Kapitel 39
Mit zusammengebissenen Zähnen und fest
geschlossenen Augen konzentrierte Jared sich darauf, seine rote
Kraft in das Netz fließen zu lassen.
Verdammt noch mal, dachte er, als er spürte,
wie Randolf heftig getroffen wurde. Zapf gefälligst die Kraft
an, die dir angeboten wird. Benutze sie!
Sie würden sie nicht benutzen. Das war ihm im Laufe
der ersten beiden Minuten aufgegangen. Die Männer, die es sich zur
Aufgabe gemacht hatten, die Feinde abzulenken, setzten seine Kraft
ein, um ihre Schutzschilde aufrechtzuerhalten, doch sie zapften
ihre eigenen Juwelen an, um gegen die Hayllier anzukämpfen und die
Bastarde davon abzuhalten, sie allzu schnell einzukesseln.
Vor seinem geistigen Auge konnte er das Netz sehen,
dessen Fäden aus Spinnenseide nun dank seines Juwels tiefrot
gefärbt waren. Er konnte erkennen, wie die Juwelensterne bei jedem
Schlag aufleuchteten. Sie alle blinkten, leuchteten immer wieder
auf und verdunkelten sich, während der Kampf um sie her
tobte.
Noch ein Schlag.
Noch einer.
Einen Augenblick lang flackerte Talons Saphir
heftig.
Jared stockte der Atem, bis es wieder gleichmäßig
leuchtete. Wie lange konnten sie durchhalten? Worauf warteten Thera
und Lia?
Er wollte hinaus und an der Seite seiner Freunde,
seines Volkes kämpfen.
Aufgrund des silbernen Ringes war er jedoch in dem
Gasthaus angekettet.
Ein kalter Windstoß blies über seine Haut hinweg;
die Art Wind, der die bunten Laubblätter aufwirbelte; die Art, die
immer der Auftakt zu einem heftigen Herbststurm war.
Jared schlug die Augen auf.
Er befand sich in dem Gasthaus. Eigentlich war es
unmöglich, dass er einen Wind spürte. Er trug feste Kleidung. Auf
seiner Haut sollte er ihn also ganz gewiss nicht spüren.
Dann hörte er die Trommelschläge.
Das Geräusch brachte sein Blut in Wallung und ließ
es gleichzeitig gefrieren.
Diese Trommeln riefen nicht die Männer zum
Tanz. Diese Trommeln riefen die Hexen zur Schlacht.
Und sie antworteten.
Durch das Netz konnte er spüren, wie sich das
Gefecht veränderte, wie es kälter und wilder wurde.
Gnadenlos.
Er sah aus dem Fenster und versuchte sich auf die
Stelle zu konzentrieren, an der Krelis und die Hayllier das Dorf
betreten würden.
Doch er sah nichts dergleichen. Während erneut der
Wind über seine Haut fegte und sein Blut im Rhythmus der Trommeln
pulsierte, konnte er das Netz mit seinen hell leuchtenden Perlen
sehen. Er sah einen dunklen Kreis, der es umgab und sich langsam
zusammenzog, während die Hayllier vorrückten.
Da erschien ein weiterer Kreis außerhalb des
dunklen. Hell, dunkel. Silber, Gold. Er war all dies – und er hielt
sämtliche Antworten bereit, wenn er nur leise genug bleiben konnte,
um sie zu hören.
Er hob die Hand. Wollte ihn berühren.
Da wurde er durch einen Warnruf aus seiner
Konzentration gerissen, und die Vision verschwand.
Jared verspannte sich innerlich, als er
beobachtete, wie Randolf die Straße entlang zurückwich. Der Krieger
warf den Kutschen nicht einmal einen kurzen Blick zu. Insgeheim
gratulierte Jared ihm zu dieser Selbstbeherrschung. Wenn es ihnen
nur gelänge, die Hayllier weit genug in das Dorf zu locken, würde
Lia vielleicht doch noch die Flucht gelingen.
Kurz darauf erschienen etliche Hayllier. Einer von
ihnen, ein Krieger mit saphirblauem Juwel, trug das Abzeichen eines
Hauptmannes der Wache.
Krelis sah sich um und richtete den Blick dann auf
das Gasthaus, als könne er Jared im Innern des Gebäudes stehen
sehen oder zumindest spüren. Er lächelte und gab ein müdes
Handzeichen.
Drei hayllische Wächter kamen auf das Gasthaus
zu.
Da wurde die Tür der Kutsche aufgerissen.
Lia wich den Haylliern aus, die sie packen wollten,
und rannte die Straße entlang.
»Lia, nein!«, rief Jared. In dem verzweifelten
Versuch, sie zu beschützen, ließ er die Tür des Gasthauses mithilfe
der Kunst aufspringen.
Das überraschte die Hayllier so sehr, dass sie ein
paar Sekunden von Lia abließen.
»Lia!«, rief Jared.
»Verfolgt sie!«, brüllte Krelis.
Bevor sich jemand rühren konnte, traf Lia ein
saphirblauer Machtblitz in der Magengegend. Ihr Körper zerbarst,
Blut und Eingeweide ergossen sich auf die Straße. Sie riss den Mund
zu einem stummen Schrei auf und flog zurück.
Jared erreichte sie als Erster. Er vergaß die
Hayllier. Vergaß das Netz. Vergaß sein Versprechen. Vergaß alles
außer der geliebten Frau, die mitten auf der Straße auf dem Rücken
lag.
»Lia.« Jared ließ sich auf die Knie fallen. Eine
Hand verharrte über ihrem verwüsteten Körper. Mit der anderen
strich er ihr zärtlich über das Haar.
Als Jared Schritte hörte, hob er den Kopf und
fletschte die Zähne.
Krelis stand ein paar Meter vor ihm.
Jared konnte keinerlei Reue in den harten goldenen
Augen erkennen. Enttäuschung und Ärger, ja, aber keine Reue.
»Jared«, sagte Lia schwach.
Ohne weiter auf Krelis zu achten, schenkte Jared
ihr seine
ganze Aufmerksamkeit. »Sch, Lia«, sagte er sanft. »Versuch nicht
zu sprechen.«
»Jared«, keuchte sie. »Das Netz. Nur das Netz
zählt. Alles ist auf dich abgestimmt.«
»Sch, Lia.«
Sie fuchtelte mit der Hand durch die Luft. Dann
fanden ihre Finger sein Haar. Krallten sich fest. Fester. Zogen
heftig daran.
Überrascht ächzte Jared auf.
»Erhalte das Netz aufrecht«, sagte Lia mit einer
Stimme, die geradezu unheimlich klang.
Jared senkte seine Stirn auf die ihre. Es war jetzt
egal. Es war zu spät. Das würde er ihr nicht sagen. Doch jetzt, da
ihnen nur ein paar Augenblicke blieben, würde er ihr etwas anderes
sagen.
»Ich liebe dich, Lia«, flüsterte er. »Ich werde
dich immer lieben.«
»Heb dir das für eine passendere Gelegenheit auf«,
erwiderte sie scharf.
Von ihrem Tonfall getroffen, hob Jared den
Kopf.
Und beobachtete, wie graue Augen eisig grün wurden,
wie die Illusion von Lias Gesicht verschwand.
Er konnte spüren, wie sich etwas zusammenbraute,
immer heftiger zusammenbraute. In der Luft lag ein Donnern.
»Mutter der Nacht«, flüsterte er.
Die Verbindung zwischen Garth und Brock hatte so
gut funktioniert, weil Garths Geburtsjuwel mit Brocks Juwelenrang
übereinstimmte.
Genau wie bei Lia und Thera.
Jetzt begriff er auch die scharfe Note, die er an
Lias mentaler Signatur wahrgenommen hatte, als er sie geküsst
hatte. Er begriff, warum sie und Thera so nahe beieinander
geblieben waren, warum Lia versucht hatte, jeglichen Körperkontakt,
so gut es ging, zu vermeiden.
Thera hatte ihre mentalen Signaturen miteinander
verbunden um zu verbergen, dass Lia …
Das Donnern schwoll an.
Macht sammelte sich, sammelte sich, sammelte sich …
unterhalb von Rot!
Alles war auf ihn abgestimmt. Auf sein Blut.
Als er Krelis ansah, wusste er, dass der Hauptmann
der Wache das Donnern ebenfalls hören konnte. Dass er spürte, wie
sich die Macht zusammenbraute.
Krelis sah Thera an.
Sie entblößte die Zähne zu einem gehässigen
Lächeln. »Schachmatt.«
»Mutter der Nacht!«, wimmerte Jared. Er warf
sich auf Thera, presste das Gesicht an ihren Hals und schloss die
Augen.
Der innere Teil des Netzes war immer noch tiefrot,
doch die äußeren Fäden waren verblasst, die Macht war
zurückgeflossen.
Wie viel Zeit blieb ihnen noch?, fragte Jared sich
und machte sich daran, das Netz wieder mit roter Kraft zu speisen.
Er hatte Lias Warnung vergessen, dass er nicht auf das achten
solle, was seiner Meinung nach geschehen würde. Stattdessen war er
in die Falle getappt, die sie und Thera den Haylliern gestellt
hatten, und hatte sich von seiner Aufgabe ablenken lassen.
Ruhig. Stetig. Wenn er das Netz mit seiner Macht
überflutete, würde er vielleicht die Geister zerstören, die es
eigentlich beschützen sollte. Doch wenn es ihm nicht schnell genug
gelänge, würden sie dank seiner Nachlässigkeit die stärksten
Geister verlieren.
Das Donnern wurde immer lauter.
Beinahe hatte er sie alle. Beinahe.
Lauter.
Ruhig. Stetig. Da! Er hatte Randolf. Blaed.
Talon!
Lias graue Kraft wurde mit einem wilden, rohen,
unkontrollierten Schlag entfesselt und schlug so fest gegen seine
inneren Barrieren, dass er aufschrie. Dann floss sie um ihn herum,
und das mentale Netz passte sich an ihn an, war auf ihn
abgestimmt.
Er hörte Männer schreien.
Er hörte ein heftiges Krachen, als würden dicke
Äste zerbrechen.
Er hörte schmatzende Geräusche, als ließe man
überreife Melonen auf einen harten Boden fallen.
Vor seinem geistigen Auge sah er, wie das Netz im
Zentrum eines heftigen grauen Sturmes in grellem Rot leuchtete. Er
sah, wie der dunkle Kreis aus hayllischen Geistern flackerte und
zuckte, bis er zerbarst. Jener andere Kreis wurde zu einer soliden
Mauer aus Grau.
Keuchend ließ er mehr Kraft in das Netz
fließen.
Ein grauer Kreis, um den Machtsturm zu begrenzen.
Wenn das entfesselte Grau gegen die Mauer prallte, würde der
Rückstoß ebenso heftig sein wie die ursprüngliche Eruption.
Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, da wurde er
getroffen. Er versuchte, dagegenzuhalten, und entzog seinen roten
Juwelen so viel Kraft wie möglich.
Es würde zu seiner Quelle zurückkehren. Was nicht
absorbiert wurde, während es durch die Geister der Hayllier tobte
und gegen ihre Juwelen donnerte, würde zur Quelle
zurückkehren.
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge
die Dunkelheit Erbarmen haben! Wusste Lia Bescheid und würde sich
schützen? Den Rückstoß würde sie genauso heftig erleben wie alle
anderen.
Der Boden erbebte.
Wind heulte durch die Straßen von Ranonwald.
Blitze durchzuckten den Himmel.
Er konnte spüren, wie sich das Land die Kraft einer
Königin zu eigen machte, die ihm zufloss, während das restliche
Grau zu seinem Ursprung zurückflutete.
Und dann spürte er die Stille.
Theras Faust traf ihn schwach an der Schulter.
»Runter von mir! Ich kriege keine Luft.«
Jared riss den Kopf herum. Was hatte er sich nur
dabei gedacht, so auf ihr liegen zu bleiben? Er rollte von ihr
herunter, griff jedoch sofort nach ihr.
Er konnte nichts für sie tun. Nicht einmal eine so
gute Heilerin wie Reyna hätte ihr noch helfen können.
Stöhnend setzte Thera sich auf. Sie blickte über
die Schulter. Die letzte Farbe wich aus ihrem Gesicht.
»Mutter der Nacht«, stieß sie keuchend hervor. Dann
krabbelte sie auf allen vieren ein paar Meter von ihm fort und
übergab sich heftig.
Jared drehte sich um, weil er sehen wollte, was ihr
solch einen Schrecken eingejagt hatte.
Er erkannte das Abzeichen eines Hauptmannes der
Wache.
Das war alles, was er erkannte.
Da er zu benommen war, um den Blick abzuwenden,
starrte er weiter den zerrissenen, blutigen Fleischklumpen
an.
So wäre es ihnen allen ergangen. Wenn das Netz
nicht alle geschützt hätte, die damit verbunden waren …
Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu
verscheuchen.
Darüber würde er nicht – konnte er nicht –
nachdenken.
Theras fortdauerndes Würgen brachte ihn wieder ins
Hier und Jetzt zurück.
Er kroch zu ihr, wobei er in der Spur ihrer
Eingeweide ausrutschte.
Nachdem er ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht
gestrichen hatte, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, legte er ihr
eine Hand an die Stirn, um sie zu stützen, und schloss die Augen.
Er versuchte verzweifelt, seinen Magen zu überreden, seinen Inhalt
nicht von sich zu geben.
Dann runzelte er die Stirn. Wie konnte sie sich
übergeben, wenn ihr Magen über die ganze Straße verteilt war?
Schließlich richtete Thera sich in die Hocke auf.
»Verdammt!«, fluchte sie matt.
Sie zerrte an ihrer zerrissenen Tunika herum und
versuchte, den Schlitz noch zu verbreitern. »Hilf mir, dieses Ding
auszuziehen. Es stinkt.«
»Thera …«
»Hilf mir!«
Leise fluchend zerriss Jared die Tunika in zwei
Hälften.
Auf der Stelle begann Thera, an dem gazeartigen
Stoff zu zerren, mit dem ihr Oberkörper umwickelt war.
Einen Augenblick starrte Jared sie entgeistert an.
Dann stieß er ihre Hände beiseite und zerriss den Stoff. Nachdem er
die Gaze weggeschleudert hatte, wischte er ihr behutsam mit einem
Stück Tunika den Bauch ab.
Keine gebrochenen Knochen. Kein zerfetztes
Fleisch.
Jared lehnte sich zurück. Er ballte die Hände zu
Fäusten. »Du verschlagenes kleines … – Du hast uns
hereingelegt!«
»Ich habe sie hereingelegt!«, fuhr Thera ihn
an. »Du solltest es nicht beachten.«
»Ich sollte es nicht beachten?«, sagte Jared
gelassen, während der Zorn sein Blut zum Kochen brachte.
Sie beäugte ihn misstrauisch. Dann griff sie nach
der Tunika und wischte sich weiter die Haut ab. »Wir haben uns
schon gedacht, dass dich das hier ein bisschen aufregen würde«,
murmelte sie.
Selbst seine Zähne fühlten sich heiß an. »Aufregen?
Ich dachte, Lia sei genau vor meiner Nase in Stücke gerissen
worden, und ihr habt gedacht, ich würde mich ein bisschen
aufregen?« Er hielt inne. Dachte nach. Explodierte. »DU NÄRRIN! Ist
dir klar, was für ein Glück du hattest, dass die Person, welche die
Juwelenkraft entfesselt hat, nicht auf dein Herz oder dein Hirn
gezielt hat?« Er schüttelte sie so heftig, dass sie aufkreischte.
»Du hättest sterben können! Wer …«
Sie musste ihm gar nicht antworten.
Talon kam die Straße entlang, wobei er über
hayllische Leichen stieg und einzelne Körperteile vorsichtig mit
der Stiefelspitze aus dem Weg räumte.
Nahm Talon sie überhaupt wahr?, fragte Jared sich.
Er sprang auf, um den wutentbrannten Kriegerprinzen
abzufangen.
»Zur Hölle mit dir, Lia. Ich habe getan, worum du
mich gebeten hast!«, brüllte Talon. »Ein Juwelenschlag in den
Bauch. Kein schnelles, sauberes Sterben, sondern ein Schlag
in den Bauch!« Ihm traten Tränen in die Augen. »Verflucht
sollst du sein, weil du mir das Herz aus dem Leib gerissen hast.
Ich habe getan, worum du mich gebeten hast!«
Jared packte Talon an den Schultern. »Es war ein
Trick, Talon. Das hier ist Thera, und es geht ihr gut. Es war
ein Trick.«
Talon fuhr mit der Hand durch die Luft. »Und was
ist dann all das Zeug hier auf der Straße?«
»Schweinedärme«, murmelte Thera, die sich nun noch
heftiger schrubbte.
Die beiden Männer starrten sie an.
Sie wand sich unter ihren Blicken.
Vielleicht war es niederträchtig, aber nachdem sie
ihm solche Angst eingejagt hatte, genoss Jared es nun, ihr im
Gegenzug ebenfalls einen Schrecken einzujagen.
»Schweinedärme?«, fragte Talon ungläubig.
»Schweinedärme«, sagte Jared und nickte langsam.
»Als sie gestern die Schweine geschlachtet haben, ist unsere kleine
Schwarze Witwe mit zwei großen Eimern voll Fleischabfall
verschwunden.« Er lächelte Thera an.
Sie stieß ein Winseln aus.
Talons leises Knurren schwoll zu einem Brüllen an.
Ȇbers Knie sollte ich dich legen und dir ein bisschen Anstand in
den Leib prügeln!«
»Als die Hayllier erst einmal das Dorf umzingelt
hatten, war das die einzige Möglichkeit, wie wir den Kampf gewinnen
konnten«, sagte Thera mit einem Hauch ihrer gewohnten
Leidenschaft.
»Ihr hättet es uns sagen können«, fuhr Jared sie
an.
»Ihr hättet uns angeschrien, und dafür hatten wir
keine Zeit.«
Jetzt taten sie mehr, als nur zu schreien. Jared
vermochte letztendlich nicht zu sagen, ob er Talon zurückhielt oder
Talon ihn, so fest hielten sich die beiden Männer gegenseitig
gepackt.
»Warum gebt ihr nur mir die Schuld?«, fragte Thera
klagend. »Ich habe die Warnzeichen in dem Verworrenen Netz
gesehen, aber ich bin nicht die Einzige, die das hier ausgeheckt
hat.«
Das ließ sie auf der Stelle erstarren.
»Lia«, sagte Jared leise. Er ließ Talon los und
drehte sich langsam um die eigene Achse, um endlich zu sehen,
wirklich zu sehen, was eine Königin mit grauem Juwel
vollbringen konnte.
»Sie darf das hier nicht zu Gesicht bekommen«,
sagte Talon grimmig. »Sie hat noch keine Zeit gehabt, sich mit der
Macht anzufreunden, die sie jetzt in ihrem Inneren trägt. Das hier
könnte sie für immer lähmen. Eines Tages wird sie erneut die Kräfte
von Grau entfesseln müssen, und wenn sie es wegen dem nicht tut,
was hier geschehen ist, wird dies Dena Nehele teuer zu stehen
kommen.«
Jared wandte sich wieder zu Thera um und konnte
sehen, wie erschöpft sie war und wie verzweifelt sie sich an einen
letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung klammerte. »Wo?«, fragte er
leise.
»Im Tanzring«, erwiderte Thera matt. »Sie ist im
Tanzring. Wir haben ihn auf einem Spaziergang mit einem Kältezauber
umgeben, damit niemand ihn betreten wollen würde.«
Jared rannte los.
Er sah, wie sein Onkel Yarek und Thayne und ein
paar andere Dorfbewohner aus den Häusern traten und sich benommen
umblickten.
Er hörte Blaed, der nach Thera rief.
Er hörte jemanden hinter sich herlaufen und wusste,
dass es Talon war.
Bitte, dachte er im Laufen. Süße
Dunkelheit, bitte lass sie nicht aus dem Tanzring kommen und das
hier sehen.
Er sprang mit einem Satz über eine Leiche und lief
den Hang hinauf. Bald schon prallte er gegen eine Mauer kalter
Luft, die ihm den Atem raubte, doch die Mauer verschwand, sobald er
hindurchging. Auf dem Kamm kam er rutschend zum Stehen.
Talon holte ihn heftig atmend ein.
Lia saß in der Nähe der Ringmitte, die Hände
krampfhaft an die Brust gedrückt.
»Lia«, hauchte Jared.
Er lief in den Tanzring hinunter und ließ sich vor
ihr zu Boden fallen. »Lia?« Vorsichtig streckte er eine Hand aus,
wagte es jedoch nicht, sie zu berühren. »Lia?«
Sie starrte ihn mit leerem Blick an.
Talon ließ sich neben ihr auf ein Knie
sinken.
Lia blinzelte. Blinzelte erneut.
Zögernd legte Jared ihr eine Hand auf den
Oberschenkel. »Lia?«
»Es hat mich umgeworfen«, sagte sie mit der
schmollenden Stimme eines Kindes, dem man sein Spielzeug
weggenommen hat.
»Es hat mich umgeworfen«, wiederholte sie. Sie ließ
die Hände sinken.
Jared betrachtete das graue Juwel, das
blutverschmiert um ihren Hals hing. Es war sein Blut. So hatte sie
ihre graue Macht auf ihn abgestimmt, damit ihre Macht das mentale
Netz erkennen und niemanden umbringen würde, der damit verbunden
war.
Und das Blut soll zum Blut singen. Der Dunkelheit
sei Dank.
»Es ist meine Macht«, sagte sie mürrisch. »Sie
sollte mich nicht umwerfen.«
»Das war der Rückstoß, mein Schatz«, sagte Talon
sanft.
»Oh.«
*Hat es ihr Schaden zugefügt?*, fragte Jared einen
Speerfaden entlang.
Erst zögerte Talon, dann schüttelte er den Kopf.
*Ich glaube, sie ist nur benommen. Selbst mit einem grauen
Schutzschild muss es sie ziemlich heftig getroffen haben.*
Leise vor sich hin summend streichelte Lia das
Juwel.
Jared hatte beinahe das Gefühl, als würden ihre
Finger über seine Haut gleiten.
Als sie wieder aufsah, war ihr Blick nicht länger
leer.
»Deine Männer?«, fragte sie Talon.
Er wandte den Kopf in Richtung des Dorfes, seine
Aufmerksamkeit ganz nach innen gerichtet. Einen Augenblick später
sagte er: »Ein paar von ihnen sind verletzt worden, aber nicht
schwer.«
»Dein Volk?«, fragte sie Jared.
»Es geht ihnen gut.«
Sie zögerte. »Thera? Haben die ganzen grauen
Schilde gehalten, mit denen ich Thera umgeben habe?«
»Sie haben gehalten. Thera war wunderbar. Sie hat
uns einen riesigen Schrecken eingejagt. Ich denke, nach dieser
kleinen Vorstellung hat Blaed es verdient, sie einen Monat lang
ohne jeden Widerspruch zu umsorgen.« Er warf Talon einen Blick zu.
»Was meinst du?«
»Mindestens«, erwiderte Talon trocken.
Lia zögerte erneut. Diesmal länger. »Ich habe sie
umgebracht, nicht wahr?«
Jared antwortete nicht.
»Sie sind tot«, bestätigte Talon schließlich.
Lia brach in Tränen aus.
Jared verlagerte sein Gewicht und zog sie in seinen
Schoß, um sie in seinen Armen wiegen zu können. Sie ließ sich in
seine Umarmung fallen.
Das Schluchzen, das sie am ganzen Leib erzittern
ließ, traf ihn mitten ins Herz.
»Lass sie sich ausweinen«, sagte Talon, eine Hand
auf Lias Kopf gelegt. *Ich gehe ins Dorf zurück und hole ein paar
Pferde.* Er zog eine Grimasse. *Falls welche überlebt haben
sollten. Ich weiß, wie man einen Trank zubereitet, der sie mehrere
Stunden lang ruhig stellen wird. Den hole ich auch.*
Talon erhob sich langsam und verließ den Tanzring.
Auf dem Kamm des Hanges drehte er sich noch einmal um. *Du hast
deine Sache gut gemacht, Krieger.*
Jared legte die Wange an Lias Kopf und wiegte sie,
bis die Tränen endlich versiegten. »Du auch, Lady«, flüsterte er.
»Du auch.«