Kapitel 41
Jared verließ den Landeplatz.
Die verlassene Herberge sah heruntergekommener aus
als noch vor einem halben Jahr, als er Lia dorthin gebracht hatte,
damit sie Heilung von den Vipernrattenbissen finden konnte. Dennoch
war der Ruf, der subtiler als ein Gedanke gewesen war, wie zuvor
von dort gekommen.
Er betrat die Herberge. Als er ein paar Schritte in
den Raum getan hatte, erblickte er den Tisch in der Nähe der
Treppe, die Weinflasche, die beiden Gläser und den wunderschönen
Mann mit den goldenen Augen, der dort saß und auf ihn
wartete.
»Leistest du mir bei einem Glas Wein Gesellschaft,
Lord Jared?«, fragte Daemon.
Jared lächelte. Er knöpfte sich den schweren
Wintermantel auf und ging auf den Tisch zu. »Das werde ich
gern.«
Daemon musterte ihn so lange, dass Jared sich
unsicher mit der Hand durchs Haar fuhr. Er hatte sich den Bart
abrasiert, der sein Gesicht den kalten Bergwinter hindurch gewärmt
hatte. Doch er hatte sich das Haar lang genug wachsen lassen, um es
zusammenbinden zu können, und hatte sich noch nicht entschlossen,
es wieder abzuschneiden. Seine Kleidung konnte, selbst wenn man es
äußerst gnädig formulierte, höchstens als robust und warm
bezeichnet werden.
Gemessen an Daemons gepflegter Eleganz kam er sich
äußerst schmuddelig vor.
Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
In Daemons Augen trat ein belustigtes
Glitzern.
Jared ließ seufzend die Hand sinken. Daemon wusste,
was er dachte, zur Hölle mit ihm!
»Du hast deine Sklavenhaut abgeworfen«, sagte
Daemon mit leiser Anerkennung.
Jared setzte sich und goss sich ein Glas Wein ein.
Es überraschte ihn, dass Daemons Anerkennung ihm so viel
bedeutete.
Aber war das nicht einer der Gründe, weswegen er
überhaupt hergekommen war?
Daemon spielte mit seinem Weinglas. »Ich bin froh,
dass du gekommen bist. Voraussichtlich werde ich einige Zeit lang
an der kurzen Leine gehalten werden. Von daher ist es
unwahrscheinlich, dass wir uns noch einmal begegnen werden.«
Jared verspannte sich. »Dorothea kann dich nicht
mit dem, was passiert ist, in Verbindung bringen.« Mutter der
Nacht, das hoffte er jedenfalls! Er wollte sich lieber nicht
vorstellen, wie Daemons Leben aussähe, wenn sie es doch tat.
»Krelis hat es getan.« Daemons Mund verzog sich zu
einem boshaften Lächeln. »Doch ich möchte bezweifeln, dass er
unsere kleine Unterhaltung je erwähnt hat.« Er trank zwei Schlucke
Wein. »Nein, sie will nur sichergehen, dass ich in einem
Territorium gehalten werde, das sich näher bei Hayll befindet. Sie
hat im Moment genug Probleme. Anscheinend ist niemand versessen
darauf, der neue Hauptmann ihrer Wache zu werden. Und ihre
Anstrengungen, die Territorien gefügig zu machen, die an die von
Hayll kontrollierten Gebiete grenzen, werden ernsthaft von den
Geschichten untergraben, die man sich allerorts erzählt: Eine junge
Königin soll mit einer Hand voll ehemaliger Sklaven ein ganzes Dorf
gegen Dorotheas Hauptmann und fünftausend hayllische Krieger
verteidigt haben.«
»So viele waren es gar nicht«, murmelte
Jared.
Daemon zuckte mit den Achseln. »Tja, du weißt ja,
wie Geschichten durchs Erzählen wachsen. Insbesondere, wenn dem ein
bisschen nachgeholfen wird.«
»Du ziehst Dorothea den Boden unter den Füßen weg,
wo immer du kannst, oder?«, fragte Jared.
»Wo immer ich kann«, stimmte Daemon ihm ernst zu.
»Aber meine Möglichkeiten sind begrenzt. Und was ich tue, reicht
nicht aus.«
Die Traurigkeit, gegen die Jared den ganzen Winter
über angekämpft hatte, stieg erneut in ihm empor. »Dena Nehele wird
fallen, nicht wahr?«
»Nicht, solange es von einer Königin mit grauem
Juwel regiert wird. Nicht, solange ihr die Stärksten und Besten
dienen und wachsam gegenüber Haylls subtilem Gift bleiben. Aber,
ja, eines Tages wird auch Dena Nehele in Haylls Schatten
leben.«
»Dann sind all unsere Bemühungen sinnlos.«
»Nein, Jared. Selbst in den Territorien, die am
schlimmsten von der Fäule betroffen sind, gibt es immer noch
versteckte Orte, an denen die Angehörigen des Blutes sich insgeheim
daran erinnern, was es bedeutet, die Dunkelheit zu ehren. Wo Männer
noch wissen, was es bedeutet, wahrhaft zu dienen, und Hexen noch
wissen, dass ein Dienstvertrag kein einseitiger Handel ist.
Diejenigen, die sich noch daran erinnern, mögen mit der Zeit die
Kontrolle über ihre Gebiete verlieren, sind vielleicht gezwungen,
vorsichtig zu leben, aber sie müssen unbedingt überleben, um ihr
Volk wieder ins Leben zurückzurufen, wenn es so weit ist.«
»Wenn was so weit ist?«, fragte Jared und beugte
sich vor.
Daemon zögerte. »Wenn eine Königin, die viel
mächtiger sein wird, als Dorothea es sich auch nur in ihren
kühnsten Träumen vorstellen kann, durch die Reiche wandert. Sie
wird kommen. So viel weiß ich. So viel hat man mir versprochen«,
fügte er leise hinzu.
Sie tranken schweigend.
»Warum hast du mich hierher gerufen?«, fragte Jared
nach einer Weile.
»Um mich zu verabschieden. Und um dir zu raten,
kein Narr zu sein.«
»Inwiefern?« Jared wartete. Hoffte. Sämtliche
Gespräche, die er im Laufe der langen Winternächte mit Talon
geführt
hatte, hatten seine Zweifel nicht besänftigen können, weil Talon
im Grunde keine Ahnung hatte, was es bedeutete, ein Lustsklave zu
sein. Doch wenn jemand wusste, wie tief diese Form der Sklaverei
einen Mann verwundete, dann Daemon Sadi.
»Es gibt viele Schattierungen und Nuancen der
Liebe, Jared«, sagte Daemon leise. »Nicht alle sind reich und tief
genug, um golden sein zu können. Dir bietet sich eine Gelegenheit,
von der viele Männer nur träumen können. Lass dir Gold nicht durch
die Finger gleiten.«
Vorsichtig schenkte Jared ihnen beiden nach. »Ist
es nicht ungerecht, eine starke Königin an einen Gefährten zu
binden, der eine erniedrigende Vergangenheit hat?«
»Ist es nicht ungerecht, einer Frau den Mann zu
verweigern, der sie mit jeder Faser seines Körpers liebt?«,
entgegnete Daemon.
»Ich war neun Jahre lang Lustsklave.«
»Neun Jahre«, fauchte Daemon ungeduldig. »Was sind
neun Jahre im Vergleich zu Jahrhunderten?«
»Würdest du eine Königin bitten, dich als
ihren Ehemann zu akzeptieren?«
»Auf der Stelle.«
Jared lehnte sich zurück. Die schreckliche
Sehnsucht, die Daemons Augen füllte, flößte ihm gleichzeitig
Ehrfurcht und ein wenig Angst ein.
»Du liebst jemanden«, flüsterte er. »Wen?« Er biss
sich auf die Zunge, da er die Frage sofort wieder bereute.
Daemons Lächeln war freundlich und ein wenig
selbstironisch. »Ich weiß es nicht. Sie ist noch nicht geboren
worden. Aber ich liebe sie und diene ihr schon mein ganzes Leben
lang. Ich werde keine andere lieben. Und willentlich werde ich
keiner anderen dienen.« Er streckte die Hand über den Tisch aus und
legte sie auf Jareds. »Lass dir Gold nicht nehmen, Jared. Verbringe
den Rest deines Lebens nicht damit zu bereuen, dass du das Risiko
nicht eingegangen bist.«
Dann leerte Daemon sein Glas und erhob sich. »Ich
muss gehen.«
Jared stand ebenfalls auf. Es gab so vieles, was er
sagen wollte, doch Worte reichten nicht aus. Nach einem tiefen
Atemzug packte er Daemon an den Schultern, öffnete seine inneren
Barrieren und ließ seine Gefühle durch seine Hände strömen – seine
Dankbarkeit, seine Freundschaft und die ehrliche Hoffnung, dass
Daemon eines Tages seine Lady finden würde.
Ein wenig beschämt trat er einen Schritt zurück.
»Möge die Dunkelheit dich umarmen, Prinz Sadi.«
Daemon nahm Jareds Gesicht in seine Hände und
küsste ihn sanft auf den Mund. »Und dich, Lord Jared. Und
dich.«
Jared blieb noch lange, nachdem Daemon fort war. Er
hob sein Glas und stellte es dann wieder ab, ohne davon getrunken
zu haben.
Nachdem Jared sich ein letztes Mal umgesehen hatte,
verließ auch er die Herberge.
Es war an der Zeit, nach Grauhafen
aufzubrechen.
Es war an der Zeit, ein Risiko einzugehen.