Kapitel 2
Nachdem Krelis die kleine Holzschatulle
geschlossen hatte, die Dorothea ihm gegeben hatte, ließ er sie
mithilfe der Kunst verschwinden.
Sämtliche Pläne waren geschmiedet. Ihm blieb nichts
weiter übrig, als abzuwarten.
Da er sich in seiner Hauptmannskammer zu eingeengt
fühlte, verließ er das Gebäude, in dem die Wächter des Ersten
Kreises untergebracht waren, und wanderte ziellos über das
Übungsgelände.
Der Dunkelheit sei Dank, dass Dorothea am heutigen
Abend nicht auf seiner Anwesenheit beim Essen bestanden hatte.
Obgleich sich seine Blutlinien bis zu zweien von Haylls Hundert
Familien zurückverfolgen ließen, stammte seine Familie väterlicher-
wie mütterlicherseits nur von niederen Zweigen ab. Er war in einem
kleinen Dorf aufgewachsen und fühlte sich in der dekadenten,
schillernden Adelsgesellschaft, die sämtliche soziale Macht in
Hayll innehielt, immer noch unwohl. Ein Mann, der bei einem dieser
Anlässe Wachdienst hatte, konnte die Verführungen und Spielchen mit
ansehen, konnte den zweideutigen Gesprächen lauschen und den Tanz
aus Reichtum und Eitelkeit beobachten, ohne daran teilnehmen zu
müssen. Doch beim Hauptmann der Wache handelte es sich um einen der
drei wichtigsten Männer bei Hofe, und wenn nötig, wurde von ihm
erwartet, dass er sich unter das Volk mischte, das sich um seine
Lady scharte. Er hatte sich mit den anderen Männern zu unterhalten
und musste mit den Frauen tanzen, wobei er ausreichend flirten
sollte, um niemanden zu kränken, allerdings nicht so viel, dass
daraus der Dienst im Schlafzimmer resultierte.
Er hatte bereits im Schweiße seines Angesichts zwei
kleineren Anlässen beigewohnt. An diesem Abend blieb es ihm jedoch
glücklicherweise erspart, auf Messers Schneide zu tanzen.
Krelis ließ das Übungsgelände hinter sich und
folgte einem Saumpfad, bis er einen kleinen Teich erreichte, in dem
sich das Mondlicht spiegelte. Er setzte sich auf eine steinerne
Bank in der Nähe des Teiches und beobachtete das stille
Wasser.
Entweder hatte Arroganz den früheren Hauptmann der
Wache zu törichtem Verhalten verleitet, oder er war tatsächlich zum
Verräter geworden. Nur so konnte Krelis sich den fehlgeschlagenen
Angriff auf die Graue Lady erklären, als sie vom Frühlingsmarkt auf
Raej nach Dena Nehele zurückgekehrt war.
Es war nicht verwunderlich, dass der Hauptmann den
Angriff nicht persönlich angeführt hatte. Zusammen mit dem
Haushofmeister und dem Gefährten verließ der Hauptmann den Hof nur
selten, es sei denn, er begleitete seine Lady. Seine Pflichten
lagen nicht länger auf dem Schlachtfeld. Doch eine seiner Aufgaben
bestand darin, die richtigen Männer für einen Auftrag
auszuwählen.
Der alte Hauptmann hatte eine Handvoll Wächter aus
dem Fünften Kreis mit hellen Juwelen sowie eine kleine Räuberbande
losgeschickt, um einer Königin mit grauem Juwel an der
Kutschstation aufzulauern und deren Geleitschutz umzubringen. Vor
der Ankunft des Miststücks hatte es keine Gelegenheit gegeben, ihre
Krieger zu überwältigen. Es hatte keinerlei Verstärkung für den
Fall gegeben, dass sie versuchte, auf den Winden zu entkommen. Es
hatte überhaupt keine Rückversicherung gegeben.
Nur einer jener hayllischen Wächter mit den hellen
Juwelen war zurückgekehrt und hatte vom Misslingen des Plans
Bericht erstatten können.
Mehr hatte Dorothea nicht gebraucht.
Tja, Krelis hatte nicht den gleichen Fehler
begangen. Er hatte Räuberbanden, die seinen Befehlen folgten, an
den
Kutschstationen postiert, welche die Graue Lady bei ihrer Rückkehr
vom Sklavenmarkt am wahrscheinlichsten benutzen würde. Sie würden
jeglichen Geleitschutz, der dort auf sie wartete, aus dem Weg
räumen und einen Boten an seinen Stellvertreter Lord Maryk
schicken. Maryk würde zusammen mit sorgfältig ausgesuchten,
erfahrenen Wächtern aus dem Ersten und Zweiten Kreis kurz vor der
Grauen Lady an der Station eintreffen, um das Attentat zu Ende zu
bringen. Sollte dieser Hinterhalt nicht zum gewünschten Erfolg
führen, und Maryk und die Männer umgebracht werden, hielt er immer
noch einen Trumpf in der Hinterhand, um das Miststück ausfindig zu
machen und den Diebesbanden eine Spur zu weisen, der sie folgen
konnten. Die Jagd würde weitergehen, bis die Graue Lady tot
war.
Krelis betastete das Abzeichen des Hauptmanns, das
sich an seiner linken Schulter befand.
Mithilfe der Zauber, die Dorothea gewoben hatte,
würde seine Strategie aufgehen, und er würde ihre gefährlichste
Rivalin zu Fall bringen. Das würde den adeligen Bastarden im Ersten
und Zweiten Kreis beweisen, dass er kein Emporkömmling aus dem
Dritten Kreis war, der eine begehrte Stelle bei Hofe durch Einsatz
seines Schwanzes ergattert hatte.
Natürlich kannte er keinen einzigen Mann, der nicht
Sex einsetzen würde, um seine eigenen Ziele zu erreichen.
Doch es war nicht immer so gewesen.
Er konnte sich noch gut an jene Nacht vor so
vielen, vielen Jahren erinnern. Damals hatte er aufbleiben dürfen,
als ein paar Freunde seines Vaters zu Besuch gekommen waren, um
sich wie jede Woche die Zeit mit Schachpartien und Männergesprächen
zu vertreiben. Es war spät geworden, und er hatte auf dem Sofa
geschlummert. Sein Vater, der sich rege für Haylls Geschichte,
insbesondere für die der Angehörigen des Blutes, interessierte,
hatte leise seine Besorgnis über Veränderungen geäußert, die sich
in den letzten paar Jahrhunderten in ihrer Gesellschaft vollzogen
hatten. Olvan hatte keinerlei Anschuldigungen erhoben, hatte keine
Namen genannt, sondern lediglich auf Unterschiede in der
Art hingewiesen, wie Männer behandelt wurden, die nicht an einem
Hof dienten.
Am nächsten Tag, als Vater und Sohn eine Landstraße
in der Nähe ihres Dorfes entlangwanderten, kamen ihnen die Königin
der Provinz und zwölf ihrer Wächter entgegen geritten. Die Königin
hatte Olvan ein paar ungehaltene Fragen gestellt und war über seine
respektvollen Antworten immer mehr in Rage geraten.
Ein paar Minuten später baumelte Olvan an einem
Ast. Die verzauberten Seile an seinen Handgelenken hinderten ihn
daran, die Knoten mithilfe der Kunst zu lösen oder die Stricke zu
zerreißen. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, sich zu befreien,
wären seine Juwelen nicht dunkel genug gewesen, um es allein mit
der Königin und ihren Wachen aufzunehmen.
Sie ließen ihn dort hängen, während er die Königin
anflehte, ihm zu verraten, auf welche Weise er ihr Missfallen
erregt habe. Als das Flehen schließlich verstummte, zückten sechs
der Wachen ihre Peitschen und entrollten sie.
Die Kraft der Hiebe ließ Olvan immer wieder hin-
und herschwingen.
Auf den Gesichtern der Wachen hatte sich keinerlei
Mitleid abgezeichnet, und die starken Arme, welche die Peitschen
schwangen, hatten nicht die geringste Gnade gekannt. In den Blicken
der Männer hatte höchstens ein Hauch Angst gelegen, als würde es
sie auf irgendeine Weise beschmutzen und in den Augen ihrer Königin
weniger begehrenswert machen, wenn sie mit einem Mann in Berührung
kamen, der nicht zu gehorchen verstand.
Während der ganzen Prozedur hatte ein anderer
Wächter Krelis festgehalten und dafür gesorgt, dass der Junge die
Bestrafung mit ansah.
Als sie davonritten, ließen sie seinen Vater
halbtot an dem Baum hängen.
Krelis konnte sich noch daran erinnern, wie er
verzweifelt zum nächsten Haus gelaufen war, um Hilfe zu holen. Auf
der Fahrt nach Hause hatte er neben seinem blutenden
Vater gesessen. Und er hatte ebenso wenig vergessen, wie groß der
Widerwille der Heilerin gewesen war, auch nur einen Finger für den
Ausgepeitschten zu krümmen.
Jahre später war ihm endlich aufgegangen, dass die
Bestrafung nicht das Geringste mit den höflichen Antworten zu tun
gehabt hatte, die sein Vater der Königin gegeben hatte, sondern mit
dem Umstand, dass Olvans älteste und getreueste Freunde kein
einziges Mal mehr zu Besuch gekommen waren oder seinen Vater in
ihre Häuser eingeladen hatten.
Damals hatte Krelis den Entschluss gefasst, sich zu
einem Wächter ausbilden zu lassen.
Damals hatte er begriffen, dass es gleichgültig
war, wie Männer in der Vergangenheit behandelt worden waren. Für
einen hayllischen Jüngling war lediglich von Bedeutung, unter den
derzeit herrschenden Umständen zu überleben. Und das war nur
möglich, wenn man an einem starken Hof diente.
Krelis stand von der Steinbank auf und streckte
sich.
Hier war er also, hatte gerade einmal sein
sechzehntes Jahrhundert begonnen – ein junger Mann, gemessen an den
Standards des langlebigen hayllischen Volkes – und war bereits der
Hauptmann der Wache des stärksten Hofes in ganz Hayll. Ein
wichtiges Ziel hatte er erreicht, doch im Grunde war es nichts
weiter als ein Sprungbrett zu anderen Zielen, denn er wollte noch
höher hinaus.
Er hatte zu lange und zu hart gearbeitet, als dass
er sich seine Pläne von einem dahergelaufenen Miststück mit grauen
Juwelen durchkreuzen lassen wollte, das in ein paar Jahrzehnten
ohnehin sterben würde.