Kapitel 2
006
Nachdem Krelis die kleine Holzschatulle geschlossen hatte, die Dorothea ihm gegeben hatte, ließ er sie mithilfe der Kunst verschwinden.
Sämtliche Pläne waren geschmiedet. Ihm blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten.
Da er sich in seiner Hauptmannskammer zu eingeengt fühlte, verließ er das Gebäude, in dem die Wächter des Ersten Kreises untergebracht waren, und wanderte ziellos über das Übungsgelände.
Der Dunkelheit sei Dank, dass Dorothea am heutigen Abend nicht auf seiner Anwesenheit beim Essen bestanden hatte. Obgleich sich seine Blutlinien bis zu zweien von Haylls Hundert Familien zurückverfolgen ließen, stammte seine Familie väterlicher- wie mütterlicherseits nur von niederen Zweigen ab. Er war in einem kleinen Dorf aufgewachsen und fühlte sich in der dekadenten, schillernden Adelsgesellschaft, die sämtliche soziale Macht in Hayll innehielt, immer noch unwohl. Ein Mann, der bei einem dieser Anlässe Wachdienst hatte, konnte die Verführungen und Spielchen mit ansehen, konnte den zweideutigen Gesprächen lauschen und den Tanz aus Reichtum und Eitelkeit beobachten, ohne daran teilnehmen zu müssen. Doch beim Hauptmann der Wache handelte es sich um einen der drei wichtigsten Männer bei Hofe, und wenn nötig, wurde von ihm erwartet, dass er sich unter das Volk mischte, das sich um seine Lady scharte. Er hatte sich mit den anderen Männern zu unterhalten und musste mit den Frauen tanzen, wobei er ausreichend flirten sollte, um niemanden zu kränken, allerdings nicht so viel, dass daraus der Dienst im Schlafzimmer resultierte.
Er hatte bereits im Schweiße seines Angesichts zwei kleineren Anlässen beigewohnt. An diesem Abend blieb es ihm jedoch glücklicherweise erspart, auf Messers Schneide zu tanzen.
Krelis ließ das Übungsgelände hinter sich und folgte einem Saumpfad, bis er einen kleinen Teich erreichte, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Er setzte sich auf eine steinerne Bank in der Nähe des Teiches und beobachtete das stille Wasser.
Entweder hatte Arroganz den früheren Hauptmann der Wache zu törichtem Verhalten verleitet, oder er war tatsächlich zum Verräter geworden. Nur so konnte Krelis sich den fehlgeschlagenen Angriff auf die Graue Lady erklären, als sie vom Frühlingsmarkt auf Raej nach Dena Nehele zurückgekehrt war.
Es war nicht verwunderlich, dass der Hauptmann den Angriff nicht persönlich angeführt hatte. Zusammen mit dem Haushofmeister und dem Gefährten verließ der Hauptmann den Hof nur selten, es sei denn, er begleitete seine Lady. Seine Pflichten lagen nicht länger auf dem Schlachtfeld. Doch eine seiner Aufgaben bestand darin, die richtigen Männer für einen Auftrag auszuwählen.
Der alte Hauptmann hatte eine Handvoll Wächter aus dem Fünften Kreis mit hellen Juwelen sowie eine kleine Räuberbande losgeschickt, um einer Königin mit grauem Juwel an der Kutschstation aufzulauern und deren Geleitschutz umzubringen. Vor der Ankunft des Miststücks hatte es keine Gelegenheit gegeben, ihre Krieger zu überwältigen. Es hatte keinerlei Verstärkung für den Fall gegeben, dass sie versuchte, auf den Winden zu entkommen. Es hatte überhaupt keine Rückversicherung gegeben.
Nur einer jener hayllischen Wächter mit den hellen Juwelen war zurückgekehrt und hatte vom Misslingen des Plans Bericht erstatten können.
Mehr hatte Dorothea nicht gebraucht.
Tja, Krelis hatte nicht den gleichen Fehler begangen. Er hatte Räuberbanden, die seinen Befehlen folgten, an den Kutschstationen postiert, welche die Graue Lady bei ihrer Rückkehr vom Sklavenmarkt am wahrscheinlichsten benutzen würde. Sie würden jeglichen Geleitschutz, der dort auf sie wartete, aus dem Weg räumen und einen Boten an seinen Stellvertreter Lord Maryk schicken. Maryk würde zusammen mit sorgfältig ausgesuchten, erfahrenen Wächtern aus dem Ersten und Zweiten Kreis kurz vor der Grauen Lady an der Station eintreffen, um das Attentat zu Ende zu bringen. Sollte dieser Hinterhalt nicht zum gewünschten Erfolg führen, und Maryk und die Männer umgebracht werden, hielt er immer noch einen Trumpf in der Hinterhand, um das Miststück ausfindig zu machen und den Diebesbanden eine Spur zu weisen, der sie folgen konnten. Die Jagd würde weitergehen, bis die Graue Lady tot war.
Krelis betastete das Abzeichen des Hauptmanns, das sich an seiner linken Schulter befand.
Mithilfe der Zauber, die Dorothea gewoben hatte, würde seine Strategie aufgehen, und er würde ihre gefährlichste Rivalin zu Fall bringen. Das würde den adeligen Bastarden im Ersten und Zweiten Kreis beweisen, dass er kein Emporkömmling aus dem Dritten Kreis war, der eine begehrte Stelle bei Hofe durch Einsatz seines Schwanzes ergattert hatte.
Natürlich kannte er keinen einzigen Mann, der nicht Sex einsetzen würde, um seine eigenen Ziele zu erreichen.
Doch es war nicht immer so gewesen.
Er konnte sich noch gut an jene Nacht vor so vielen, vielen Jahren erinnern. Damals hatte er aufbleiben dürfen, als ein paar Freunde seines Vaters zu Besuch gekommen waren, um sich wie jede Woche die Zeit mit Schachpartien und Männergesprächen zu vertreiben. Es war spät geworden, und er hatte auf dem Sofa geschlummert. Sein Vater, der sich rege für Haylls Geschichte, insbesondere für die der Angehörigen des Blutes, interessierte, hatte leise seine Besorgnis über Veränderungen geäußert, die sich in den letzten paar Jahrhunderten in ihrer Gesellschaft vollzogen hatten. Olvan hatte keinerlei Anschuldigungen erhoben, hatte keine Namen genannt, sondern lediglich auf Unterschiede in der Art hingewiesen, wie Männer behandelt wurden, die nicht an einem Hof dienten.
Am nächsten Tag, als Vater und Sohn eine Landstraße in der Nähe ihres Dorfes entlangwanderten, kamen ihnen die Königin der Provinz und zwölf ihrer Wächter entgegen geritten. Die Königin hatte Olvan ein paar ungehaltene Fragen gestellt und war über seine respektvollen Antworten immer mehr in Rage geraten.
Ein paar Minuten später baumelte Olvan an einem Ast. Die verzauberten Seile an seinen Handgelenken hinderten ihn daran, die Knoten mithilfe der Kunst zu lösen oder die Stricke zu zerreißen. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, sich zu befreien, wären seine Juwelen nicht dunkel genug gewesen, um es allein mit der Königin und ihren Wachen aufzunehmen.
Sie ließen ihn dort hängen, während er die Königin anflehte, ihm zu verraten, auf welche Weise er ihr Missfallen erregt habe. Als das Flehen schließlich verstummte, zückten sechs der Wachen ihre Peitschen und entrollten sie.
Die Kraft der Hiebe ließ Olvan immer wieder hin- und herschwingen.
Auf den Gesichtern der Wachen hatte sich keinerlei Mitleid abgezeichnet, und die starken Arme, welche die Peitschen schwangen, hatten nicht die geringste Gnade gekannt. In den Blicken der Männer hatte höchstens ein Hauch Angst gelegen, als würde es sie auf irgendeine Weise beschmutzen und in den Augen ihrer Königin weniger begehrenswert machen, wenn sie mit einem Mann in Berührung kamen, der nicht zu gehorchen verstand.
Während der ganzen Prozedur hatte ein anderer Wächter Krelis festgehalten und dafür gesorgt, dass der Junge die Bestrafung mit ansah.
Als sie davonritten, ließen sie seinen Vater halbtot an dem Baum hängen.
Krelis konnte sich noch daran erinnern, wie er verzweifelt zum nächsten Haus gelaufen war, um Hilfe zu holen. Auf der Fahrt nach Hause hatte er neben seinem blutenden Vater gesessen. Und er hatte ebenso wenig vergessen, wie groß der Widerwille der Heilerin gewesen war, auch nur einen Finger für den Ausgepeitschten zu krümmen.
Jahre später war ihm endlich aufgegangen, dass die Bestrafung nicht das Geringste mit den höflichen Antworten zu tun gehabt hatte, die sein Vater der Königin gegeben hatte, sondern mit dem Umstand, dass Olvans älteste und getreueste Freunde kein einziges Mal mehr zu Besuch gekommen waren oder seinen Vater in ihre Häuser eingeladen hatten.
Damals hatte Krelis den Entschluss gefasst, sich zu einem Wächter ausbilden zu lassen.
Damals hatte er begriffen, dass es gleichgültig war, wie Männer in der Vergangenheit behandelt worden waren. Für einen hayllischen Jüngling war lediglich von Bedeutung, unter den derzeit herrschenden Umständen zu überleben. Und das war nur möglich, wenn man an einem starken Hof diente.
Krelis stand von der Steinbank auf und streckte sich.
Hier war er also, hatte gerade einmal sein sechzehntes Jahrhundert begonnen – ein junger Mann, gemessen an den Standards des langlebigen hayllischen Volkes – und war bereits der Hauptmann der Wache des stärksten Hofes in ganz Hayll. Ein wichtiges Ziel hatte er erreicht, doch im Grunde war es nichts weiter als ein Sprungbrett zu anderen Zielen, denn er wollte noch höher hinaus.
Er hatte zu lange und zu hart gearbeitet, als dass er sich seine Pläne von einem dahergelaufenen Miststück mit grauen Juwelen durchkreuzen lassen wollte, das in ein paar Jahrzehnten ohnehin sterben würde.
Die schwarzen Juwelen 05 - Finsternis
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