Kapitel 3
007
Beinahe hätte er es geschafft, beinahe wäre er nahe genug herangekommen, um auf einen der Winde aufzuspringen. Wären ihm ein paar Augenblicke mehr geblieben, bevor der Auktionator ihn mithilfe des Gehorsamkeitsringes hinabgezogen und zu einer leichten Beute für die Wachen und ihre Peitschen gemacht hatte, wäre er mittlerweile längst zu Hause.
Jene Augenblicke hätte er zur Verfügung gehabt, wenn er den Wachtposten umgebracht hätte, der vor dem Sklavenpferch Dienst geschoben hatte. Doch im letzten Moment, als der wilde Fremde in seinem Innern schon mordlustig vorgestürzt war, hatte er die gleiche wissende Angst in den Augen des Wächters gesehen, die sich in den Augen der Königin widergespiegelt hatte, kurz bevor ihr Blut an seinen Händen klebte … und er hatte die Wildheit gewaltsam zurückgedrängt. Sein Angriff hatte den Wächter jedoch so lange außer Gefecht gesetzt, dass es Jared gelungen war, aus dem Pferch zu entkommen. Doch der Mann war zu schnell wieder zu sich gekommen und hatte zu schnell Alarm schlagen können.
Eine weitere Gelegenheit würde es nicht geben. Nicht nach dieser Nacht.
Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so leid.
 
»Nun siehst du nicht mehr so hübsch aus, was, kleiner Bettgespiele?«
Die Schmerzen sowie die höhnischen Worte des Wächters rissen Jared aus seinen Gedanken. Er sah den Mann an, einen niederträchtigen, brutalen Kerl, dessen gelbes Juwel genauso schmierig war wie der Rest seines Aufzugs. Jared erwiderte nichts.
Der Wächter hustete und spuckte aus. »All ihr hübschen Bürschchen. Stolziert in euren feinen Kleidern herum, als wärt ihr etwas Besseres als andere Männer, echte Männer, die wissen, wie sie mit ihrem Schaft umzugehen haben. Tja, jetzt wird niemand mehr mit dir spielen wollen, was, mein hübsches Kerlchen? Abgesehen von den Königinnen in Pruul, und jeder weiß, was für Spiele die am liebsten spielen!« Der Wächter grinste und offenbarte dabei ein schwarzes Loch an einer Stelle, an der ihm zwei Zähne fehlten.
Jared betrachtete den Wächter argwöhnisch. Beim Morgengrauen hatte man ihn zurück in den Sklavenpferch gebracht und ihn auf die Knie gezwungen. Anschließend war er so fest an vier hüfthohe Eisenpfähle gebunden worden, dass er sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte, noch nicht einmal den Kopf drehen. Seit der Nachmittagsration vom Vortag hatte er weder Nahrung noch Wasser erhalten. Der Auktionator hatte ihm mit seinem Kontrollring, der mit Jareds Ring des Gehorsams verbunden war, seit seiner Gefangennahme letzte Nacht fortwährend leichte Schmerzen zugefügt. Seine Genitalien waren so wund, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, um keinen lauten Schmerzensschrei auszustoßen, als eine Fliege über seine Hoden spazierte.
Die Fliegen verursachten ihm zusätzliche Qualen, indem sie um die Peitschenwunden an seinem Rücken und Bauch summten, die wieder aufgesprungen waren, als die Wächter ihm die Hände auf den Rücken gerissen und seine Arme nach oben gezerrt hatten, um die Riemen an den hinteren Pfählen festzubinden.
Eine Fliege landete auf Jareds Wange. Er schloss das linke Auge, bevor die Fliege es erreichen konnte.
Der Wächter starrte ihn kurz an und brach dann in heftiges Fluchen aus. »Du verfluchter Hurensohn, zwinkerst du mir etwa zu?« Er packte Jared an den Haaren und rief mithilfe der Kunst ein Messer herbei. Dann drehte er die Klinge langsam, bis Jared nur noch die scharfe Schneide sehen konnte. »Nun, Gespiele, in den Salzminen wirst du kaum zwei Augen brauchen.«
Jared keuchte auf, als die Klinge näher kam, immer näher. Es würde nichts helfen, wenn er die Sache erklärte. Flehen war ebenso zwecklos. Sollte er sich mithilfe der Kunst zu schützen versuchen, würden sich sofort sämtliche Wächter auf ihn stürzen, sodass er letzten Endes mehr als nur ein Auge verlöre.
Kurz bevor die Klinge Jareds Augapfel berühren konnte, taumelte der Wächter jäh zurück. Er bewegte ruckartig den Kopf, als wolle er etwas abschütteln, und rieb sich dann das Genick mit der Faust. Als er sich umdrehte, erstarrte er und stieß ein leises Winseln aus.
Jared blinzelte rasch mehrmals hintereinander, ohne zu wissen, ob ihm Schweiß oder Tränen die Sicht raubten. Egal. Der Wächter befand sich zwischen ihm und dem Etwas, das die Aufmerksamkeit des Mannes derart in den Bann geschlagen hatte.
Während der langen Sekunden, die der Wächter erstarrt blieb, bemerkte Jared die Stille um sie her. Sämtliche leisen Geräusche, die man normalerweise in einem Sklavenpferch zu hören bekam, waren verstummt, so als hätten Sklaven und Wächter gleichermaßen Angst, etwas zu tun, das Aufmerksamkeit erregen könnte.
Schließlich ließ der Wächter das Messer verschwinden und entfernte sich langsam und unbeholfen, als gehorchten ihm seine Beine nicht mehr richtig.
Nun versperrte ihm der Wächter nicht länger die Sicht, und Jared blickte in Daemon Sadis kalte goldene Augen.
Wenn Lustsklaven quasi die adelige Elite in der Sklavenhierarchie waren, dann befand sich Daemon Sadi so weit über den restlichen Lustsklaven, wie diese wiederum über den Sklaven, die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Seinen Körper mit den breiten Schultern und das wunderschöne Gesicht anzusehen oder seiner tiefen, verführerischen Stimme zu lauschen, genügte schon, um die meisten Frauen zu erregen – und etliche Männer obendrein, ganz egal, wie ihre Präferenzen sonst lagen. Man sagte von ihm, dass kein Wesen aus Fleisch und Blut seinen Verführungskünsten widerstehen konnte.
Und man nannte ihn den Sadisten, weil er genauso grausam wie schön war. Er gehörte Dorothea SaDiablo und war schon seit Jahrhunderten Lustsklave, ebenso wie Jared mit einem Ring des Gehorsams ausgestattet. Abgesehen davon war er ein starker Kriegerprinz, und Leute, die den Sadisten verärgerten, pflegten unter eigenartigen Umständen zu verschwinden.
Jared seufzte erleichtert auf, als Daemon endlich den Blick abwandte. Der gelangweilte Ausdruck, den sein ebenmäßiges Gesicht zeigte, verriet nichts von seinen Gedanken oder Gefühlen. Doch in der Stimme, die Jared über einen roten mentalen Speerfaden erreichte, schwangen Verständnis und Anteilnahme mit.
*So, so. Du hast es also endlich nicht mehr ausgehalten.*
Jared musste an die letzte Königin denken, der er gehört hatte, und an die ganz besonderen Schlafzimmerspielchen, die sie und ihr Prinzenbruder mit ihm veranstalten wollten. Ein Schauder überlief ihn. *Nein, ich habe es nicht mehr ausgehalten*, erwiderte er. *Ich habe sie nicht mehr ausgehalten. *
Wenn er vor acht Jahren nicht Daemons Interesse erregt hätte, während sie am gleichen Hof gedient hatten, hätte er nicht so lange überlebt. Für gewöhnlich wurden Lustsklaven nach ein paar Jahren Dienst im Bett emotional labil. Daemons Lektionen hatten ihm dabei geholfen, eine gewisse Distanz zu dem zu bewahren, was man ihm zu tun befahl oder was man mit ihm tat.
Doch selbst diese Distanz hatte beim letzten Mal nicht ausgereicht.
*Das Luder hatte den Tod verdient*, sagte Daemon, als sei die Ermordung einer Königin etwas derart Gewöhnliches, dass es im Grunde nicht der Rede wert war. In Sadis Fall kam das der Wahrheit wahrscheinlich sogar recht nahe. Doch dann änderte sich sein Tonfall, und er klang wie ein Lehrer, der sich ein wenig über seinen Lieblingsschüler ärgerte. *Aber du hättest ein wenig subtiler vorgehen können. *
Die Frau an Daemons Seite zupfte ihn am Ärmel seines schwarzen, maßgeschneiderten Jacketts. Es schien sie zu verwirren, dass sie sich so weit von den Belustigungen und Verkaufsständen entfernt hatten. Im Vergleich zu Daemons Aussehen mit seinem hayllischen Einschlag – goldbraune Haut, glänzend schwarzes Haar und goldene Augen -, sah sie bleich und hässlich aus. Sie murmelte etwas und zupfte erneut.
Daemon achtete nicht auf sie.
Jared konnte zwar die Worte nicht verstehen, das flehende Winseln in ihrer Stimme war jedoch ohne weiteres auszumachen. Seine Muskeln verkrampften sich. Er wagte kaum zu atmen.
Als sie gerade ihre Hand erneut erheben wollte, wurde ihr Gewinsel von Daemon unterbrochen, der sie bösartig anknurrte. Rasch trat sie von ihm fort. Sobald sie sicher außer Reichweite war, sagte sie mit schriller Stimme: »Ich könnte den Ring benutzen.«
Daemon schenkte ihr ein kaltes, brutales Lächeln.
Die Wächter tauschten nervöse Blicke aus und traten von einem Bein auf das andere.
*Anscheinend gelüstet es meine Lady nach ein wenig Unterhaltung *, sagte Daemon. Etwas unter dem gleichgültigen Tonfall ließ in Jared die Frage aufsteigen, ob es die Lady nicht schon bald von Herzen bereuen würde, ihre Drohung ausgesprochen zu haben.
*Möge die Dunkelheit dich umarmen, Lord Jared*, sagte Daemon, während er der Lady seinen Arm bot und sich mit ihr zum Gehen wandte.
*Und dich, Prinz Sadi*, antwortete Jared.
Die beiden waren bereits außer Sichtweite, als Daemons letzte Worte ihn erreichten: *Der Wächter wird von einem geheimnisvollen Fieber befallen werden. Er wird sich wieder erholen, aber er wird nie wieder über genug Kraft in seinen Gliedmaßen verfügen, um seine Pflichten erfüllen zu können. Was, meinst du, wird man mit einem solchen Mann an einem Ort wie Raej machen?*
Jared erschauderte. Er war Sadi dankbar, dass dieser die mentale Verbindung zwischen ihnen bereits abgebrochen hatte. Zwar schuldete er Daemon sehr viel, doch es gab Dinge, die er lieber nicht über den Sadisten wissen wollte.
Da landete erneut eine Fliege auf seiner Wange.
Jared schloss die Augen und versuchte, nicht nachzudenken. Er versuchte, sich nicht zu erinnern. Doch es misslang ihm.
 
Als er die Augen wieder aufschlug, war bereits die Dämmerung hereingebrochen. Jeden Moment würde die Glocke ertönen, die das Ende dieses Auktionstages einläutete. Die Lords und Ladys, die zum Einkaufen herkamen, tätigten ihre Geschäfte lieber im grellen Sonnenlicht, denn im gedämpftem Kerzenschein oder gar im Licht flackernder Fackeln ließen sich Makel an den nackten Sklaven nur allzu leicht verbergen.
Der Wächter, der außerhalb des Pferches stand, beobachtete ihn. Es war keiner der üblichen Schlägertypen. Das Abzeichen an seiner sauberen Uniformjacke besagte, dass er zu den Wachen gehörte, die als Geleitschutz angeheuert werden konnten. Es war eine feste Regel auf dem Sklavenmarkt: Ladys mussten zwei Wächter aus Raej anheuern, die ihnen mit den ersteigerten Sklaven zur Hand gingen. Da der Mann allein war, bewachte wahrscheinlich sein Partner die Sklaven, die schon gekauft worden waren.
Allerdings erklärte dieser Umstand noch immer nicht, weshalb der Mann in der Nähe der Pferche umherspazierte, in denen sich die zum Abschaum erklärten Sklaven aufhielten. Und ebenso wenig erklärte es, warum der Bastard in seine Richtung starrte …
Etwas kroch durch die Luft. Etwas Verlockendes. Etwas Faszinierendes. Eine mentale Signatur, die Jareds Herz schneller schlagen und seine Muskeln erzittern ließ. Eine Signatur, nach der sich der wilde Fremde in seinem Innern reckte, argwöhnisch und begierig – und voller Lust.
Die Signatur einer Königin.
Jared sah zu der leeren Stelle neben dem Wächter hinüber. Doch sie war nicht leer.
Wider besseres Wissen starrte er sie geradewegs an und hätte sie dennoch beinahe übersehen. Sie war grau und stand so reglos da, dass sie fast mit dem Staub, dem Dämmerlicht und der bedrückenden Atmosphäre der Verzweiflung verschmolz.
Nein. Nein! Nicht sie!
Verzweifelt hoffte er, die Auktionsglocke möge erklingen. Vielleicht, wenn die Dunkelheit ihm gnädig gesonnen war, würde sie am Morgen nicht zurückkehren und ihn erneut mit diesen harten grauen Augen anblicken.
Es gab ein paar Höfe, an denen das Sklavendasein beinahe erträglich war. An anderen Höfen nutzte jeder einzelne Befehl die Seele eines Mannes ab.
In den Sklavenquartieren flüsterte man einander im Dunkeln ängstlich Geschichten und Gerüchte zu. Warnungen und Ratschläge wurden erteilt. Daher rührte auch eine Redensart der Sklaven: Der Biss der neunschwänzigen Katze war besser, als Dorothea SaDiablo zu gehören; Dorothea SaDiablo zu gehören war besser, als in den Salzminen von Pruul zu sterben; doch in den Salzminen von Pruul zu sterben war besser, viel besser, als von Grizelle, der Grauen Lady, berührt zu werden.
Kein Sklave, der in ihr Territorium gebracht wurde, war je wieder zurückgekehrt. Kein Sklave überlebte den Dienst bei der Königin mit den grauen Juwelen, die nun so still und reglos vor dem Pferch stand und ihn ansah.
Angst stieg in seinem Innern auf, bis sie all die anderen Qualen des Tages verdrängt hatte. Da er an die Eisenpfähle gefesselt war, konnte er sich nicht abwenden, ja er konnte noch nicht einmal zu Boden blicken, weil der breite, enge Lederriemen um seinen Hals ihn daran hinderte, den Kopf zu bewegen. Isoliert, wie er war, konnte er sich nicht unter die anderen Sklaven mischen, die sich auf der anderen Seite des Pferches zusammendrängten. Er war den grauen Blicken schutzlos ausgeliefert, körperlich und seelisch nackt.
Sie jagte ihm schreckliche Angst ein. Der einzige Vorteil, den er immer besessen hatte, war der Umstand, dass die Königinnen, denen er gehört hatte, keine Juwelen getragen hatten, die eine Bedrohung für sein inneres Netz darstellten. Doch graue Juwelen waren dunkler als Rot, und eine Königin, die seine inneren Barrieren einreißen und sein inneres Netz mit derselben Leichtigkeit zerfetzen konnte, mit der sie auch seinen Leib zerreißen konnte, war keine Frau, der er auf irgendeine Weise nahe kommen wollte. Auf gar keinen Fall.
Doch der wilde Fremde, jenes blutrünstige Tier, das so wütend und mordlustig gewesen war, wollte nun am liebsten zu ihr hinüberkriechen und ihr in einem Akt totaler Unterwerfung die Kehle präsentieren.
Das jagte ihm noch mehr Angst ein.
»Lady, hier gibt es nichts von Interesse. Diese Männer lassen sich nicht handhaben, sie taugen nur noch zur Zwangsarbeit.«
Jared richtete seine Aufmerksamkeit auf den Wächter, der neben Grizelle stand, als er die leise Besorgnis vernahm, die in der Stimme des Mannes mitschwang. Der Mann hatte allen Grund zur Sorge. Gelang es einem angeheuerten Wächter nicht, die ihm anvertraute Lady zu beschützen, würde er sich wahrscheinlich tags darauf selbst auf der Auktionsbühne wiederfinden.
Grizelle achtete nicht auf ihren Begleiter, sondern ließ eine Hand aus den weiten Ärmeln ihres Gewands hervorschnellen und deutete auf Jared. »Der da.«
Jareds Brust zog sich so heftig zusammen, dass ihm der Atem stockte. Beim Feuer der Hölle! Selbst ihre Stimme war grau!
Und sie wollte ihn.
Nein, nein, nein, nein, nein!
»Der da?« Der Wächter klang schockiert. »Lady, der hat die letzte Königin ermordet, der er gehörte, und vergangene Nacht hat er bei einem Fluchtversuch einen Wächter angegriffen. Er wird in den Salzminen enden, es sei denn, jemand kauft ihn, um Schießübungen auf lebende Zielscheiben zu veranstalten.«
Hör auf ihn, dachte Jared eindringlich. Er versuchte, sie die Worte spüren zu lassen, ohne das Risiko einer direkten Verbindung einzugehen. Ich bin beschmutzt, pervers, ein hoffnungsloser Fall. Ich werde dich, solange es geht, bekämpfen, und noch lange danach werde ich dich hassen.
Der Finger blieb unbeirrt auf ihn gerichtet. Die grauen Augen blinzelten nicht einmal.
Er sah nur noch den Finger vor sich, der auf ihn zeigte, und neun Jahre voller Angst und Schmerzen fingen an, sich in tödlichen, eiskalten Hass zu verwandeln. Einst hatte er an Vorstellungen wie Dienst und Ehre geglaubt. Nun glaubte er nur noch an kalten Hass und Wut. Er war ein Krieger mit rotem Juwel aus Shalador. Ein Angehöriger des Blutes. Er würde gegen sie kämpfen und im Kampf untergehen. Das war besser, als sich vor ihr im Staub zu winden, während sie ihn nach und nach in Stücke riss.
Der wilde Fremde heulte in seiner Verzweiflung vor Verlangen auf. Er kämpfte gegen eben die Wut an, in der er begeistert hätte aufgehen sollen. Beinahe wäre es ihm gelungen, sie zu zerstören, bevor sie sich ganz entfalten konnte.
»Der da«, sagte die Graue Lady erneut.
Du wirst mich nicht bekommen, dachte Jared, während er beobachtete, wie sich der Auktionator, den man herbeigerufen hatte, ihm widerwillig näherte. Ich werde mich dir nicht beugen. Selbst wenn ich sonst nichts tun kann, kann ich doch so viel tun. Und das werde ich.
Als man sich endlich auf einen Preis geeinigt hatte, verbeugte sich der Auktionator vor Grizelle und deutete dann auf zwei der Wachen, die sich in dem Pferch befanden. »Wir werden ihn für dich säubern, Lady«, sagte er. Sein wichtigtuerisches Lächeln erstarb unter ihrem stahlgrauen Blick. »Ich sorge, dafür dass er zusammen mit den Papieren in … einer Stunde fertig ist?«
»In dreißig Minuten.«
Der Auktionator erbleichte. »Selbstverständlich, Lady. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«
Ohne eine Erwiderung entfernte sich Grizelle zusammen mit dem verdrießlich dreinblickenden Wächter, der zu ihrem Geleitschutz abgestellt war.
Sie gaben ihm keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Nicht, dass er dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, so wie seine völlig verkrampften Beine vor Schmerzen brannten, als die Wachen ihn in die Höhe rissen. Sie machten zwei Ketten an seinem Halsband fest und fesselten ihm die Hände hinter dem Rücken. Mit einem pedantischen Lächeln verstärkte der Auktionator die Schmerzwelle, die durch den Ring des Gehorsams strömte, bis Jareds ohnehin schwache Beine nachgaben und er sich auf seine Atmung konzentrieren musste, um nicht ohnmächtig zu werden.
Der kurze Weg zu dem kleinen Gebäude, in dem niedere Sklaven ihren neuen Besitzerinnen übergeben wurden, dauerte eine kleine Ewigkeit und endete doch viel zu schnell.
In dem Waschraum befanden sich eine Wasserpumpe, ein hölzerner Trog, ein Holztisch, auf dem eine große Truhe stand, und zwei Eisenpfähle zu je einer Seite des Abflusses.
In dem Augenblick, als die Wächter seine Hände losmachten, schossen Schmerzen durch den Ring des Gehorsams. Als Jared wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, war er bereits an Handgelenken und Knöcheln an die Pfähle gekettet. Ein Wächter pumpte Wasser in den Trog, während der Wächter, der ihm das Auge hatte ausstechen wollen, in der Truhe herumstöberte. Jared wurde übel, als der Wächter sich wieder umdrehte und einen breiten Lederriemen mit Schnallen an den Enden in der Hand hielt. An der Mitte des Riemens war ein lederner Ball festgenäht.
»Mach den Mund auf, hübsches Kerlchen«, sagte der Wächter mit einem höhnischen Grinsen. Er kam auf Jared zu. »Du weißt doch, wie man das macht.«
Jared biss die Zähne zusammen.
Die Augen des Wächters glitzerten vor hämischer Schadenfreude, als er Jared den Knebel vor den Mund hielt. »Mach den Mund auf, oder ich schlage dir sämtliche Zähne ein.«
Da erschien der Auktionator im Türrahmen zwischen den beiden Räumen und stieß ein verärgertes Schnauben aus. »Dafür haben wir keine Zeit. Sie wird bald hier sein. Außerdem ist er bereits verkauft. Sollte er frisch beschädigt sein, wird das Luder Schadenersatz verlangen.« Seine Stimme zitterte ein wenig und ließ keinen Zweifel daran, wie der Schadenersatz aussähe, den die Graue Lady von ihnen verlangen würde.
Erneut schoss eine Schmerzenswelle durch den Ring des Gehorsams. Jared biss weiterhin fest die Zähne zusammen und versuchte, die Qual auszuhalten, doch die Schmerzen ließen nicht nach; sie drangen weiter und weiter und weiter auf ihn ein, bis er den Mund zu einem atemlosen Schrei öffnete.
Mit einem zufriedenen Grunzen schob der Wächter ihm den Knebel gewaltsam in den Mund und schnallte die Riemenenden an seinem Hinterkopf zusammen.
Das breite Lederhalsband war zu dick und steif, um seinem Kiefer nachzugeben, also hatte er den Kopf in den Nacken legen müssen, um den Mund zu öffnen. Verzweifelt versuchte er mit der Zunge zu verhindern, dass der lederne Ball zu weit nach hinten rutschte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er war sicher, sich übergeben zu müssen, sobald er sich verschluckte. Und sein Geist …
Es hatte ein Vorkommnis gegeben, im Laufe seines dritten Jahres als Lustsklave, als er am Hof einer Schwarzen Witwe gedient hatte. Zwar war sie nicht hayllisch, doch sie war ein Schützling Dorothea SaDiablos gewesen und hatte deren Lektionen genossen, wie man den Geist eines Mannes am besten verstümmelte. Er hatte noch lebhaft in Erinnerung, wie es sich anfühlte, auf dem Rücken zu liegen, mit Händen und Füßen an das Bett gefesselt, und einen Knebel wie diesen hier zu tragen. Da man ihm Safframate, ein äußerst wirksames Aphrodisiakum, eingeflößt hatte, hatte er keinerlei Kontrolle über die gnadenlosen Bedürfnisse seines Körpers gehabt. Hilflos hatte er dort gelegen, während sie mit ihm spielte und ihn ritt, bis er schrie.
Etwas war in jener Nacht in ihm zerbrochen, und er hatte den ersten Anflug von Wildheit gespürt. Doch es hatte sechs weitere, seelenfressende Jahre gedauert, bis die Erziehung seines Vaters und das angeborene Streben nach Ehre und der Respekt, den Männer des Blutes Frauen gegenüber empfanden, einem Hass Platz gemacht hatten, der so stark war, dass Jared sich endlich hatte zur Wehr setzen können. Sechs Jahre lagen zwischen jener Nacht und der Nacht, in der sich jene Wildheit Bahn gebrochen und er die Königin und ihren Bruder umgebracht hatte. Doch vor zwei Jahren hatte er innerlich jubiliert, als ihm zu Ohren gekommen war, dass die Schwarze Witwe ein Spielchen zu viel mit dem Sadisten gespielt – und verloren hatte.
Ein Schlag auf den Bauch riss ihn aus seinen Gedanken und holte ihn zurück in den Waschraum und zur jetzigen Quelle seiner Schmerzen.
Der Wächter fletschte grinsend die Zähne. »Da du nun doch nicht in die Salzminen kommen wirst, ist es das Mindeste, was wir für dich tun können, ein wenig Salzmine zu dir zu bringen.«
Mit einem Grinsen öffnete der andere Wächter einen gro ßen Sack und schüttete grobkörniges Salz in den mit Wasser gefüllten Holztrog. Dann hob er den Trog mithilfe der Kunst empor und ließ ihn durch den Raum schweben.
Jared schloss die Augen, als der Trog auf ihn zugeschwebt kam. Das Zittern seines Körpers beachtete er nicht.
Er würde gewaltsam in den Abgrund hinabtauchen, bis er die ganze Kraft seiner roten Juwelen erreicht hatte. Jeden einzelnen Tropfen seiner Macht würde er aufsammeln. Und während er in den Abgrund hinabstürzte, würde er einen roten Schild um das Gebäude legen, um eine mentale Grenze zu bilden. Dann würde er alle Kraft freisetzen, die er gesammelt hatte. Die rote Kraft würde gegen jene Grenze stoßen und mit aller Gewalt zurückprallen. Selbst wenn jemand die ursprüngliche Freisetzung von so viel dunkler Macht in einem kleinen Raum überlebte, würde der Rückstoß das Werk der Zerstörung vollenden. Sie alle würden sterben – und er ebenfalls, denn er würde keinen Tropfen seiner roten Macht zurückbehalten, um sich selbst zu schützen.
Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so leid.
Er stieg in den Abgrund hinab.
Der wilde Fremde kam ihm von unten entgegen, prallte mit ihm zusammen und hinderte ihn daran, weiter hinabzugehen.
Zur Hölle mit dir, LASS MICH STERBEN!, schrie Jared, während er versuchte, an dem Teil seiner selbst vorbeizukommen, der zu seinem Feind geworden war. Er musste seine rote Kraft erreichen. Lass mich …
Das salzige, eiskalte Wasser aus dem Trog ergoss sich über ihn. Die Muskulatur um Jareds Lungenflügel zog sich krampfartig zusammen. Die offenen Wunden der Peitschenhiebe brannten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, konnte nicht atmen.
Mit einem Wutschrei stürzte sich der wilde Fremde zurück in den Abgrund, so tief, dass er ihn nicht länger spüren konnte. Unauffindbar.
Jared sackte zusammen. Seine Schultern verursachten ihm unerträgliche Pein, da nun seine Arme sein Körpergewicht trugen. Sein Vorhaben von gerade eben, sich selbst umzubringen, verblasste zu einer fernen Erinnerung. Die vergangenen neun Jahre Sklaverei drohten ihn zu erdrücken, bis er glaubte, sein bebender Körper würde jeden Moment unter dem Gewicht zerbersten.
Er war nicht gebrochen. Seine mentale Kraft war immer noch vorhanden, doch auf irgendeine Weise hatte der wilde Fremde ihm den Willen geraubt, sie einzusetzen.
Ich bin ein Krieger aus Shalador. Ein Angehöriger des Blutes.
Jetzt klangen die Worte in seinen Ohren erbärmlich und leer.
Der Wächter entfernte den Knebel, wobei er ganze Strähnen von Jareds Haar ausriss, die sich in den Schnallen verfangen hatten.
Jared ertrug die neuen Schmerzen und fragte sich teilnahmslos, ob eine Seele verbluten konnte, ob das der Grund war, weshalb er sich derart schwach und hohl fühlte.
Er bekam kaum mit, wie die Wächter ihn losbanden und ihn halb in das angrenzende Zimmer schleiften, wo sie ihn an ein weiteres Paar Eisenpfähle ketteten. Der Auktionator erschien vor ihm und sagte etwas, das streng klang, doch die Worte waren nichts weiter als dumpfe Laute, und er konnte sie nicht lange genug festhalten, um sie zu verstehen.
Jemand entfernte ihm das breite Lederhalsband.
Sein Kinn sank ihm auf die Brust.
Er hing wirren Gedanken nach, bis jemand sein Kinn sanft anhob und ihn harte graue Augen in ihren Bann zogen. Sie sahen in ihn hinein, als sei nichts von seinen inneren Barrieren übrig, als könne er nichts sein Eigen nennen – es gab weder einen Gedanken noch ein Gefühl, das sie nicht untersuchen und als wertlose Lappalie abtun konnte. Er wand sich unter diesem Blick, während sich Erinnerungen an seine Familie ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen versuchten. Sie sollte nicht in den Besitz seiner Erinnerungen an seine jüngeren Brüder, seine Tanten und Onkel, seine Cousins und seinen Vater gelangen. Seine Mutter. Nein, er wollte nicht, dass sie seine Erinnerungen an Reyna erhielt, vor allem nicht die letzte Erinnerung an sie, wie sie dastand und ihr Herz blutete wegen der brutalen Worte, die er ihr an den Kopf geworfen hatte.
Die grauen Augen blickten weiter in die seinen, doch ihre Finger glitten seinen zitternden Körper entlang, strichen über das Haar an seinen Lenden und beschrieben sanft einen Kreis. Schließlich umkreisten sie den Ring des Gehorsams. Der enge goldene Reif erweiterte sich, bis Jared ihn nicht mehr spüren konnte.
Sie drehte sich leicht zur Seite und machte eine Bewegung mit der rechten Hand auf den hölzernen Tisch zu, der mitten im Raum stand. Das überraschte Aufkeuchen der Wächter übertönte nicht ganz das andere Geräusch – es klang wie eine schwere Münze, die sich drehte, wie der Reifen eines Kindes, der an Geschwindigkeit einbüßt, während er kreiselt, und immer tiefer sinkt, bis er ganz auf dem Boden zu liegen kommt.
»Lady!«
Der entsetzte Ausruf hatte etwas zu bedeuten, doch Jared fühlte sich zu leer, um reagieren zu können. Sein Körper tat so weh, dass er noch nicht einmal die fortwährenden Qualen spüren konnte, die vom Ring des Gehorsams ausgingen – die Pein, die einen Mann nie vergessen ließ, welche Schmerzen ihm jederzeit drohten.
»Beim Feuer der Hölle, Lady. Leg ihm einen Ring an!«
Die mentalen Signaturen der Männer in dem Raum stanken förmlich nach Angst.
Jared runzelte die Stirn. Er wünschte, seine Gedanken wären nicht derart verschwommen. Ihm einen Ring anlegen?
Langsam wurde ihm klar, dass auf dem Tisch keine schwere Münze lag, sondern der Ring des Gehorsams. Der Ring, den er die letzten neun Jahre getragen hatte.
Bevor er auch nur versuchen konnte, seine geistige Lethargie und körperliche Schwäche abzuschütteln, um zu begreifen, was dies alles zu bedeuten hatte, legten sich Grizelles Finger erneut um sein Geschlecht und drückten leicht zu. Er keuchte auf, als Schmerzen seine Nervenbahnen entlangjagten.
Lichtblitze schossen aus ihren Fingern und blendeten ihn. Donnergrollen ließ das Gebäude beben. Das unverwechselbare Gefühl von Macht erfüllte das Zimmer.
Grizelle trat zurück und betrachtete gelassen die nervösen Wächter, ihren schockierten Begleiter und den schwitzenden Auktionator, der verzweifelt die Hände rang. »Ihr habt nichts zu befürchten«, sagte sie. »Er trägt jetzt meinen Ring.«
Der Auktionator deutete mit einem zitternden Finger auf Jareds Lende. »A-aber, Lady, da ist kein Ring.«
»Ach«, sagte Grizelle. Es lagen so viele Nuancen in der einen Silbe, so viel Eis in ihrem gelassenen Lächeln. »Doch, da ist einer. Er trägt den Unsichtbaren Ring.«
Jareds Herz hämmerte in seiner Brust. Der Unsichtbare Ring?
Schemenhaft geisterte eine Erinnerung durch seinen Verstand, doch er bekam sie nicht zu fassen.
Der Auktionator kaute an seiner Unterlippe. »Von so einem Ring habe ich noch nie etwas gehört.«
Jared schon. Doch was? Und wo?
»Die Hexen in meiner Familie benutzen ihn seit Generationen«, erklärte Grizelle. Sie deutete auf den Ring des Gehorsams, der auf dem Tisch lag. »Er ist zehnmal mächtiger als dieses kleine Spielzeug.« Dann hielt sie inne. »Bedarf es einer weiteren Demonstration?«
Die Männer versicherten ihr rasch, dass dies nicht nötig sei.
Jared schloss die Augen. Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben! Zehnmal mächtiger! Zehnmal schmerzvoller. Wie sollte er das nur überleben?
Gar nicht.
Niemand überlebte es, Grizelle zu gehören. Und jetzt wusste er auch, warum.
Er ließ seinen Gedanken wieder freien Lauf. Es war ihm völlig gleichgültig, was sich sonst noch in dem Zimmer ereignete. Weitere sinnlose Laute, die ihn nur dumpf an Worte erinnerten. Weibliche Wut, die sich wie ein heftiger Sturm am Horizont zusammenbraute. Gewinsel. Hände, die ihn von den Pfählen losbanden und ihn in ein anderes Zimmer führten. Er blieb dort stehen, wo man ihn hingeführt hatte. Teilnahmslos.
Zehnmal mächtiger, und er konnte den Ring noch nicht einmal spüren. Vielleicht war er betäubt von zu starken Schmerzen. Vielleicht war der Ring zu raffiniert und hintergründig, als dass Jared ihn nach den Qualen der letzten Tage hätte spüren können.
Wenn er sich bloß daran erinnern könnte, was er über die Wirkungsweise des Ringes gehört hatte, oder inwiefern dieser sich vom Ring des Gehorsams unterschied!
Andererseits sollte er vielleicht dankbar sein, dass es ihm nicht einfallen wollte.
Hinter ihm ging die Tür auf, und der angeheuerte Begleiter der Lady, der im Zimmer geblieben war, um ihn im Auge zu behalten, nahm Haltung an. »Lady?«
Verflucht. Etwas hatte sich zugetragen, während er mit seinen Gedanken woanders gewesen war. In der Stimme des Wächters schwang verhaltene Angst mit. Es war ein vertrauter Klang, der bedeutete, dass sich die Wut einer Hexe mit dunklen Juwelen beim nächsten unachtsamen Wort entladen konnte.
»Die Kleidung, nach der du verlangt hast, wird jeden Augenblick eintreffen«, sagte der Begleiter. Der Mann schluckte. »Gibt es noch etwas, Lady?«
Es kostete Jared all seine Selbstbeherrschung, sich nicht umzudrehen, um zu sehen, was sie tat. Er konzentrierte sich und erriet, dass ein Deckel von einem Glasbehälter geschraubt wurde.
»Ich möchte mir die Wunden ansehen«, sagte die Graue Lady. »Sie müssen gründlich gereinigt und mit dieser Heilsalbe behandelt werden. Ich habe mit dem Kerl noch einiges vor und möchte nicht, dass er mir wegstirbt, bevor ich auch nur den geringsten Nutzen aus ihm gezogen habe.«
Ihre Stimme jagte Jared einen Schauder über den Rücken. Doch es war ihre mentale Signatur, die ihn fast völlig aus der Fassung brachte. Selbst ohne die Anwesenheit des wilden Fremden erregte sie eine Lust in ihm, die über rein körperliches Begehren hinausging; es handelte sich um die Art Lust, die ein Mann mit dunklen Juwelen in der Gegenwart einer Hexe mit dunklen Juwelen empfand. Es ging so weit, dass er sich danach verzehrte, von ihr berührt zu werden, ihre Hände auf seiner Haut zu spüren.
Dafür hasste er sie am allermeisten.
Der Begleiter zögerte. Schließlich sagte er: »Darum kann ich mich kümmern, Lady.«
Erleichterung breitete sich in Jared aus, als Grizelle das kleine Zimmer verließ. Es war besser, die rauen Hände eines anderen Mannes zu spüren, als erneut von jenen zarten Fingern angefasst zu werden.
Als die Wachen ein paar Minuten später die Kleidung und die restlichen Pflegeutensilien brachten, konnte Jared an nichts anderes als seinen übermächtigen Durst denken. Am liebsten hätte er den Begleiter gefragt, ob er von der Wasserschüssel trinken dürfe – in diesem Augenblick hätte er alles getrunken, egal was dem Wasser zur Wundreinigung beigesetzt worden war -, doch angesichts des wütenden Knurrens des Mannes blieben ihm die Worte im Halse stecken. Es bereitete ihm stechende Schmerzen, als der Begleiter ihm Rücken und Bauch mit dem warmen Wasser wusch, das reinigende Kräuter enthielt. Währenddessen fragte Jared sich, ob Grizelle gewusst hatte, welche Qualen ihm dies zufügen würde, oder ob es ihr einfach gleichgültig war, wie lange er schon nichts mehr getrunken hatte.
Jared ertrug die Reinigung, ohne einen Laut von sich zu geben, doch er stieß ein Keuchen aus, als der Wächter ihm die Heilsalbe auf die Peitschenwunden an seinem Rücken rieb. Die Salbe fühlte sich nach dem warmen Wasser eisig an. Außerdem betäubte sie seine Haut rasch.
Auf diese Weise von noch mehr Schmerzen erlöst, entsann er sich des Rates, den Daemon Sadi ihm im Laufe des Jahres gegeben hatte, das sie zusammen am selben Hof verbracht hatten.
Daemon hatte es kühnes Draufgängertum genannt. Wenn ein Mann, aus welchem Grund auch immer, als Häufchen Elend an einen Hof kam und sich mit der Zeit ein wenig erholte oder ein gewisses Temperament an den Tag legte, würden die Königin und die Hexen in ihrem Ersten Kreis dies als Trotz auslegen, und die anderen Männer, die fürchten mussten, ihren Platz in der Hackordnung des Hofes zu verlieren, als Herausforderung. Wenn ein Mann jedoch von Anfang an kühn und draufgängerisch auftrat, wurde der Königin und den übrigen Hexen ins Gedächtnis gerufen, dass man ein dunkles Juwel nicht einfach unterschätzen durfte, bloß weil ein Mann einen Ring trug und als Sklave betrachtet wurde. Solch ein Mann wurde mit größerer Vorsicht behandelt und sah sich weniger Herausforderungen vonseiten der anderen Männer ausgesetzt. Man sah ihn als in Ketten gelegtes Raubtier, nicht als Beute. An manchen Höfen gab dies den Ausschlag, ob man überlebte oder nicht.
»Das kann ich selbst«, krächzte Jared, als der Begleiter daran ging, die Wunden an seinem Bauch mit der Salbe zu versorgen. Er war sich da zwar nicht sicher, ja er war sich noch nicht einmal sicher, ob er noch viel länger aufrecht stehen können würde, da er auf dem besten Wege war, die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit zu erreichen. Kühnes Draufgängertum war ein zerbrechlicher Schutzschild, doch im Augenblick war es alles, was er hatte. »Ich kann das selbst machen«, wiederholte er.
»Halt den Mund«, fuhr der Wächter ihn an, während er rasch die Salbe auftrug.
Jared musterte das verbissene Gesicht, die Schatten in den Augen, die seinen Blick mieden. Der Begleiter war ein Krieger mit purpurnem Juwel. Wie wurde er damit fertig, die geschundenen, nackten Körper seiner Brüder zu sehen? Wie konnte er damit leben, diejenigen anzusehen, die verstümmelt, gebrochen oder rasiert worden waren? Ging er zu einer Geliebten oder einer Ehefrau nach Hause, für die er so etwas wie Zuneigung empfand? Hatte er Kinder, die er umarmte, mit denen er spielte und die er liebte? Oder hatte er sich eines Tages auf dem Sklavenmarkt eine Hexe ersteigert, eine, die bereits gebrochen und unfruchtbar war, und die er bestieg, ohne sich im Geringsten um ihre Gefühle oder ihr Wohlergehen zu kümmern? Was dachte er über die Männer, die hier ersteigert und verkauft wurden? Hatte er jemals aufgeblickt und einen Mann auf der Auktionsbühne gesehen, den er einst seinen Freund genannt hatte?
Ach, die Schatten in den Augen! Die Sorge, jemanden wie die Graue Lady auf den Sklavenmarkt begleiten zu müssen. Sieh genau hin, dachte Jared, als der Mann mit dem Auftragen der Salbe fertig war und von ihm wegtrat. Sieh dir den Preis an, den du vielleicht eines Tages für ein einziges Fehlurteil wirst zahlen müssen.
Als hätte Jared seine Gedanken einen mentalen Speerfaden entlanggeschickt, blickte der Wächter ihm in die Augen. Für einige Augenblicke herrschte angespanntes Schweigen. »Du bist nichts weiter als ein süßer Mund und ein Schwanz, mit dem die Ladys sich vergnügen können«, knurrte der Begleiter.
Jared verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. »Ich bin ein Krieger mit rotem Juwel aus Shalador. Ich bin stärker, als du es je sein wirst, und kann Kräfte freisetzen, von denen du nur träumen kannst. Und ich bin immer noch hier.«
Die Kinnpartie des Wächters verspannte sich. Sein Atem ging stoßweise. »Zieh dich an. Dein Schwanz ist ab jetzt nur noch für Privatvorführungen gedacht.«
Die Kleidungsstücke lagen auf einer grob geschnitzten Bank neben dem kleinen Tisch, auf dem die Waschschüssel stand. Jared zwang sich, den Blick von der Schüssel mit dem schmutzigen Wasser abzuwenden, doch nicht schnell genug.
Schadenfreude funkelte in den Augen des Wächters, als er die Schüssel mithilfe der Kunst verschwinden ließ. »Du magst ein rotes Juwel tragen, aber du bist und bleibst ein Sklave und trägst immer noch einen Ring. Ich habe vielleicht keine Ahnung von der Macht, die dir zur Verfügung stand, als du noch frei damit umgehen konntest, aber ich verlasse den Markt als freier Mann, trinke einen kühlen Schluck Wasser, wann immer mir danach ist, und werde mir einen Humpen Ale genehmigen, sobald ich die Graue Lady sicher zu einer Kutsche gebracht habe. Und heute Abend besteige ich eine Frau, wie es einem Mann zusteht. Und du? Du wärst auf dem Bauch vor mir gekrochen und hättest die Sohlen meiner Stiefel geleckt für einen Schluck Schmutzwasser.«
»Das leugne ich nicht«, erwiderte Jared. »Aber du, frei? Im Moment vielleicht. Der einzige Unterschied zwischen Dienst und Sklaverei ist ein goldener Ring. Wenn Rot angekettet werden kann, wie lange wird Purpur dann noch frei sein? Wenn morgen die richtige Summe Goldmünzen ihre Besitzerin wechselte, wie lange würde es dann deiner Meinung nach dauern, bis aus einem gut aussehenden Begleiter ein gut aussehender Sklave wird?«
Das Gesicht des Begleiters überzog sich mit dunkler Röte. Er hob eine Faust.
Jared sagte kein Wort und regte sich nicht. Er warf lediglich einen Blick in Richtung der Tür, die in den Korridor führte, und lächelte wissend. Dann beobachtete er, wie der Wächter seine widersprüchlichen Gefühle zu verbergen suchte. Es war dem Mann genau anzusehen, in welchem Augenblick er zu dem Schluss kam, dass er eine »Disziplinierung« des Sklaven nicht rechtfertigen können würde.
Er ließ die Faust wieder sinken und spuckte Worte aus, als handele es sich um zähen Knorpel: »In fünf Minuten lege ich dir Ketten an und bringe dich von hier weg.« Er riss die Tür zum Korridor auf und starrte Jared mit glühendem Blick an. »Ich hoffe, sie reißt dich ganz allmählich in Stücke.«
»Höchstwahrscheinlich wird sie genau das tun«, sagte Jared, nachdem der Begleiter die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Unter größter Willensanstrengung gelang es ihm, die zwei Schritte auf die Bank aus unbearbeitetem Holz zuzugehen. Er breitete das Hemd aus und ließ sich behutsam darauf nieder, dankbar, dass seine zitternden Beine ihn eine Weile nicht tragen mussten.
Jared, wenn du nackt im Teich baden gehst, dann denk dran, dein Handtuch über den Baumstamm zu legen, bevor du dich hinsetzt. Ansonsten ziehst du dir Splitter an Stellen ein, an denen du sie am wenigsten haben möchtest.
Wo denn, Mutter?
Frag deinen Vater.
Das hatte er getan. Belarr hatte seinen Sohn eine Minute lang gemustert und dann vor sich hin gegrummelt, warum sie nicht wenigstens eine Tochter haben konnten, damit er sich revanchieren könne. Dann hatte Belarr einen Seufzer ausgestoßen und erklärt, was Reyna wahrscheinlich meinte. Auf diese Weise hatte Belarr es immer ausgedrückt: Wahrscheinlich meint deine Mutter Folgendes … Als empfände er, der starke Krieger, das Bedürfnis, sich abzusichern, wenn er die Worte einer Frau erklären sollte, insbesondere die Worte der Frau, die er geheiratet hatte.
Jared seufzte erschöpft. Seine Schmerzen gingen über die bloßen körperlichen Verletzungen hinaus, als er sich die grob gewobene Hose anzog und in die minderwertigen Ledersandalen schlüpfte. Er griff nach dem Hemd, das aus kratzendem Material bestand, brachte es jedoch nicht fertig, es sich über den Kopf zu ziehen. Er atmete behutsam durch und drehte sich zu dem mannshohen Spiegel um, der an der Rückwand des Zimmers befestigt war. In dem Gebäude, in dem Lustsklaven die Besitzerin wechselten, war die gesamte Rückwand verspiegelt. Den Grund dafür konnte er nachvollziehen. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, warum sie hier ebenfalls einen Spiegel angebracht hatten, wo es gleichgültig war, ob ein Sklave beim Verlassen des Gebäudes adrett und gepflegt aussah.
Seine Finger bebten, als er leicht über die Knöpfe der Hose strich. Mental oder mit den Fingern tastend … er konnte den Unsichtbaren Ring einfach nicht erspüren. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sensibel der Ring eingestellt war. Wo lag die Grenze zwischen erlaubter einfacher Kunst und dem, was mit schrecklichen Qualen bestraft werden würde?
»Kühnes Draufgängertum«, murmelte Jared. Es war schwierig, die Risiken abzuschätzen, während er noch so wenig über die Graue Lady und ihren Hof wusste. Doch er konnte sich das Hemd einfach nicht über den Kopf ziehen, ohne vorher die Wunden mit einem gewissen Schutz zu versehen. Er hatte noch die Schreie von Männern im Ohr, denen man ein Hemd auszog, das an den Peitschenwunden auf ihrem Rücken festgeklebt war, woraufhin die Wunden erneut aufrissen. Er hatte gesehen, wie jene Männer aussahen, nachdem ihre Wunden endlich verheilt waren.
Einfache Heilkunst. Ein Fingerhut voll Macht. Mehr benötigte er nicht, um einen festen Schutzschild über seinem Rücken und Bauch zu erschaffen, der das Hemd von seiner Haut fernhalten würde.
Erneut atmete Jared behutsam durch. Dann erschuf er den Schild und wartete ab.
Nichts. Keine Schmerzwelle von dem Ring, keine wütenden Schritte im Korridor.
Er musste erst die Furcht hinunterschlucken, bevor er sich das Hemd überziehen und sein Ebenbild im Spiegel betrachten konnte.
Zwar war er nicht gerade für einen Ausflug inmitten von Adeligen angezogen, doch er war dennoch ein attraktiver Mann: hoch gewachsen und gut gebaut, mit der für Shalador typischen goldenen Haut – nicht braun wie bei den langlebigen Haylliern oder hell wie bei anderen Völkern, sondern von der Sonne geküsst, von Goldstaub überzogen. Ein schöner Teint, wenn man das dunkelbraune Haar und die braunen Augen der Shaladorier dazurechnete.
Allerdings waren seine Augen von dem seltenen shaladorischen Grün – Augen, die sich durch die Blutlinien bis zu Shal, der großen Königin, zurückverfolgen ließen, die einst die verschiedenen Stämme zu einem Volk vereint hatte.
Reynas Augen.
Er war der Einzige der drei Jungen, der ihre Augen geerbt hatte.
Bis vor Kurzem war er noch zum Sterben bereit gewesen, doch nun, da er noch am Leben war, wollte er auch am Leben bleiben. Süße Dunkelheit, er musste es schaffen, lange genug zu überleben, um nach Hause zurückzukehren, lange genug, um mit Reyna zu sprechen und jene Worte zurückzunehmen.
Kühnes Draufgängertum. Die einzige Waffe, die er ungestraft einsetzen konnte. Zwar trieb er Raubbau mit den letzten Ressourcen, die ihm an körperlicher Ausdauer noch geblieben waren, doch er musste durchhalten, bis man ihn in das Sklavenabteil in der Kutsche geschafft hatte. Er musste Grizelle davon überzeugen, dass er immer noch ein Mann war, von dem sie etwas zu erwarten hatte. Eine Zeit lang würde er den Umstand verbergen müssen, dass dies nichts weiter als eine hohle Behauptung war.
Mit zitternden Händen fuhr Jared sich durch das Haar. Im Moment war es ein wenig ungepflegt, doch mit ein wenig Kunst ließ sich aus ungepflegt verführerisch zerzaust machen. Die Graue Lady war eine alte Frau, aber er war ein Sklave, der im Bett ausgebildet war und ein paar Leckereien zu bieten hatte, die sie vielleicht noch verlocken und ablenken konnten. Vielleicht würde die Waage auf diese Weise zu seinem Vorteil ausschlagen, während er versuchte herauszubekommen, wie viel Kontrolle dieser verfluchte Ring über ihn besaß.
Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass er die Graue Lady dazu ermuntern müssen würde, sich an ihm gütlich zu tun. Doch wenn es sie dazu brachte, weniger achtsam zu sein, würde er vielleicht ihren Fängen entschlüpfen und auf den Winden nach Shalador reisen können.
Ohne Vorwarnung öffnete der Begleiter die Tür und blieb jäh stehen. Es gelang ihm nicht, seine Überraschung zu verbergen angesichts der Verwandlung, die mit dem nackten Sklaven vor sich gegangen war, den er eben noch hier zurückgelassen hatte. Vor ihm stand nun ein Krieger, der sich von seinem Spiegelbild abwandte und ihn anlächelte.
Es bereitete Jared Genugtuung, dass es ihm gelungen war, den Mann aus der Fassung zu bringen. Er ging mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, als wolle er ihm einen Gefallen tun. »Wenn du mich in Ketten legen willst, dann beeil dich. Die Graue Lady wartet schon auf ihren Tanz.« Er hoffte, der Wächter hielte die Erschöpfung in seiner Stimme für Langeweile.
»Von Ketten hat sie nichts gesagt«, meinte der Mann widerwillig.
»Nein, das dachte ich mir schon. Die Lady wirkt äußerst diskret, und Ketten sind meist recht auffällig, besonders wenn sie in einem gewissen Rhythmus an die Bettpfosten schlagen. Meinst du nicht auch?«
Die Lippen des Begleiters verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Ich war noch nie angekettet.«
»Ich wollte damit nicht andeuten, dass du angekettet warst.« Jared wartete, bis der andere seine Beleidigung begriffen hatte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Oder dass du es nötig gehabt hättest. Ich dachte bloß, da du ja deinen Lebensunterhalt damit verdienst, andere Leute anzuketten, kennst du vielleicht ein paar interessante Stellungen, von denen man an den Höfen noch nichts gehört hat. Aber vielleicht auch nicht. Das ist ein bisschen, wie eine Frau von hinten zu nehmen. Ist nicht jedermanns Geschmack.«
Wut loderte ihm aus den Augen des Begleiters entgegen. »Weißt du überhaupt, was ich dir alles antun könnte?«
»Nicht das Geringste.« Jared entblößte seine Zähne und fügte leise hinzu: »Komm schon, versuch es doch. Schauen wir einmal, ob dieser Ring mich wirklich zurückhalten kann.«
»Gibt es ein Problem?« Grizelles Stimme ergoss sich wie kalter Regen über die beiden Männer.
Der Wächter trat widerwillig auf den Korridor hinaus. »Nein, Lady.«
»Warum dauert das dann so lange?«
Jared schenkte dem Begleiter ein selbstgefälliges Lächeln, wobei ihm klar war, dass dies den Mann zur Weißglut treiben würde, weil ihm nicht die geringste Möglichkeit offen stand, darauf zu reagieren.
Es war an der Zeit, den letzten Akt zu spielen.
Mutter der Nacht, lass meinen Körper noch ein klein wenig durchhalten.
Jared machte einen Schritt vorwärts und zwang den Begleiter, zur Seite zu treten. Er verbeugte sich vor Grizelle und achtete darauf, dass die Verbeugung genau so ausfiel, wie es das Protokoll einem Krieger mit rotem Juwel gegenüber einer Königin mit grauem Juwel vorschrieb.
Zumindest wenn es sich bei dem Krieger nicht um einen Sklaven handelte.
Der Begleiter stieß ein wütendes Knurren aus.
Grizelle starrte Jared ungläubig an, doch er meinte, ein amüsiertes Flackern in den harten grauen Augen erspäht zu haben.
Sie hatte also etwas für kühnes Draufgängertum übrig. Der Dunkelheit sei Dank!
Er beutete die letzten Reste seiner mentalen Kraft weiter aus, um die Wirkung eines sinnlichen Mannes zu erzielen, dem daran gelegen war, zu gefallen. Jared bot der Grauen Lady seine rechte Hand, die Innenfläche nach unten.
Erst nach kurzem Zögern legte Grizelle leicht ihre Linke über seine Hand und gestattete ihm, sie aus dem Gebäude zu führen.
Jared musste sich ein Grinsen verbeißen. Der Begleiter schlich nun wie ein grollendes, vergessenes Hündchen hinter ihnen her.
Es war schon dunkel, als sie einen von einem Pony gezogenen Wagen mieteten, um das Gelände des Sklavenmarktes zu verlassen. Allerdings fuhren sie nicht auf direktem Weg zu dem offiziellen Landeplatz. Stattdessen nahmen sie eine Seitenstraße, die um den niedrigen, abgeflachten Hügel herumführte, bis sie die Kutscher mit ihren Gefährten erreichten, die auf den Winden reisen konnten.
»Warte bei den anderen«, sagte Grizelle, als Jared ihr von dem Wagen half. Sie schenkte keinem der beiden Männer auch nur die geringste Beachtung, als sie losging, um eine Fahrkarte zu erwerben.
Jared hielt sich an dem Wagen fest. Er hoffte inständig, der Begleiter würde nicht merken, wie dringend er diese Stütze brauchte, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er war sich nicht sicher, ob seine Beine ihn bis zu der Kutsche tragen würden.
»Ich weiß nicht, wo die anderen sind«, sagte er schließlich.
»Hier entlang«, knurrte der Wächter.
Als sie auf den Partner des Mannes zugingen, der auf die übrigen Sklaven aufgepasst hatte, warf Jared einen Blick über die Schulter und sah einen Botenjungen, der Grizelle ein Stück Papier überreichte. Der Junge rannte sofort davon, ohne auch nur auf das gewöhnliche Trinkgeld zu warten.
Jared spürte ein warnendes Prickeln zwischen den Schulterblättern. Also blieb er stehen und beobachtete, wie sie die Botschaft las.
So reglos. So still. So grau. Nichts an ihr schien sich verändert zu haben, sodass er selbst nicht verstand, weshalb er instinktiv seine erste innere Barriere öffnete und einen dünnen roten mentalen Faden aussandte. Selbst wenn ihre inneren Barrieren nicht ohnehin stärker als die seinen gewesen wären, war der Faden zu zart, um auch nur die oberflächlichsten Gedanken zu ertasten. Deshalb war es nicht sehr wahrscheinlich, dass er bemerkt werden würde. Doch der Faden wäre in der Lage, einen Hauch ihrer Gefühle zu erahnen und Jared auf diese Weise ihre Stimmung zu verraten.
Auf die geballte Angst, die den Faden entlang auf ihn zugerast kam, war er nicht vorbereitet gewesen.
Etwas war geschehen. Etwas hatte sich geändert. Während der Fahrt war diese Angst nicht da gewesen. Dessen war er sich sicher. Beim Feuer der Hölle, er hatte sie berührt, hatte neben ihr gesessen. Nicht einmal sie hätte derart starke Gefühle trotz des Körperkontakts zwischen ihnen verbergen können.
Also lag es an der Botschaft. Die Bot …
Noch während er beobachtete, wie Grizelle die Hände in den Ärmeln ihres Gewands verschwinden ließ und in das Gebäude ging, in dem die Fahrharten verkauft wurden, ließ seine schwindende Ausdauer schlagartig nach. Die Welt verschwamm um ihn her.
Trotz der Hand an seinem Arm, die ihn führte, fiel es ihm so schwer, weiterzugehen. Die Worte wurden wieder undeutlich, verschwammen miteinander und dehnten sich, bis sie zu einer Sprache aus albtraumhaften Lauten wurden. Gestalten tauchten vor ihm auf, aus dem Nichts. Jemand zerrte an seinem Arm. Er blieb stehen. Das Wortgemisch verströmte den Geruch von blutroter Angst und widerlichem Schweiß.
Wasser.
Weshalb war das nun das einzige Wort, das noch Sinn ergab?
»Sie wird … Kutsche nach Westen?«
Wahrscheinlich sprach da einer der Wächter, doch er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, da die Stimme mal laut, mal leise an seine Ohren drang.
»Nach … Westen des Territoriums … Tamanaragebirge.«
»Das habe … mir gedacht … den Rest … gebracht.«
Doch sie gingen weiter, gingen eine Ewigkeit, während die Begleiter leise fluchten und ihre messerscharfe Wut ihn verletzte.
Wo waren seine inneren Barrieren? Wo …
Jemand zog ihn am Arm.
»Seeeetz diiiich.«
Seine Beine gaben nach.
Eine graue Stimme. Das Wort »Wasser«.
Ein Becher an seinem Mund. Wasser rann ihm über die Lippen in den Mund. Er schluckte es nicht gleich, um das Nass genießen zu können. Dann wollte er nach dem Becher greifen und ihn hastig leeren, doch er wurde ihm entzogen.
»Laaaangsaaaam.«
Er gehorchte. Es war so wichtig zu gehorchen, so wichtig, dass diese Frauenstimme, die nicht grau war, ihm das Wasser nicht wegnahm.
Schließlich hatte er genug.
Kühn … Draufgänger … Das war auch wichtig, obwohl er sich nicht mehr entsinnen konnte, weshalb.
Er glitt zur Seite. Das Wasser hatte seine Knochen zum Schmelzen gebracht. Er hatte nicht gewusst, dass Wasser das konnte. Whiskey schon, wenn man genug davon trank, aber Wasser? Wer hätte das gedacht?
Dann glitt er weiter in die süße Dunkelheit, schmolz und glitt und glitt, fort in die Sicherheit der Nacht.
Die schwarzen Juwelen 05 - Finsternis
cover.html
bish_9783641028534_oeb_toc_r1.html
bish_9783641028534_oeb_fm1_r1.html
Section0001.html
bish_9783641028534_oeb_ded_r1.html
bish_9783641028534_oeb_fm2_r1.html
bish_9783641028534_oeb_fm3_r1.html
bish_9783641028534_oeb_fm4_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c01_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c02_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c03_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c04_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c05_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c06_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c07_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c08_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c09_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c10_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c11_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c12_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c13_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c14_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c15_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c16_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c17_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c18_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c19_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c20_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c21_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c22_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c23_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c24_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c25_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c26_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c27_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c28_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c29_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c30_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c31_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c32_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c33_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c34_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c35_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c36_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c37_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c38_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c39_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c40_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c41_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c42_r1.html
bish_9783641028534_oeb_c43_r1.html
bish_9783641028534_oeb_tea_r1.html
bish_9783641028534_oeb_cop_r1.html