Kapitel 35
Jared hielt seine eigenen Ängste und
Unsicherheiten mit Macht zurück und sandte den Dorfbewohnern ein
Gefühl von Zuversicht, während sie geduldig darauf warteten, dass
Thera sie zu dem mentalen Netz hinzufügte, das sie innerhalb eines
Verworrenen Netzes geschaffen hatte.
Niemand sprach. Niemand wagte es, auch nur zu
flüstern. Niemand wagte es, derjenige zu sein, der Theras grimmige
Konzentration störte.
Sie stach jeden Dorfbewohner in den Finger, fügte
einem bestimmten Strang ihres Netzes einen Blutstropfen hinzu und
ließ ihn dann mithilfe der Kunst gefrieren, sodass das Netz bald
wie eine zerbrechliche silberne Halskette voller roter Perlen
aussah.
Wieder und wieder, mit raschen Bewegungen, während
die Minuten verrannen.
Und jedes Mal, wenn sie einen Blutstropfen an der
gewählten Stelle anbrachte, spürte Jared, wie dem Netz ein weiterer
Geist hinzugefügt wurde. Wenn er ins Leere starrte, konnte er es
vor seinem inneren Auge sehen. Doch das Netz, das er in seinem
Innern sah, wies keine Blutstropfen auf, sondern kleine
Juwelensterne – oder durchsichtige Perlen für diejenigen
Angehörigen des Blutes, die nicht stark genug waren, um Juwelen zu
tragen. Manche konnte er immer noch anhand ihrer Juwelen erkennen:
Eryk und Corry, seinen Onkel Yarek, Thayne. Doch als mehr und mehr
Leute hinzukamen, fingen ihre mentalen Signaturen an zu
verschwimmen und sich miteinander zu vermischen.
Den Angreifern würde auffallen, dass etwas nicht
mit rechten Dingen zuging, doch sie würden nicht in der Lage
sein, die Quelle zu finden, weil bis dahin jeder zur Quelle
geworden war.
Im Grunde war dies der gleiche Trick, den Dorothea
angewandt hatte, um Brock vor Lia zu verbergen.
Er gönnte sich einen Augenblick, um Theras
Geschicklichkeit zu bewundern. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass die
meisten shaladorischen Hexen Tuniken und Hosen trugen und ihr
dunkles Haar zu einem losen Zopf geflochten hatten.
Die Tapferkeit, die sie an den Tag legten, ließ
Stolz auf sein Volk in ihm aufkeimen.
Wenn man nicht in der Lage war, eine mentale
Signatur von der anderen zu unterscheiden, war es nicht einfach zu
sagen, welches Juwel jede einzelne Hexe trug. Und wenn die Hayllier
nicht so nahe herankämen, dass ihnen die goldene Haut auffiele,
konnten die Hexen stundenlang »Versteck die Königin« mit ihnen
spielen – oder zumindest lange genug, um die Hayllier davon
abzuhalten, einen Frontalangriff zu starten, bevor alles so weit
war.
Er schätzte, dass ihnen noch eine Viertelstunde
blieb, als Blaed und Talon auf das Netz zutraten. Sie waren die
letzten beiden, die dem Netz hinzugefügt wurden. Alle anderen
hatten sich mittlerweile im ganzen Dorf verteilt.
»So«, meinte Thera und ließ die Schultern kreisen,
als sie von dem Netz zurücktrat. Sie atmete zweimal tief durch.
Dann löste sie die unteren beiden Haltelinien von dem Holzrahmen.
Sie packte das Netz an den oberen Haltelinien und nahm es vom
Rahmen, den Blick auf Jared gerichtet. »Zieh dein Hemd aus.«
Nachdem Jared einen verblüfften Blick mit Talon und
Blaed gewechselt hatte, entkleidete er sich bis zur Taille.
»Hol tief Luft und rühr dich nicht«, sagte Thera.
»Das ist die sicherste Möglichkeit, es zu beschützen.«
Immer noch verblüfft, sah Jared zu, wie sie ihm das
Netz über Brust und Bauch legte. Im nächsten Augenblick
verschmolzen die Spinnenseidefäden und die Blutsperlen mit seiner
Haut. Er keuchte auf.
Nachdem Thera seine Brust kurz betrachtet hatte,
nickte
sie. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie mit einem wissenden
Lächeln. »Die wirst du nicht alle ewig mit dir herumtragen. Sobald
die Macht aus dem Netz gewichen ist, werden die Spinnenseide und
das Blut wieder durch deine Haut nach außen dringen und von dir
abfallen.«
»Kann ich mich jetzt wieder anziehen?«, wollte
Jared unwirsch wissen. Er zitterte am ganzen Leib. Allerdings lag
das nicht nur daran, dass es zu kalt war, um halb nackt
herumzustehen.
»Ja, zieh dich ruhig wieder an.«
»Fertig?«, fragte Lia leise und trat zu
ihnen.
»Fertig«, erwiderte Thera.
Sie wandten sich zur Kutsche.
Hastig zog Jared sich das Hemd über. Er wollte eine
Minute mit Lia, solange ihm noch die Zeit dazu blieb.
»Warte mal«, sagte Blaed scharf. Er deutete auf
Thera. »Lia und du seid nicht mit dem Netz verbunden.«
»Was?«, sagten Jared und Talon einstimmig.
»Sie sind nicht Teil des Netzes. Ich habe zwar bis
zum Schluss gewartet, aber ich war auch schon da, als Thera die
erste Person hinzugefügt hat.« Blaed starrte die beiden Frauen an.
In seinen Augen stand schmerzlich das verletzte Vertrauen.
Lia musterte die drei Männer. Sie holte tief Luft.
»Thera und ich können nicht Teil des Netzes sein.« Sie hielt eine
Hand empor, um sämtliche Proteste im Keim zu ersticken. »Es geht
nicht. Aber ich schwöre euch, dass wir alle geschützt sind.«
»Komm schon«, drängte Thera. »Wir müssen uns um den
letzten Rest kümmern.«
»Welchen letzten Rest?«, wollte Jared wissen und
machte einen Schritt auf die beiden zu. »Ansonsten habt ihr nichts
erwähnt.«
Lias Augen hielten ihn davon ab, einen weiteren
Schritt zu tun.
Die drei Männer sahen zu, wie Thera und Lia zu der
Kutsche eilten.
Jared presste sich die Hand auf die Brust. Am
liebsten hätte er sich die Stelle über seinem Herzen massiert, um
den tiefen, wachsenden Schmerz zu lindern, doch er hatte Angst, er
könnte das Netz beschädigen.
Talon stieß Blaed an. »Beziehen wir unsere Posten.«
Er ging ein Stück die Straße entlang, drehte sich dann jedoch um.
»Jared? Alles in Ordnung bei dir?«
Jared ließ die Hand sinken. »Mir geht es
gut.«
Eine Minute später stand er allein auf der Straße.
Alle anderen hatten sich versteckt. Die Tür der Kutsche blieb
geschlossen. In ein paar Minuten würde Krelis klar werden, dass sie
ihm Lia nicht ausliefern würden, und die Schlacht würde
beginnen.
Zu spät, dachte Jared auf dem Weg zu dem
Gasthaus, in dem er sich bis ganz zum Schluss verstecken würde. Er
hätte es Lia sagen sollen, solange noch Gelegenheit dazu war, hätte
sie wissen lassen sollen, wie viel sie ihm bedeutete. Sein
Bedauern, sich nicht mehr mit Reyna aussprechen zu können, hätte
ihn lehren sollen, nicht unnötig zu warten, wenn er jemandem sein
Herz ausschütten wollte. Doch die Scham über die Art, wie er die
letzten neun Jahre gelebt hatte, hatte ihn davon abgehalten, Lia
drei wichtige Wörter zu sagen.
Und jetzt war es zu spät.