie es ihr gefiel – ein
Umstand, den kein Mann in Hayll zu vergessen wagte.
»Bist du in letzter Zeit deinem Vorgänger über
den Weg gelaufen?«, fragte Dorothea mit schmeichelnder Stimme, als
sie an ihm vorbeiraschelte. Ihr kokettes Lächeln bildete einen
eigenartigen Kontrast zu dem grausamen Funkeln in ihren goldenen
Augen.
»Ja, Priesterin«, erwiderte Krelis, der sich Mühe
gab, unbeteiligt zu klingen. Als er und eine Truppe Männer im
Armenviertel von Haylls Hauptstadt Draega auf der Suche nach
entbehrlichen Arbeitskräften den dortigen Abschaum ausgehoben
hatten, war ihm sein ehemaliger Befehlshaber aus einer schmutzigen
Gasse entgegengetorkelt.
Der frühere Hauptmann der Wache war nur noch ein
verstümmeltes, gefoltertes Zerrbild des Mannes, der er einst
gewesen war. Schlimmer noch: Sein inneres Netz, jener intime Kern
des Selbst, der die Angehörigen des Blutes ausmachte, war zerstört
worden, sodass er seine Juwelen nicht länger tragen konnte. Wenn
überhaupt, konnte er sich höchstens der einfachsten Kunst bedienen.
Der flinke, taktisch klug denkende Geist, der Dorothea so viele
Jahrzehnte lang beschützt hatte, war wie eine Wassermelone
aufgeschlitzt und ausgehöhlt worden. Doch nicht ganz. Den gehetzten
Augen in dem narbigen Gesicht nach zu schlie ßen, verfügte er immer
noch über genug geistiges Potenzial, um sich erinnern zu können,
was er einst gewesen war. Und wer ihm dies angetan hatte.
Erneut raschelte Dorothea an Krelis vorbei.
Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, während er versuchte, an
nichts zu denken, und zur Dunkelheit betete, dass Dorothea nichts
spüren würde, das sie dazu veranlassen könnte, seine inneren
Barrieren zu öffnen und sich eine Kostprobe seiner Gedanken zu
Gemüte zu führen.
»Ich hatte deinen Vorgänger mit einer wichtigen
Aufgabe betraut, und er hat mich enttäuscht.« Dorothea blieb vor
ihm stehen und strich ihm lächelnd mit der Feder über die Wange.
»Jetzt gehört er der gefiederten Bruderschaft an.«
Krelis erschauderte. Mutter der Nacht! Wenn man
abrasiert bekam, was einen Mann zu einem Mann machte, und man
fortan einen dieser gewaltigen Federkiele brauchte, um …
»Wirst du mich enttäuschen?«, säuselte
Dorothea, die sich nun nahe zu ihm beugte.
»Nein, Priesterin«, stammelte Krelis. »Sag mir,
was du von mir erwartest, und ich werde es tun.«
»Ein kluger Mann.« Sie fuhr ihm mit der Feder
über die Lippen, bevor sie sich wieder abwandte. »Du hast von der
Grauen Lady gehört?«
War er bereits dabei, sie zu enttäuschen? Zwar
hatte er vor ein paar Monaten unbestimmtes Geflüster vernommen,
doch damals war er noch Wächter im Dritten Kreis gewesen – und die
Befehlshaber pflegten ihren Männern nur das absolut Notwendige zu
sagen. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf. Er musste hart
schlucken, bevor er flüsternd hervorbrachte: »Nein,
Priesterin.«
Dorothea warf ihm einen ebenso heimtückischen wie
amüsierten Blick zu, bevor sie wieder in dem Zimmer aufund abging.
»Sie ist eine gefährliche Feindin. Eine Königin mit grauem Juwel,
die über das Territorium Dena Nehele jenseits des Tamanaragebirges
herrscht. Seitdem sie vor vierzig Jahren ihren Hof gegründet hat,
ist sie mir ein Dorn im Auge, denn sie kämpft gegen meine Versuche
an, dem Reich Terreille die wohltätige Führung von Hayll angedeihen
zu lassen.«
Zögernd sagte Krelis: »Da sie keinem der
langlebigen Völker entstammt, muss sie mittlerweile ziemlich alt
sein.«
»Aber sie ist immer noch stark«, versetzte
Dorothea unwirsch. »Solange sie am Leben ist, wird sich Dena Nehele
Haylls Einfluss entziehen können, und die angrenzenden Territorien
werden weiterhin durch diesen Widerstand gestärkt werden. Selbst
wenn sie morgen sterben würde, bräuchte es mindestens eine
Generation, um ihren Einfluss ganz auszulöschen.«
»Du hast vor, dieser Grauen Lady den Krieg zu
erklären?«
Dorotheas goldene Augen nahmen einen harten
gelblichen
Farbton an. »Hayll lässt sich nicht zu solch barbarischen Akten
wie Krieg herab. Worin bestünde der Nutzen, ein Territorium zu
erlangen, das von einem Krieg gebeutelt wurde, wie die Angehörigen
des Blutes ihn führen?« Sie strich sich erneut mit der Feder übers
Kinn. »Es gibt subtilere Wege, dafür zu sorgen, dass ein
Territorium reif für die Ernte ist. Aber das ist nicht deine
Angelegenheit.«
Krelis starrte zu Boden. »Nein,
Priesterin.«
»Deine Aufgabe besteht darin, die Graue Lady aus
dem Weg zu räumen.«
Ohne nachzudenken, stieß er hervor: »Wie
denn?«
Sie blickte ihn voller Abscheu an. Bereute sie
es, dem alten Hauptmann übel mitgespielt und auf diese Weise seinen
taktisch klugen Verstand verloren zu haben? Doch dann änderte sich
ihre Miene.
»Armer Junge«, murmelte sie und streichelte ihm
sanft über die Wange. »Ich bin grausam zu dir gewesen, nicht wahr?
Nein, Liebling« – sie legte ihm die Finger auf die Lippen – »du
brauchst es nicht zu leugnen. Schließlich kannst du von den
Gewohnheiten dieses Miststücks nichts wissen.« Sie trat einen
Schritt zurück und seufzte. »In ihrem eigenen Territorium ist
Grizelle zu gut beschützt, als dass du dort an sie herankommen
könntest. Doch in den letzten paar Jahren ist sie zweimal im Jahr
aus ihrer Höhle hervorgekrochen, um den Sklavenmarkt in Raej zu
besuchen.«
»Ein Sklavenmarkt.« Krelis’ goldene Augen
leuchteten auf.
Dorothea schüttelte den Kopf. »Raej gilt als
neutraler Boden. Wenn dort aus irgendeinem Grund eine Königin
umgebracht wird, könnte es passieren, dass andere in Zukunft
fernbleiben. Und wie sollte man dann Spielzeuge verkaufen, derer
man überdrüssig ist, und sich neue zulegen?«
»Ein Sklave könnte mit einem treu ergebenen
Diener ausgetauscht werden, und dann …«
»Sie kauft niemanden aus Hayll, und außerhalb
unseres Volkes gibt es keine treu ergebenen Diener. Manchmal nicht
einmal innerhalb unseres Volkes.«
Krelis musste seine Frustration niederkämpfen.
Dies war die erste wichtige Aufgabe, die sie ihm übertrug, seitdem
er vor ein paar Monaten zum Hauptmann der Wache aufgestiegen war.
Er wollte sie nicht enttäuschen. Auf keinen Fall. »Was soll ich
dann tun, Priesterin?«
Dorothea blieb stehen. »Lord Krelis, du bist der
Hauptmann der Wache. Es liegt ganz bei dir, wie du es anstellst,
sie zu beseitigen.« Ihr Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf.
»Wenn du es allerdings möchtest, werde ich meine besondere Kunst
einsetzen, um dir auf jede erdenkliche Art behilflich zu
sein.«
Er atmete erleichtert auf. »Danke,
Priesterin.«
Dorothea musterte ihn unangenehm lange. Dann
lächelte sie. »Ich wusste, dass ich die richtige Wahl getroffen
habe, was den neuen Hauptmann meiner Wache betrifft. Deinem
Vorgänger habe ich das gleiche Angebot unterbreitet, doch er wollte
meine Hilfe nicht. Dass das Miststück seiner Falle recht leicht
entkommen konnte, war Grund genug, an seiner Loyalität zu zweifeln,
meinst du nicht auch?«
Bei dem Gedanken daran, wie das Gesicht des
ehemaligen Hauptmanns jetzt aussah, durchlief Krelis ein Zittern.
»Ja, Priesterin.«
»Um deine Treue werde ich mir doch wohl keine
Sorgen machen müssen, oder?«
»Nein, Priesterin.«
Dorothea trat auf ihn zu und schlang ihm die Arme
um den Hals. »Weißt du, Liebling, ich bin sehr großzügig zu einem
Mann, der mich zufriedenstellt.« Sie rieb ihre Brüste an seinem
Oberkörper und küsste ihn leidenschaftlich. Dann gurrte sie: »Das
soll dich an die Belohnung erinnern, die dir winkt, wenn du mir
brav dienst. Und das hier« – sie klemmte ihm die große weiße Feder
in den Gürtel – »soll dich an die Strafe erinnern, die dir blüht,
solltest du mich enttäuschen.«