Kapitel 3
Beinahe hätte er es geschafft, beinahe wäre er
nahe genug herangekommen, um auf einen der Winde aufzuspringen.
Wären ihm ein paar Augenblicke mehr geblieben, bevor der
Auktionator ihn mithilfe des Gehorsamkeitsringes hinabgezogen und
zu einer leichten Beute für die Wachen und ihre Peitschen gemacht
hatte, wäre er mittlerweile längst zu Hause.
Jene Augenblicke hätte er zur Verfügung gehabt,
wenn er den Wachtposten umgebracht hätte, der vor dem Sklavenpferch
Dienst geschoben hatte. Doch im letzten Moment, als der wilde
Fremde in seinem Innern schon mordlustig vorgestürzt war, hatte er
die gleiche wissende Angst in den Augen des Wächters gesehen, die
sich in den Augen der Königin widergespiegelt hatte, kurz bevor ihr
Blut an seinen Händen klebte … und er hatte die Wildheit gewaltsam
zurückgedrängt. Sein Angriff hatte den Wächter jedoch so lange
außer Gefecht gesetzt, dass es Jared gelungen war, aus dem Pferch
zu entkommen. Doch der Mann war zu schnell wieder zu sich gekommen
und hatte zu schnell Alarm schlagen können.
Eine weitere Gelegenheit würde es nicht geben.
Nicht nach dieser Nacht.
Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so
leid.
»Nun siehst du nicht mehr so hübsch aus, was,
kleiner Bettgespiele?«
Die Schmerzen sowie die höhnischen Worte des
Wächters rissen Jared aus seinen Gedanken. Er sah den Mann an,
einen niederträchtigen, brutalen Kerl, dessen gelbes Juwel genauso
schmierig war wie der Rest seines Aufzugs. Jared erwiderte
nichts.
Der Wächter hustete und spuckte aus. »All ihr
hübschen Bürschchen. Stolziert in euren feinen Kleidern herum, als
wärt ihr etwas Besseres als andere Männer, echte Männer, die
wissen, wie sie mit ihrem Schaft umzugehen haben. Tja, jetzt wird
niemand mehr mit dir spielen wollen, was, mein hübsches Kerlchen?
Abgesehen von den Königinnen in Pruul, und jeder weiß, was für
Spiele die am liebsten spielen!« Der Wächter grinste und
offenbarte dabei ein schwarzes Loch an einer Stelle, an der ihm
zwei Zähne fehlten.
Jared betrachtete den Wächter argwöhnisch. Beim
Morgengrauen hatte man ihn zurück in den Sklavenpferch gebracht und
ihn auf die Knie gezwungen. Anschließend war er so fest an vier
hüfthohe Eisenpfähle gebunden worden, dass er sich überhaupt nicht
mehr bewegen konnte, noch nicht einmal den Kopf drehen. Seit der
Nachmittagsration vom Vortag hatte er weder Nahrung noch Wasser
erhalten. Der Auktionator hatte ihm mit seinem Kontrollring, der
mit Jareds Ring des Gehorsams verbunden war, seit seiner
Gefangennahme letzte Nacht fortwährend leichte Schmerzen zugefügt.
Seine Genitalien waren so wund, dass er die Zähne zusammenbeißen
musste, um keinen lauten Schmerzensschrei auszustoßen, als eine
Fliege über seine Hoden spazierte.
Die Fliegen verursachten ihm zusätzliche Qualen,
indem sie um die Peitschenwunden an seinem Rücken und Bauch
summten, die wieder aufgesprungen waren, als die Wächter ihm die
Hände auf den Rücken gerissen und seine Arme nach oben gezerrt
hatten, um die Riemen an den hinteren Pfählen festzubinden.
Eine Fliege landete auf Jareds Wange. Er schloss
das linke Auge, bevor die Fliege es erreichen konnte.
Der Wächter starrte ihn kurz an und brach dann in
heftiges Fluchen aus. »Du verfluchter Hurensohn, zwinkerst du mir
etwa zu?« Er packte Jared an den Haaren und rief mithilfe der Kunst
ein Messer herbei. Dann drehte er die Klinge langsam, bis Jared nur
noch die scharfe Schneide sehen
konnte. »Nun, Gespiele, in den Salzminen wirst du kaum zwei Augen
brauchen.«
Jared keuchte auf, als die Klinge näher kam, immer
näher. Es würde nichts helfen, wenn er die Sache erklärte. Flehen
war ebenso zwecklos. Sollte er sich mithilfe der Kunst zu schützen
versuchen, würden sich sofort sämtliche Wächter auf ihn stürzen,
sodass er letzten Endes mehr als nur ein Auge verlöre.
Kurz bevor die Klinge Jareds Augapfel berühren
konnte, taumelte der Wächter jäh zurück. Er bewegte ruckartig den
Kopf, als wolle er etwas abschütteln, und rieb sich dann das Genick
mit der Faust. Als er sich umdrehte, erstarrte er und stieß ein
leises Winseln aus.
Jared blinzelte rasch mehrmals hintereinander, ohne
zu wissen, ob ihm Schweiß oder Tränen die Sicht raubten. Egal. Der
Wächter befand sich zwischen ihm und dem Etwas, das die
Aufmerksamkeit des Mannes derart in den Bann geschlagen
hatte.
Während der langen Sekunden, die der Wächter
erstarrt blieb, bemerkte Jared die Stille um sie her. Sämtliche
leisen Geräusche, die man normalerweise in einem Sklavenpferch zu
hören bekam, waren verstummt, so als hätten Sklaven und Wächter
gleichermaßen Angst, etwas zu tun, das Aufmerksamkeit erregen
könnte.
Schließlich ließ der Wächter das Messer
verschwinden und entfernte sich langsam und unbeholfen, als
gehorchten ihm seine Beine nicht mehr richtig.
Nun versperrte ihm der Wächter nicht länger die
Sicht, und Jared blickte in Daemon Sadis kalte goldene Augen.
Wenn Lustsklaven quasi die adelige Elite in der
Sklavenhierarchie waren, dann befand sich Daemon Sadi so weit über
den restlichen Lustsklaven, wie diese wiederum über den Sklaven,
die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Seinen Körper mit den
breiten Schultern und das wunderschöne Gesicht anzusehen oder
seiner tiefen, verführerischen Stimme zu lauschen, genügte schon,
um die meisten Frauen zu erregen – und etliche Männer obendrein,
ganz egal, wie
ihre Präferenzen sonst lagen. Man sagte von ihm, dass kein Wesen
aus Fleisch und Blut seinen Verführungskünsten widerstehen
konnte.
Und man nannte ihn den Sadisten, weil er genauso
grausam wie schön war. Er gehörte Dorothea SaDiablo und war schon
seit Jahrhunderten Lustsklave, ebenso wie Jared mit einem Ring des
Gehorsams ausgestattet. Abgesehen davon war er ein starker
Kriegerprinz, und Leute, die den Sadisten verärgerten, pflegten
unter eigenartigen Umständen zu verschwinden.
Jared seufzte erleichtert auf, als Daemon endlich
den Blick abwandte. Der gelangweilte Ausdruck, den sein ebenmäßiges
Gesicht zeigte, verriet nichts von seinen Gedanken oder Gefühlen.
Doch in der Stimme, die Jared über einen roten mentalen Speerfaden
erreichte, schwangen Verständnis und Anteilnahme mit.
*So, so. Du hast es also endlich nicht mehr
ausgehalten.*
Jared musste an die letzte Königin denken, der er
gehört hatte, und an die ganz besonderen Schlafzimmerspielchen, die
sie und ihr Prinzenbruder mit ihm veranstalten wollten. Ein
Schauder überlief ihn. *Nein, ich habe es nicht mehr ausgehalten*,
erwiderte er. *Ich habe sie nicht mehr ausgehalten. *
Wenn er vor acht Jahren nicht Daemons Interesse
erregt hätte, während sie am gleichen Hof gedient hatten, hätte er
nicht so lange überlebt. Für gewöhnlich wurden Lustsklaven nach ein
paar Jahren Dienst im Bett emotional labil. Daemons Lektionen
hatten ihm dabei geholfen, eine gewisse Distanz zu dem zu bewahren,
was man ihm zu tun befahl oder was man mit ihm tat.
Doch selbst diese Distanz hatte beim letzten Mal
nicht ausgereicht.
*Das Luder hatte den Tod verdient*, sagte Daemon,
als sei die Ermordung einer Königin etwas derart Gewöhnliches, dass
es im Grunde nicht der Rede wert war. In Sadis Fall kam das der
Wahrheit wahrscheinlich sogar recht nahe. Doch dann änderte sich
sein Tonfall, und er klang wie ein
Lehrer, der sich ein wenig über seinen Lieblingsschüler ärgerte.
*Aber du hättest ein wenig subtiler vorgehen können. *
Die Frau an Daemons Seite zupfte ihn am Ärmel
seines schwarzen, maßgeschneiderten Jacketts. Es schien sie zu
verwirren, dass sie sich so weit von den Belustigungen und
Verkaufsständen entfernt hatten. Im Vergleich zu Daemons Aussehen
mit seinem hayllischen Einschlag – goldbraune Haut, glänzend
schwarzes Haar und goldene Augen -, sah sie bleich und hässlich
aus. Sie murmelte etwas und zupfte erneut.
Daemon achtete nicht auf sie.
Jared konnte zwar die Worte nicht verstehen, das
flehende Winseln in ihrer Stimme war jedoch ohne weiteres
auszumachen. Seine Muskeln verkrampften sich. Er wagte kaum zu
atmen.
Als sie gerade ihre Hand erneut erheben wollte,
wurde ihr Gewinsel von Daemon unterbrochen, der sie bösartig
anknurrte. Rasch trat sie von ihm fort. Sobald sie sicher außer
Reichweite war, sagte sie mit schriller Stimme: »Ich könnte den
Ring benutzen.«
Daemon schenkte ihr ein kaltes, brutales
Lächeln.
Die Wächter tauschten nervöse Blicke aus und traten
von einem Bein auf das andere.
*Anscheinend gelüstet es meine Lady nach ein wenig
Unterhaltung *, sagte Daemon. Etwas unter dem gleichgültigen
Tonfall ließ in Jared die Frage aufsteigen, ob es die Lady nicht
schon bald von Herzen bereuen würde, ihre Drohung ausgesprochen zu
haben.
*Möge die Dunkelheit dich umarmen, Lord Jared*,
sagte Daemon, während er der Lady seinen Arm bot und sich mit ihr
zum Gehen wandte.
*Und dich, Prinz Sadi*, antwortete Jared.
Die beiden waren bereits außer Sichtweite, als
Daemons letzte Worte ihn erreichten: *Der Wächter wird von einem
geheimnisvollen Fieber befallen werden. Er wird sich wieder
erholen, aber er wird nie wieder über genug Kraft in seinen
Gliedmaßen verfügen, um seine Pflichten erfüllen zu können. Was,
meinst du, wird man mit einem solchen Mann an einem Ort wie Raej
machen?*
Jared erschauderte. Er war Sadi dankbar, dass
dieser die mentale Verbindung zwischen ihnen bereits abgebrochen
hatte. Zwar schuldete er Daemon sehr viel, doch es gab Dinge, die
er lieber nicht über den Sadisten wissen wollte.
Da landete erneut eine Fliege auf seiner
Wange.
Jared schloss die Augen und versuchte, nicht
nachzudenken. Er versuchte, sich nicht zu erinnern. Doch es
misslang ihm.
Als er die Augen wieder aufschlug, war bereits die
Dämmerung hereingebrochen. Jeden Moment würde die Glocke ertönen,
die das Ende dieses Auktionstages einläutete. Die Lords und Ladys,
die zum Einkaufen herkamen, tätigten ihre Geschäfte lieber im
grellen Sonnenlicht, denn im gedämpftem Kerzenschein oder gar im
Licht flackernder Fackeln ließen sich Makel an den nackten Sklaven
nur allzu leicht verbergen.
Der Wächter, der außerhalb des Pferches stand,
beobachtete ihn. Es war keiner der üblichen Schlägertypen. Das
Abzeichen an seiner sauberen Uniformjacke besagte, dass er zu den
Wachen gehörte, die als Geleitschutz angeheuert werden konnten. Es
war eine feste Regel auf dem Sklavenmarkt: Ladys mussten zwei
Wächter aus Raej anheuern, die ihnen mit den ersteigerten Sklaven
zur Hand gingen. Da der Mann allein war, bewachte wahrscheinlich
sein Partner die Sklaven, die schon gekauft worden waren.
Allerdings erklärte dieser Umstand noch immer
nicht, weshalb der Mann in der Nähe der Pferche umherspazierte, in
denen sich die zum Abschaum erklärten Sklaven aufhielten. Und
ebenso wenig erklärte es, warum der Bastard in seine Richtung
starrte …
Etwas kroch durch die Luft. Etwas Verlockendes.
Etwas Faszinierendes. Eine mentale Signatur, die Jareds Herz
schneller schlagen und seine Muskeln erzittern ließ. Eine
Signatur, nach der sich der wilde Fremde in seinem Innern reckte,
argwöhnisch und begierig – und voller Lust.
Die Signatur einer Königin.
Jared sah zu der leeren Stelle neben dem Wächter
hinüber. Doch sie war nicht leer.
Wider besseres Wissen starrte er sie geradewegs an
und hätte sie dennoch beinahe übersehen. Sie war grau und stand so
reglos da, dass sie fast mit dem Staub, dem Dämmerlicht und der
bedrückenden Atmosphäre der Verzweiflung verschmolz.
Nein. Nein! Nicht sie!
Verzweifelt hoffte er, die Auktionsglocke möge
erklingen. Vielleicht, wenn die Dunkelheit ihm gnädig gesonnen war,
würde sie am Morgen nicht zurückkehren und ihn erneut mit diesen
harten grauen Augen anblicken.
Es gab ein paar Höfe, an denen das Sklavendasein
beinahe erträglich war. An anderen Höfen nutzte jeder einzelne
Befehl die Seele eines Mannes ab.
In den Sklavenquartieren flüsterte man einander im
Dunkeln ängstlich Geschichten und Gerüchte zu. Warnungen und
Ratschläge wurden erteilt. Daher rührte auch eine Redensart der
Sklaven: Der Biss der neunschwänzigen Katze war besser, als
Dorothea SaDiablo zu gehören; Dorothea SaDiablo zu gehören war
besser, als in den Salzminen von Pruul zu sterben; doch in den
Salzminen von Pruul zu sterben war besser, viel besser, als von
Grizelle, der Grauen Lady, berührt zu werden.
Kein Sklave, der in ihr Territorium gebracht wurde,
war je wieder zurückgekehrt. Kein Sklave überlebte den Dienst bei
der Königin mit den grauen Juwelen, die nun so still und reglos vor
dem Pferch stand und ihn ansah.
Angst stieg in seinem Innern auf, bis sie all die
anderen Qualen des Tages verdrängt hatte. Da er an die Eisenpfähle
gefesselt war, konnte er sich nicht abwenden, ja er konnte noch
nicht einmal zu Boden blicken, weil der breite, enge Lederriemen um
seinen Hals ihn daran hinderte, den Kopf zu bewegen. Isoliert, wie
er war, konnte er sich nicht unter
die anderen Sklaven mischen, die sich auf der anderen Seite des
Pferches zusammendrängten. Er war den grauen Blicken schutzlos
ausgeliefert, körperlich und seelisch nackt.
Sie jagte ihm schreckliche Angst ein. Der einzige
Vorteil, den er immer besessen hatte, war der Umstand, dass die
Königinnen, denen er gehört hatte, keine Juwelen getragen hatten,
die eine Bedrohung für sein inneres Netz darstellten. Doch graue
Juwelen waren dunkler als Rot, und eine Königin, die seine inneren
Barrieren einreißen und sein inneres Netz mit derselben
Leichtigkeit zerfetzen konnte, mit der sie auch seinen Leib
zerreißen konnte, war keine Frau, der er auf irgendeine Weise nahe
kommen wollte. Auf gar keinen Fall.
Doch der wilde Fremde, jenes blutrünstige Tier, das
so wütend und mordlustig gewesen war, wollte nun am liebsten zu ihr
hinüberkriechen und ihr in einem Akt totaler Unterwerfung die Kehle
präsentieren.
Das jagte ihm noch mehr Angst ein.
»Lady, hier gibt es nichts von Interesse. Diese
Männer lassen sich nicht handhaben, sie taugen nur noch zur
Zwangsarbeit.«
Jared richtete seine Aufmerksamkeit auf den
Wächter, der neben Grizelle stand, als er die leise Besorgnis
vernahm, die in der Stimme des Mannes mitschwang. Der Mann hatte
allen Grund zur Sorge. Gelang es einem angeheuerten Wächter nicht,
die ihm anvertraute Lady zu beschützen, würde er sich
wahrscheinlich tags darauf selbst auf der Auktionsbühne
wiederfinden.
Grizelle achtete nicht auf ihren Begleiter, sondern
ließ eine Hand aus den weiten Ärmeln ihres Gewands hervorschnellen
und deutete auf Jared. »Der da.«
Jareds Brust zog sich so heftig zusammen, dass ihm
der Atem stockte. Beim Feuer der Hölle! Selbst ihre Stimme
war grau!
Und sie wollte ihn.
Nein, nein, nein, nein, nein!
»Der da?« Der Wächter klang
schockiert. »Lady, der hat die letzte Königin ermordet, der er
gehörte, und vergangene Nacht hat er bei einem Fluchtversuch einen
Wächter angegriffen. Er wird in den Salzminen enden, es sei denn,
jemand kauft ihn, um Schießübungen auf lebende Zielscheiben zu
veranstalten.«
Hör auf ihn, dachte Jared eindringlich. Er
versuchte, sie die Worte spüren zu lassen, ohne das Risiko einer
direkten Verbindung einzugehen. Ich bin beschmutzt, pervers, ein
hoffnungsloser Fall. Ich werde dich, solange es geht, bekämpfen,
und noch lange danach werde ich dich hassen.
Der Finger blieb unbeirrt auf ihn gerichtet. Die
grauen Augen blinzelten nicht einmal.
Er sah nur noch den Finger vor sich, der auf ihn
zeigte, und neun Jahre voller Angst und Schmerzen fingen an, sich
in tödlichen, eiskalten Hass zu verwandeln. Einst hatte er an
Vorstellungen wie Dienst und Ehre geglaubt. Nun glaubte er nur noch
an kalten Hass und Wut. Er war ein Krieger mit rotem Juwel aus
Shalador. Ein Angehöriger des Blutes. Er würde gegen sie kämpfen
und im Kampf untergehen. Das war besser, als sich vor ihr im Staub
zu winden, während sie ihn nach und nach in Stücke riss.
Der wilde Fremde heulte in seiner Verzweiflung vor
Verlangen auf. Er kämpfte gegen eben die Wut an, in der er
begeistert hätte aufgehen sollen. Beinahe wäre es ihm gelungen, sie
zu zerstören, bevor sie sich ganz entfalten konnte.
»Der da«, sagte die Graue Lady erneut.
Du wirst mich nicht bekommen, dachte Jared,
während er beobachtete, wie sich der Auktionator, den man
herbeigerufen hatte, ihm widerwillig näherte. Ich werde mich dir
nicht beugen. Selbst wenn ich sonst nichts tun kann, kann ich doch
so viel tun. Und das werde ich.
Als man sich endlich auf einen Preis geeinigt
hatte, verbeugte sich der Auktionator vor Grizelle und deutete dann
auf zwei der Wachen, die sich in dem Pferch befanden. »Wir werden
ihn für dich säubern, Lady«, sagte er. Sein wichtigtuerisches
Lächeln erstarb unter ihrem stahlgrauen Blick.
»Ich sorge, dafür dass er zusammen mit den Papieren in … einer
Stunde fertig ist?«
»In dreißig Minuten.«
Der Auktionator erbleichte. »Selbstverständlich,
Lady. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«
Ohne eine Erwiderung entfernte sich Grizelle
zusammen mit dem verdrießlich dreinblickenden Wächter, der zu ihrem
Geleitschutz abgestellt war.
Sie gaben ihm keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu
setzen. Nicht, dass er dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, so
wie seine völlig verkrampften Beine vor Schmerzen brannten, als die
Wachen ihn in die Höhe rissen. Sie machten zwei Ketten an seinem
Halsband fest und fesselten ihm die Hände hinter dem Rücken. Mit
einem pedantischen Lächeln verstärkte der Auktionator die
Schmerzwelle, die durch den Ring des Gehorsams strömte, bis Jareds
ohnehin schwache Beine nachgaben und er sich auf seine Atmung
konzentrieren musste, um nicht ohnmächtig zu werden.
Der kurze Weg zu dem kleinen Gebäude, in dem
niedere Sklaven ihren neuen Besitzerinnen übergeben wurden, dauerte
eine kleine Ewigkeit und endete doch viel zu schnell.
In dem Waschraum befanden sich eine Wasserpumpe,
ein hölzerner Trog, ein Holztisch, auf dem eine große Truhe stand,
und zwei Eisenpfähle zu je einer Seite des Abflusses.
In dem Augenblick, als die Wächter seine Hände
losmachten, schossen Schmerzen durch den Ring des Gehorsams. Als
Jared wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, war er bereits an
Handgelenken und Knöcheln an die Pfähle gekettet. Ein Wächter
pumpte Wasser in den Trog, während der Wächter, der ihm das Auge
hatte ausstechen wollen, in der Truhe herumstöberte. Jared wurde
übel, als der Wächter sich wieder umdrehte und einen breiten
Lederriemen mit Schnallen an den Enden in der Hand hielt. An der
Mitte des Riemens war ein lederner Ball festgenäht.
»Mach den Mund auf, hübsches Kerlchen«, sagte der
Wächter mit einem höhnischen Grinsen. Er kam auf Jared zu. »Du
weißt doch, wie man das macht.«
Jared biss die Zähne zusammen.
Die Augen des Wächters glitzerten vor hämischer
Schadenfreude, als er Jared den Knebel vor den Mund hielt. »Mach
den Mund auf, oder ich schlage dir sämtliche Zähne ein.«
Da erschien der Auktionator im Türrahmen zwischen
den beiden Räumen und stieß ein verärgertes Schnauben aus. »Dafür
haben wir keine Zeit. Sie wird bald hier sein. Außerdem ist er
bereits verkauft. Sollte er frisch beschädigt sein, wird das Luder
Schadenersatz verlangen.« Seine Stimme zitterte ein wenig und ließ
keinen Zweifel daran, wie der Schadenersatz aussähe, den die Graue
Lady von ihnen verlangen würde.
Erneut schoss eine Schmerzenswelle durch den Ring
des Gehorsams. Jared biss weiterhin fest die Zähne zusammen und
versuchte, die Qual auszuhalten, doch die Schmerzen ließen nicht
nach; sie drangen weiter und weiter und weiter auf ihn ein, bis er
den Mund zu einem atemlosen Schrei öffnete.
Mit einem zufriedenen Grunzen schob der Wächter ihm
den Knebel gewaltsam in den Mund und schnallte die Riemenenden an
seinem Hinterkopf zusammen.
Das breite Lederhalsband war zu dick und steif, um
seinem Kiefer nachzugeben, also hatte er den Kopf in den Nacken
legen müssen, um den Mund zu öffnen. Verzweifelt versuchte er mit
der Zunge zu verhindern, dass der lederne Ball zu weit nach hinten
rutschte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er war sicher, sich
übergeben zu müssen, sobald er sich verschluckte. Und sein Geist
…
Es hatte ein Vorkommnis gegeben, im Laufe seines
dritten Jahres als Lustsklave, als er am Hof einer Schwarzen Witwe
gedient hatte. Zwar war sie nicht hayllisch, doch sie war ein
Schützling Dorothea SaDiablos gewesen und hatte deren Lektionen
genossen, wie man den Geist eines Mannes am besten verstümmelte. Er
hatte noch lebhaft in Erinnerung, wie es sich anfühlte, auf dem
Rücken zu liegen, mit Händen und Füßen an das Bett gefesselt, und
einen Knebel
wie diesen hier zu tragen. Da man ihm Safframate, ein äußerst
wirksames Aphrodisiakum, eingeflößt hatte, hatte er keinerlei
Kontrolle über die gnadenlosen Bedürfnisse seines Körpers gehabt.
Hilflos hatte er dort gelegen, während sie mit ihm spielte und ihn
ritt, bis er schrie.
Etwas war in jener Nacht in ihm zerbrochen, und er
hatte den ersten Anflug von Wildheit gespürt. Doch es hatte sechs
weitere, seelenfressende Jahre gedauert, bis die Erziehung seines
Vaters und das angeborene Streben nach Ehre und der Respekt, den
Männer des Blutes Frauen gegenüber empfanden, einem Hass Platz
gemacht hatten, der so stark war, dass Jared sich endlich hatte zur
Wehr setzen können. Sechs Jahre lagen zwischen jener Nacht und der
Nacht, in der sich jene Wildheit Bahn gebrochen und er die Königin
und ihren Bruder umgebracht hatte. Doch vor zwei Jahren hatte er
innerlich jubiliert, als ihm zu Ohren gekommen war, dass die
Schwarze Witwe ein Spielchen zu viel mit dem Sadisten gespielt –
und verloren hatte.
Ein Schlag auf den Bauch riss ihn aus seinen
Gedanken und holte ihn zurück in den Waschraum und zur jetzigen
Quelle seiner Schmerzen.
Der Wächter fletschte grinsend die Zähne. »Da du
nun doch nicht in die Salzminen kommen wirst, ist es das Mindeste,
was wir für dich tun können, ein wenig Salzmine zu dir zu
bringen.«
Mit einem Grinsen öffnete der andere Wächter einen
gro ßen Sack und schüttete grobkörniges Salz in den mit Wasser
gefüllten Holztrog. Dann hob er den Trog mithilfe der Kunst empor
und ließ ihn durch den Raum schweben.
Jared schloss die Augen, als der Trog auf ihn
zugeschwebt kam. Das Zittern seines Körpers beachtete er
nicht.
Er würde gewaltsam in den Abgrund hinabtauchen, bis
er die ganze Kraft seiner roten Juwelen erreicht hatte. Jeden
einzelnen Tropfen seiner Macht würde er aufsammeln. Und während er
in den Abgrund hinabstürzte, würde er einen roten Schild um das
Gebäude legen, um eine mentale Grenze zu bilden. Dann würde er alle
Kraft freisetzen, die er gesammelt
hatte. Die rote Kraft würde gegen jene Grenze stoßen und mit aller
Gewalt zurückprallen. Selbst wenn jemand die ursprüngliche
Freisetzung von so viel dunkler Macht in einem kleinen Raum
überlebte, würde der Rückstoß das Werk der Zerstörung vollenden.
Sie alle würden sterben – und er ebenfalls, denn er würde keinen
Tropfen seiner roten Macht zurückbehalten, um sich selbst zu
schützen.
Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so
leid.
Er stieg in den Abgrund hinab.
Der wilde Fremde kam ihm von unten entgegen,
prallte mit ihm zusammen und hinderte ihn daran, weiter
hinabzugehen.
Zur Hölle mit dir, LASS MICH STERBEN!,
schrie Jared, während er versuchte, an dem Teil seiner selbst
vorbeizukommen, der zu seinem Feind geworden war. Er musste seine
rote Kraft erreichen. Lass mich …
Das salzige, eiskalte Wasser aus dem Trog ergoss
sich über ihn. Die Muskulatur um Jareds Lungenflügel zog sich
krampfartig zusammen. Die offenen Wunden der Peitschenhiebe
brannten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, konnte nicht
atmen.
Mit einem Wutschrei stürzte sich der wilde Fremde
zurück in den Abgrund, so tief, dass er ihn nicht länger spüren
konnte. Unauffindbar.
Jared sackte zusammen. Seine Schultern verursachten
ihm unerträgliche Pein, da nun seine Arme sein Körpergewicht
trugen. Sein Vorhaben von gerade eben, sich selbst umzubringen,
verblasste zu einer fernen Erinnerung. Die vergangenen neun Jahre
Sklaverei drohten ihn zu erdrücken, bis er glaubte, sein bebender
Körper würde jeden Moment unter dem Gewicht zerbersten.
Er war nicht gebrochen. Seine mentale Kraft war
immer noch vorhanden, doch auf irgendeine Weise hatte der wilde
Fremde ihm den Willen geraubt, sie einzusetzen.
Ich bin ein Krieger aus Shalador. Ein
Angehöriger des Blutes.
Jetzt klangen die Worte in seinen Ohren erbärmlich
und leer.
Der Wächter entfernte den Knebel, wobei er ganze
Strähnen von Jareds Haar ausriss, die sich in den Schnallen
verfangen hatten.
Jared ertrug die neuen Schmerzen und fragte sich
teilnahmslos, ob eine Seele verbluten konnte, ob das der Grund war,
weshalb er sich derart schwach und hohl fühlte.
Er bekam kaum mit, wie die Wächter ihn losbanden
und ihn halb in das angrenzende Zimmer schleiften, wo sie ihn an
ein weiteres Paar Eisenpfähle ketteten. Der Auktionator erschien
vor ihm und sagte etwas, das streng klang, doch die Worte waren
nichts weiter als dumpfe Laute, und er konnte sie nicht lange genug
festhalten, um sie zu verstehen.
Jemand entfernte ihm das breite
Lederhalsband.
Sein Kinn sank ihm auf die Brust.
Er hing wirren Gedanken nach, bis jemand sein Kinn
sanft anhob und ihn harte graue Augen in ihren Bann zogen. Sie
sahen in ihn hinein, als sei nichts von seinen inneren Barrieren
übrig, als könne er nichts sein Eigen nennen – es gab weder einen
Gedanken noch ein Gefühl, das sie nicht untersuchen und als
wertlose Lappalie abtun konnte. Er wand sich unter diesem Blick,
während sich Erinnerungen an seine Familie ihren Weg an die
Oberfläche zu bahnen versuchten. Sie sollte nicht in den Besitz
seiner Erinnerungen an seine jüngeren Brüder, seine Tanten und
Onkel, seine Cousins und seinen Vater gelangen. Seine Mutter. Nein,
er wollte nicht, dass sie seine Erinnerungen an Reyna erhielt, vor
allem nicht die letzte Erinnerung an sie, wie sie dastand und ihr
Herz blutete wegen der brutalen Worte, die er ihr an den Kopf
geworfen hatte.
Die grauen Augen blickten weiter in die seinen,
doch ihre Finger glitten seinen zitternden Körper entlang, strichen
über das Haar an seinen Lenden und beschrieben sanft einen Kreis.
Schließlich umkreisten sie den Ring des Gehorsams. Der enge goldene
Reif erweiterte sich, bis Jared ihn nicht mehr spüren konnte.
Sie drehte sich leicht zur Seite und machte eine
Bewegung mit der rechten Hand auf den hölzernen Tisch zu, der
mitten im Raum stand. Das überraschte Aufkeuchen der Wächter
übertönte nicht ganz das andere Geräusch – es klang wie eine
schwere Münze, die sich drehte, wie der Reifen eines Kindes, der an
Geschwindigkeit einbüßt, während er kreiselt, und immer tiefer
sinkt, bis er ganz auf dem Boden zu liegen kommt.
»Lady!«
Der entsetzte Ausruf hatte etwas zu bedeuten, doch
Jared fühlte sich zu leer, um reagieren zu können. Sein Körper tat
so weh, dass er noch nicht einmal die fortwährenden Qualen spüren
konnte, die vom Ring des Gehorsams ausgingen – die Pein, die einen
Mann nie vergessen ließ, welche Schmerzen ihm jederzeit
drohten.
»Beim Feuer der Hölle, Lady. Leg ihm einen Ring
an!«
Die mentalen Signaturen der Männer in dem Raum
stanken förmlich nach Angst.
Jared runzelte die Stirn. Er wünschte, seine
Gedanken wären nicht derart verschwommen. Ihm einen Ring
anlegen?
Langsam wurde ihm klar, dass auf dem Tisch keine
schwere Münze lag, sondern der Ring des Gehorsams. Der Ring, den er
die letzten neun Jahre getragen hatte.
Bevor er auch nur versuchen konnte, seine geistige
Lethargie und körperliche Schwäche abzuschütteln, um zu begreifen,
was dies alles zu bedeuten hatte, legten sich Grizelles Finger
erneut um sein Geschlecht und drückten leicht zu. Er keuchte auf,
als Schmerzen seine Nervenbahnen entlangjagten.
Lichtblitze schossen aus ihren Fingern und
blendeten ihn. Donnergrollen ließ das Gebäude beben. Das
unverwechselbare Gefühl von Macht erfüllte das Zimmer.
Grizelle trat zurück und betrachtete gelassen die
nervösen Wächter, ihren schockierten Begleiter und den schwitzenden
Auktionator, der verzweifelt die Hände rang. »Ihr habt nichts zu
befürchten«, sagte sie. »Er trägt jetzt meinen Ring.«
Der Auktionator deutete mit einem zitternden Finger
auf Jareds Lende. »A-aber, Lady, da ist kein Ring.«
»Ach«, sagte Grizelle. Es lagen so viele Nuancen in
der einen Silbe, so viel Eis in ihrem gelassenen Lächeln. »Doch, da
ist einer. Er trägt den Unsichtbaren Ring.«
Jareds Herz hämmerte in seiner Brust. Der
Unsichtbare Ring?
Schemenhaft geisterte eine Erinnerung durch seinen
Verstand, doch er bekam sie nicht zu fassen.
Der Auktionator kaute an seiner Unterlippe. »Von so
einem Ring habe ich noch nie etwas gehört.«
Jared schon. Doch was? Und wo?
»Die Hexen in meiner Familie benutzen ihn seit
Generationen«, erklärte Grizelle. Sie deutete auf den Ring des
Gehorsams, der auf dem Tisch lag. »Er ist zehnmal mächtiger als
dieses kleine Spielzeug.« Dann hielt sie inne. »Bedarf es einer
weiteren Demonstration?«
Die Männer versicherten ihr rasch, dass dies nicht
nötig sei.
Jared schloss die Augen. Beim Feuer der Hölle und
der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben! Zehnmal
mächtiger! Zehnmal schmerzvoller. Wie sollte er das nur
überleben?
Gar nicht.
Niemand überlebte es, Grizelle zu gehören. Und
jetzt wusste er auch, warum.
Er ließ seinen Gedanken wieder freien Lauf. Es war
ihm völlig gleichgültig, was sich sonst noch in dem Zimmer
ereignete. Weitere sinnlose Laute, die ihn nur dumpf an Worte
erinnerten. Weibliche Wut, die sich wie ein heftiger Sturm am
Horizont zusammenbraute. Gewinsel. Hände, die ihn von den Pfählen
losbanden und ihn in ein anderes Zimmer führten. Er blieb dort
stehen, wo man ihn hingeführt hatte. Teilnahmslos.
Zehnmal mächtiger, und er konnte den Ring noch
nicht einmal spüren. Vielleicht war er betäubt von zu starken
Schmerzen. Vielleicht war der Ring zu raffiniert und hintergründig,
als dass Jared ihn nach den Qualen der letzten Tage hätte spüren
können.
Wenn er sich bloß daran erinnern könnte, was er
über die Wirkungsweise des Ringes gehört hatte, oder inwiefern
dieser sich vom Ring des Gehorsams unterschied!
Andererseits sollte er vielleicht dankbar sein,
dass es ihm nicht einfallen wollte.
Hinter ihm ging die Tür auf, und der angeheuerte
Begleiter der Lady, der im Zimmer geblieben war, um ihn im Auge zu
behalten, nahm Haltung an. »Lady?«
Verflucht. Etwas hatte sich zugetragen, während er
mit seinen Gedanken woanders gewesen war. In der Stimme des
Wächters schwang verhaltene Angst mit. Es war ein vertrauter Klang,
der bedeutete, dass sich die Wut einer Hexe mit dunklen Juwelen
beim nächsten unachtsamen Wort entladen konnte.
»Die Kleidung, nach der du verlangt hast, wird
jeden Augenblick eintreffen«, sagte der Begleiter. Der Mann
schluckte. »Gibt es noch etwas, Lady?«
Es kostete Jared all seine Selbstbeherrschung, sich
nicht umzudrehen, um zu sehen, was sie tat. Er konzentrierte sich
und erriet, dass ein Deckel von einem Glasbehälter geschraubt
wurde.
»Ich möchte mir die Wunden ansehen«, sagte die
Graue Lady. »Sie müssen gründlich gereinigt und mit dieser
Heilsalbe behandelt werden. Ich habe mit dem Kerl noch einiges vor
und möchte nicht, dass er mir wegstirbt, bevor ich auch nur den
geringsten Nutzen aus ihm gezogen habe.«
Ihre Stimme jagte Jared einen Schauder über den
Rücken. Doch es war ihre mentale Signatur, die ihn fast völlig aus
der Fassung brachte. Selbst ohne die Anwesenheit des wilden Fremden
erregte sie eine Lust in ihm, die über rein körperliches Begehren
hinausging; es handelte sich um die Art Lust, die ein Mann mit
dunklen Juwelen in der Gegenwart einer Hexe mit dunklen Juwelen
empfand. Es ging so weit, dass er sich danach verzehrte, von ihr
berührt zu werden, ihre Hände auf seiner Haut zu spüren.
Dafür hasste er sie am allermeisten.
Der Begleiter zögerte. Schließlich sagte er: »Darum
kann ich mich kümmern, Lady.«
Erleichterung breitete sich in Jared aus, als
Grizelle das kleine Zimmer verließ. Es war besser, die rauen Hände
eines anderen Mannes zu spüren, als erneut von jenen zarten Fingern
angefasst zu werden.
Als die Wachen ein paar Minuten später die Kleidung
und die restlichen Pflegeutensilien brachten, konnte Jared an
nichts anderes als seinen übermächtigen Durst denken. Am liebsten
hätte er den Begleiter gefragt, ob er von der Wasserschüssel
trinken dürfe – in diesem Augenblick hätte er alles getrunken, egal
was dem Wasser zur Wundreinigung beigesetzt worden war -, doch
angesichts des wütenden Knurrens des Mannes blieben ihm die Worte
im Halse stecken. Es bereitete ihm stechende Schmerzen, als der
Begleiter ihm Rücken und Bauch mit dem warmen Wasser wusch, das
reinigende Kräuter enthielt. Währenddessen fragte Jared sich, ob
Grizelle gewusst hatte, welche Qualen ihm dies zufügen würde, oder
ob es ihr einfach gleichgültig war, wie lange er schon nichts mehr
getrunken hatte.
Jared ertrug die Reinigung, ohne einen Laut von
sich zu geben, doch er stieß ein Keuchen aus, als der Wächter ihm
die Heilsalbe auf die Peitschenwunden an seinem Rücken rieb. Die
Salbe fühlte sich nach dem warmen Wasser eisig an. Außerdem
betäubte sie seine Haut rasch.
Auf diese Weise von noch mehr Schmerzen erlöst,
entsann er sich des Rates, den Daemon Sadi ihm im Laufe des Jahres
gegeben hatte, das sie zusammen am selben Hof verbracht
hatten.
Daemon hatte es kühnes Draufgängertum genannt. Wenn
ein Mann, aus welchem Grund auch immer, als Häufchen Elend an einen
Hof kam und sich mit der Zeit ein wenig erholte oder ein gewisses
Temperament an den Tag legte, würden die Königin und die Hexen in
ihrem Ersten Kreis dies als Trotz auslegen, und die anderen Männer,
die fürchten mussten, ihren Platz in der Hackordnung des Hofes zu
verlieren,
als Herausforderung. Wenn ein Mann jedoch von Anfang an kühn und
draufgängerisch auftrat, wurde der Königin und den übrigen Hexen
ins Gedächtnis gerufen, dass man ein dunkles Juwel nicht einfach
unterschätzen durfte, bloß weil ein Mann einen Ring trug und als
Sklave betrachtet wurde. Solch ein Mann wurde mit größerer Vorsicht
behandelt und sah sich weniger Herausforderungen vonseiten der
anderen Männer ausgesetzt. Man sah ihn als in Ketten gelegtes
Raubtier, nicht als Beute. An manchen Höfen gab dies den Ausschlag,
ob man überlebte oder nicht.
»Das kann ich selbst«, krächzte Jared, als der
Begleiter daran ging, die Wunden an seinem Bauch mit der Salbe zu
versorgen. Er war sich da zwar nicht sicher, ja er war sich noch
nicht einmal sicher, ob er noch viel länger aufrecht stehen können
würde, da er auf dem besten Wege war, die Grenzen seiner
körperlichen Belastbarkeit zu erreichen. Kühnes Draufgängertum war
ein zerbrechlicher Schutzschild, doch im Augenblick war es alles,
was er hatte. »Ich kann das selbst machen«, wiederholte er.
»Halt den Mund«, fuhr der Wächter ihn an, während
er rasch die Salbe auftrug.
Jared musterte das verbissene Gesicht, die Schatten
in den Augen, die seinen Blick mieden. Der Begleiter war ein
Krieger mit purpurnem Juwel. Wie wurde er damit fertig, die
geschundenen, nackten Körper seiner Brüder zu sehen? Wie konnte er
damit leben, diejenigen anzusehen, die verstümmelt, gebrochen oder
rasiert worden waren? Ging er zu einer Geliebten oder einer Ehefrau
nach Hause, für die er so etwas wie Zuneigung empfand? Hatte er
Kinder, die er umarmte, mit denen er spielte und die er liebte?
Oder hatte er sich eines Tages auf dem Sklavenmarkt eine Hexe
ersteigert, eine, die bereits gebrochen und unfruchtbar war, und
die er bestieg, ohne sich im Geringsten um ihre Gefühle oder ihr
Wohlergehen zu kümmern? Was dachte er über die Männer, die hier
ersteigert und verkauft wurden? Hatte er jemals aufgeblickt und
einen Mann auf der Auktionsbühne gesehen, den er einst seinen
Freund genannt hatte?
Ach, die Schatten in den Augen! Die Sorge, jemanden
wie die Graue Lady auf den Sklavenmarkt begleiten zu müssen.
Sieh genau hin, dachte Jared, als der Mann mit dem Auftragen
der Salbe fertig war und von ihm wegtrat. Sieh dir den Preis an,
den du vielleicht eines Tages für ein einziges Fehlurteil wirst
zahlen müssen.
Als hätte Jared seine Gedanken einen mentalen
Speerfaden entlanggeschickt, blickte der Wächter ihm in die Augen.
Für einige Augenblicke herrschte angespanntes Schweigen. »Du bist
nichts weiter als ein süßer Mund und ein Schwanz, mit dem die Ladys
sich vergnügen können«, knurrte der Begleiter.
Jared verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln.
»Ich bin ein Krieger mit rotem Juwel aus Shalador. Ich bin stärker,
als du es je sein wirst, und kann Kräfte freisetzen, von denen du
nur träumen kannst. Und ich bin immer noch hier.«
Die Kinnpartie des Wächters verspannte sich. Sein
Atem ging stoßweise. »Zieh dich an. Dein Schwanz ist ab jetzt nur
noch für Privatvorführungen gedacht.«
Die Kleidungsstücke lagen auf einer grob
geschnitzten Bank neben dem kleinen Tisch, auf dem die
Waschschüssel stand. Jared zwang sich, den Blick von der Schüssel
mit dem schmutzigen Wasser abzuwenden, doch nicht schnell
genug.
Schadenfreude funkelte in den Augen des Wächters,
als er die Schüssel mithilfe der Kunst verschwinden ließ. »Du magst
ein rotes Juwel tragen, aber du bist und bleibst ein Sklave und
trägst immer noch einen Ring. Ich habe vielleicht keine Ahnung von
der Macht, die dir zur Verfügung stand, als du noch frei damit
umgehen konntest, aber ich verlasse den Markt als freier Mann,
trinke einen kühlen Schluck Wasser, wann immer mir danach ist, und
werde mir einen Humpen Ale genehmigen, sobald ich die Graue Lady
sicher zu einer Kutsche gebracht habe. Und heute Abend besteige ich
eine Frau, wie es einem Mann zusteht. Und du? Du wärst auf dem
Bauch vor mir gekrochen und
hättest die Sohlen meiner Stiefel geleckt für einen Schluck
Schmutzwasser.«
»Das leugne ich nicht«, erwiderte Jared. »Aber du,
frei? Im Moment vielleicht. Der einzige Unterschied zwischen Dienst
und Sklaverei ist ein goldener Ring. Wenn Rot angekettet werden
kann, wie lange wird Purpur dann noch frei sein? Wenn morgen die
richtige Summe Goldmünzen ihre Besitzerin wechselte, wie lange
würde es dann deiner Meinung nach dauern, bis aus einem gut
aussehenden Begleiter ein gut aussehender Sklave wird?«
Das Gesicht des Begleiters überzog sich mit dunkler
Röte. Er hob eine Faust.
Jared sagte kein Wort und regte sich nicht. Er warf
lediglich einen Blick in Richtung der Tür, die in den Korridor
führte, und lächelte wissend. Dann beobachtete er, wie der Wächter
seine widersprüchlichen Gefühle zu verbergen suchte. Es war dem
Mann genau anzusehen, in welchem Augenblick er zu dem Schluss kam,
dass er eine »Disziplinierung« des Sklaven nicht rechtfertigen
können würde.
Er ließ die Faust wieder sinken und spuckte Worte
aus, als handele es sich um zähen Knorpel: »In fünf Minuten lege
ich dir Ketten an und bringe dich von hier weg.« Er riss die Tür
zum Korridor auf und starrte Jared mit glühendem Blick an. »Ich
hoffe, sie reißt dich ganz allmählich in Stücke.«
»Höchstwahrscheinlich wird sie genau das tun«,
sagte Jared, nachdem der Begleiter die Tür hinter sich zugeworfen
hatte. Unter größter Willensanstrengung gelang es ihm, die zwei
Schritte auf die Bank aus unbearbeitetem Holz zuzugehen. Er
breitete das Hemd aus und ließ sich behutsam darauf nieder,
dankbar, dass seine zitternden Beine ihn eine Weile nicht tragen
mussten.
Jared, wenn du nackt im Teich baden gehst, dann
denk dran, dein Handtuch über den Baumstamm zu legen, bevor du dich
hinsetzt. Ansonsten ziehst du dir Splitter an Stellen ein, an denen
du sie am wenigsten haben möchtest.
Wo denn, Mutter?
Frag deinen Vater.
Das hatte er getan. Belarr hatte seinen Sohn eine
Minute lang gemustert und dann vor sich hin gegrummelt, warum sie
nicht wenigstens eine Tochter haben konnten, damit er sich
revanchieren könne. Dann hatte Belarr einen Seufzer ausgestoßen und
erklärt, was Reyna wahrscheinlich meinte. Auf diese Weise hatte
Belarr es immer ausgedrückt: Wahrscheinlich meint deine Mutter
Folgendes … Als empfände er, der starke Krieger, das Bedürfnis,
sich abzusichern, wenn er die Worte einer Frau erklären sollte,
insbesondere die Worte der Frau, die er geheiratet hatte.
Jared seufzte erschöpft. Seine Schmerzen gingen
über die bloßen körperlichen Verletzungen hinaus, als er sich die
grob gewobene Hose anzog und in die minderwertigen Ledersandalen
schlüpfte. Er griff nach dem Hemd, das aus kratzendem Material
bestand, brachte es jedoch nicht fertig, es sich über den Kopf zu
ziehen. Er atmete behutsam durch und drehte sich zu dem mannshohen
Spiegel um, der an der Rückwand des Zimmers befestigt war. In dem
Gebäude, in dem Lustsklaven die Besitzerin wechselten, war die
gesamte Rückwand verspiegelt. Den Grund dafür konnte er
nachvollziehen. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, warum
sie hier ebenfalls einen Spiegel angebracht hatten, wo es
gleichgültig war, ob ein Sklave beim Verlassen des Gebäudes adrett
und gepflegt aussah.
Seine Finger bebten, als er leicht über die Knöpfe
der Hose strich. Mental oder mit den Fingern tastend … er konnte
den Unsichtbaren Ring einfach nicht erspüren. Er hatte nicht die
leiseste Ahnung, wie sensibel der Ring eingestellt war. Wo lag die
Grenze zwischen erlaubter einfacher Kunst und dem, was mit
schrecklichen Qualen bestraft werden würde?
»Kühnes Draufgängertum«, murmelte Jared. Es war
schwierig, die Risiken abzuschätzen, während er noch so wenig über
die Graue Lady und ihren Hof wusste. Doch er konnte sich das Hemd
einfach nicht über den Kopf ziehen, ohne vorher die Wunden mit
einem gewissen Schutz zu versehen. Er hatte noch die Schreie von
Männern im Ohr, denen
man ein Hemd auszog, das an den Peitschenwunden auf ihrem Rücken
festgeklebt war, woraufhin die Wunden erneut aufrissen. Er hatte
gesehen, wie jene Männer aussahen, nachdem ihre Wunden endlich
verheilt waren.
Einfache Heilkunst. Ein Fingerhut voll Macht. Mehr
benötigte er nicht, um einen festen Schutzschild über seinem Rücken
und Bauch zu erschaffen, der das Hemd von seiner Haut fernhalten
würde.
Erneut atmete Jared behutsam durch. Dann erschuf er
den Schild und wartete ab.
Nichts. Keine Schmerzwelle von dem Ring, keine
wütenden Schritte im Korridor.
Er musste erst die Furcht hinunterschlucken, bevor
er sich das Hemd überziehen und sein Ebenbild im Spiegel betrachten
konnte.
Zwar war er nicht gerade für einen Ausflug inmitten
von Adeligen angezogen, doch er war dennoch ein attraktiver Mann:
hoch gewachsen und gut gebaut, mit der für Shalador typischen
goldenen Haut – nicht braun wie bei den langlebigen Haylliern oder
hell wie bei anderen Völkern, sondern von der Sonne geküsst, von
Goldstaub überzogen. Ein schöner Teint, wenn man das dunkelbraune
Haar und die braunen Augen der Shaladorier dazurechnete.
Allerdings waren seine Augen von dem seltenen
shaladorischen Grün – Augen, die sich durch die Blutlinien bis zu
Shal, der großen Königin, zurückverfolgen ließen, die einst die
verschiedenen Stämme zu einem Volk vereint hatte.
Reynas Augen.
Er war der Einzige der drei Jungen, der ihre Augen
geerbt hatte.
Bis vor Kurzem war er noch zum Sterben bereit
gewesen, doch nun, da er noch am Leben war, wollte er auch am Leben
bleiben. Süße Dunkelheit, er musste es schaffen, lange genug
zu überleben, um nach Hause zurückzukehren, lange genug, um mit
Reyna zu sprechen und jene Worte zurückzunehmen.
Kühnes Draufgängertum. Die einzige Waffe, die er
ungestraft
einsetzen konnte. Zwar trieb er Raubbau mit den letzten
Ressourcen, die ihm an körperlicher Ausdauer noch geblieben waren,
doch er musste durchhalten, bis man ihn in das Sklavenabteil in der
Kutsche geschafft hatte. Er musste Grizelle davon überzeugen, dass
er immer noch ein Mann war, von dem sie etwas zu erwarten hatte.
Eine Zeit lang würde er den Umstand verbergen müssen, dass dies
nichts weiter als eine hohle Behauptung war.
Mit zitternden Händen fuhr Jared sich durch das
Haar. Im Moment war es ein wenig ungepflegt, doch mit ein wenig
Kunst ließ sich aus ungepflegt verführerisch zerzaust machen. Die
Graue Lady war eine alte Frau, aber er war ein Sklave, der im Bett
ausgebildet war und ein paar Leckereien zu bieten hatte, die sie
vielleicht noch verlocken und ablenken konnten. Vielleicht würde
die Waage auf diese Weise zu seinem Vorteil ausschlagen, während er
versuchte herauszubekommen, wie viel Kontrolle dieser verfluchte
Ring über ihn besaß.
Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass
er die Graue Lady dazu ermuntern müssen würde, sich an ihm gütlich
zu tun. Doch wenn es sie dazu brachte, weniger achtsam zu sein,
würde er vielleicht ihren Fängen entschlüpfen und auf den Winden
nach Shalador reisen können.
Ohne Vorwarnung öffnete der Begleiter die Tür und
blieb jäh stehen. Es gelang ihm nicht, seine Überraschung zu
verbergen angesichts der Verwandlung, die mit dem nackten Sklaven
vor sich gegangen war, den er eben noch hier zurückgelassen hatte.
Vor ihm stand nun ein Krieger, der sich von seinem Spiegelbild
abwandte und ihn anlächelte.
Es bereitete Jared Genugtuung, dass es ihm gelungen
war, den Mann aus der Fassung zu bringen. Er ging mit
ausgestreckten Armen auf ihn zu, als wolle er ihm einen Gefallen
tun. »Wenn du mich in Ketten legen willst, dann beeil dich. Die
Graue Lady wartet schon auf ihren Tanz.« Er hoffte, der Wächter
hielte die Erschöpfung in seiner Stimme für Langeweile.
»Von Ketten hat sie nichts gesagt«, meinte der Mann
widerwillig.
»Nein, das dachte ich mir schon. Die Lady wirkt
äußerst diskret, und Ketten sind meist recht auffällig, besonders
wenn sie in einem gewissen Rhythmus an die Bettpfosten schlagen.
Meinst du nicht auch?«
Die Lippen des Begleiters verzogen sich zu einem
höhnischen Grinsen. »Ich war noch nie angekettet.«
»Ich wollte damit nicht andeuten, dass du
angekettet warst.« Jared wartete, bis der andere seine Beleidigung
begriffen hatte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Oder dass du es
nötig gehabt hättest. Ich dachte bloß, da du ja deinen
Lebensunterhalt damit verdienst, andere Leute anzuketten, kennst du
vielleicht ein paar interessante Stellungen, von denen man an den
Höfen noch nichts gehört hat. Aber vielleicht auch nicht. Das ist
ein bisschen, wie eine Frau von hinten zu nehmen. Ist nicht
jedermanns Geschmack.«
Wut loderte ihm aus den Augen des Begleiters
entgegen. »Weißt du überhaupt, was ich dir alles antun
könnte?«
»Nicht das Geringste.« Jared entblößte seine Zähne
und fügte leise hinzu: »Komm schon, versuch es doch. Schauen wir
einmal, ob dieser Ring mich wirklich zurückhalten kann.«
»Gibt es ein Problem?« Grizelles Stimme ergoss sich
wie kalter Regen über die beiden Männer.
Der Wächter trat widerwillig auf den Korridor
hinaus. »Nein, Lady.«
»Warum dauert das dann so lange?«
Jared schenkte dem Begleiter ein selbstgefälliges
Lächeln, wobei ihm klar war, dass dies den Mann zur Weißglut
treiben würde, weil ihm nicht die geringste Möglichkeit offen
stand, darauf zu reagieren.
Es war an der Zeit, den letzten Akt zu
spielen.
Mutter der Nacht, lass meinen Körper noch ein
klein wenig durchhalten.
Jared machte einen Schritt vorwärts und zwang den
Begleiter, zur Seite zu treten. Er verbeugte sich vor Grizelle
und achtete darauf, dass die Verbeugung genau so ausfiel, wie es
das Protokoll einem Krieger mit rotem Juwel gegenüber einer Königin
mit grauem Juwel vorschrieb.
Zumindest wenn es sich bei dem Krieger nicht um
einen Sklaven handelte.
Der Begleiter stieß ein wütendes Knurren aus.
Grizelle starrte Jared ungläubig an, doch er
meinte, ein amüsiertes Flackern in den harten grauen Augen erspäht
zu haben.
Sie hatte also etwas für kühnes Draufgängertum
übrig. Der Dunkelheit sei Dank!
Er beutete die letzten Reste seiner mentalen Kraft
weiter aus, um die Wirkung eines sinnlichen Mannes zu erzielen, dem
daran gelegen war, zu gefallen. Jared bot der Grauen Lady seine
rechte Hand, die Innenfläche nach unten.
Erst nach kurzem Zögern legte Grizelle leicht ihre
Linke über seine Hand und gestattete ihm, sie aus dem Gebäude zu
führen.
Jared musste sich ein Grinsen verbeißen. Der
Begleiter schlich nun wie ein grollendes, vergessenes Hündchen
hinter ihnen her.
Es war schon dunkel, als sie einen von einem Pony
gezogenen Wagen mieteten, um das Gelände des Sklavenmarktes zu
verlassen. Allerdings fuhren sie nicht auf direktem Weg zu dem
offiziellen Landeplatz. Stattdessen nahmen sie eine Seitenstraße,
die um den niedrigen, abgeflachten Hügel herumführte, bis sie die
Kutscher mit ihren Gefährten erreichten, die auf den Winden reisen
konnten.
»Warte bei den anderen«, sagte Grizelle, als Jared
ihr von dem Wagen half. Sie schenkte keinem der beiden Männer auch
nur die geringste Beachtung, als sie losging, um eine Fahrkarte zu
erwerben.
Jared hielt sich an dem Wagen fest. Er hoffte
inständig, der Begleiter würde nicht merken, wie dringend er diese
Stütze brauchte, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Er war sich nicht sicher, ob seine Beine ihn bis zu der Kutsche
tragen würden.
»Ich weiß nicht, wo die anderen sind«, sagte er
schließlich.
»Hier entlang«, knurrte der Wächter.
Als sie auf den Partner des Mannes zugingen, der
auf die übrigen Sklaven aufgepasst hatte, warf Jared einen Blick
über die Schulter und sah einen Botenjungen, der Grizelle ein Stück
Papier überreichte. Der Junge rannte sofort davon, ohne auch nur
auf das gewöhnliche Trinkgeld zu warten.
Jared spürte ein warnendes Prickeln zwischen den
Schulterblättern. Also blieb er stehen und beobachtete, wie sie die
Botschaft las.
So reglos. So still. So grau. Nichts an ihr schien
sich verändert zu haben, sodass er selbst nicht verstand, weshalb
er instinktiv seine erste innere Barriere öffnete und einen dünnen
roten mentalen Faden aussandte. Selbst wenn ihre inneren Barrieren
nicht ohnehin stärker als die seinen gewesen wären, war der Faden
zu zart, um auch nur die oberflächlichsten Gedanken zu ertasten.
Deshalb war es nicht sehr wahrscheinlich, dass er bemerkt werden
würde. Doch der Faden wäre in der Lage, einen Hauch ihrer Gefühle
zu erahnen und Jared auf diese Weise ihre Stimmung zu
verraten.
Auf die geballte Angst, die den Faden entlang auf
ihn zugerast kam, war er nicht vorbereitet gewesen.
Etwas war geschehen. Etwas hatte sich geändert.
Während der Fahrt war diese Angst nicht da gewesen. Dessen war er
sich sicher. Beim Feuer der Hölle, er hatte sie berührt, hatte
neben ihr gesessen. Nicht einmal sie hätte derart starke Gefühle
trotz des Körperkontakts zwischen ihnen verbergen können.
Also lag es an der Botschaft. Die Bot …
Noch während er beobachtete, wie Grizelle die Hände
in den Ärmeln ihres Gewands verschwinden ließ und in das Gebäude
ging, in dem die Fahrharten verkauft wurden, ließ seine schwindende
Ausdauer schlagartig nach. Die Welt verschwamm um ihn her.
Trotz der Hand an seinem Arm, die ihn führte, fiel
es ihm
so schwer, weiterzugehen. Die Worte wurden wieder undeutlich,
verschwammen miteinander und dehnten sich, bis sie zu einer Sprache
aus albtraumhaften Lauten wurden. Gestalten tauchten vor ihm auf,
aus dem Nichts. Jemand zerrte an seinem Arm. Er blieb stehen. Das
Wortgemisch verströmte den Geruch von blutroter Angst und
widerlichem Schweiß.
Wasser.
Weshalb war das nun das einzige Wort, das noch Sinn
ergab?
»Sie wird … Kutsche nach Westen?«
Wahrscheinlich sprach da einer der Wächter, doch er
konnte es nicht mit Sicherheit sagen, da die Stimme mal laut, mal
leise an seine Ohren drang.
»Nach … Westen des Territoriums …
Tamanaragebirge.«
»Das habe … mir gedacht … den Rest …
gebracht.«
Doch sie gingen weiter, gingen eine Ewigkeit,
während die Begleiter leise fluchten und ihre messerscharfe Wut ihn
verletzte.
Wo waren seine inneren Barrieren? Wo …
Jemand zog ihn am Arm.
»Seeeetz diiiich.«
Seine Beine gaben nach.
Eine graue Stimme. Das Wort »Wasser«.
Ein Becher an seinem Mund. Wasser rann ihm über die
Lippen in den Mund. Er schluckte es nicht gleich, um das Nass
genießen zu können. Dann wollte er nach dem Becher greifen und ihn
hastig leeren, doch er wurde ihm entzogen.
»Laaaangsaaaam.«
Er gehorchte. Es war so wichtig zu gehorchen, so
wichtig, dass diese Frauenstimme, die nicht grau war, ihm das
Wasser nicht wegnahm.
Schließlich hatte er genug.
Kühn … Draufgänger … Das war auch wichtig, obwohl
er sich nicht mehr entsinnen konnte, weshalb.
Er glitt zur Seite. Das Wasser hatte seine Knochen
zum Schmelzen gebracht. Er hatte nicht gewusst, dass Wasser
das konnte. Whiskey schon, wenn man genug davon trank, aber
Wasser? Wer hätte das gedacht?
Dann glitt er weiter in die süße Dunkelheit,
schmolz und glitt und glitt, fort in die Sicherheit der
Nacht.