Kapitel 35
039
Jared hielt seine eigenen Ängste und Unsicherheiten mit Macht zurück und sandte den Dorfbewohnern ein Gefühl von Zuversicht, während sie geduldig darauf warteten, dass Thera sie zu dem mentalen Netz hinzufügte, das sie innerhalb eines Verworrenen Netzes geschaffen hatte.
Niemand sprach. Niemand wagte es, auch nur zu flüstern. Niemand wagte es, derjenige zu sein, der Theras grimmige Konzentration störte.
Sie stach jeden Dorfbewohner in den Finger, fügte einem bestimmten Strang ihres Netzes einen Blutstropfen hinzu und ließ ihn dann mithilfe der Kunst gefrieren, sodass das Netz bald wie eine zerbrechliche silberne Halskette voller roter Perlen aussah.
Wieder und wieder, mit raschen Bewegungen, während die Minuten verrannen.
Und jedes Mal, wenn sie einen Blutstropfen an der gewählten Stelle anbrachte, spürte Jared, wie dem Netz ein weiterer Geist hinzugefügt wurde. Wenn er ins Leere starrte, konnte er es vor seinem inneren Auge sehen. Doch das Netz, das er in seinem Innern sah, wies keine Blutstropfen auf, sondern kleine Juwelensterne – oder durchsichtige Perlen für diejenigen Angehörigen des Blutes, die nicht stark genug waren, um Juwelen zu tragen. Manche konnte er immer noch anhand ihrer Juwelen erkennen: Eryk und Corry, seinen Onkel Yarek, Thayne. Doch als mehr und mehr Leute hinzukamen, fingen ihre mentalen Signaturen an zu verschwimmen und sich miteinander zu vermischen.
Den Angreifern würde auffallen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, doch sie würden nicht in der Lage sein, die Quelle zu finden, weil bis dahin jeder zur Quelle geworden war.
Im Grunde war dies der gleiche Trick, den Dorothea angewandt hatte, um Brock vor Lia zu verbergen.
Er gönnte sich einen Augenblick, um Theras Geschicklichkeit zu bewundern. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass die meisten shaladorischen Hexen Tuniken und Hosen trugen und ihr dunkles Haar zu einem losen Zopf geflochten hatten.
Die Tapferkeit, die sie an den Tag legten, ließ Stolz auf sein Volk in ihm aufkeimen.
Wenn man nicht in der Lage war, eine mentale Signatur von der anderen zu unterscheiden, war es nicht einfach zu sagen, welches Juwel jede einzelne Hexe trug. Und wenn die Hayllier nicht so nahe herankämen, dass ihnen die goldene Haut auffiele, konnten die Hexen stundenlang »Versteck die Königin« mit ihnen spielen – oder zumindest lange genug, um die Hayllier davon abzuhalten, einen Frontalangriff zu starten, bevor alles so weit war.
Er schätzte, dass ihnen noch eine Viertelstunde blieb, als Blaed und Talon auf das Netz zutraten. Sie waren die letzten beiden, die dem Netz hinzugefügt wurden. Alle anderen hatten sich mittlerweile im ganzen Dorf verteilt.
»So«, meinte Thera und ließ die Schultern kreisen, als sie von dem Netz zurücktrat. Sie atmete zweimal tief durch. Dann löste sie die unteren beiden Haltelinien von dem Holzrahmen. Sie packte das Netz an den oberen Haltelinien und nahm es vom Rahmen, den Blick auf Jared gerichtet. »Zieh dein Hemd aus.«
Nachdem Jared einen verblüfften Blick mit Talon und Blaed gewechselt hatte, entkleidete er sich bis zur Taille.
»Hol tief Luft und rühr dich nicht«, sagte Thera. »Das ist die sicherste Möglichkeit, es zu beschützen.«
Immer noch verblüfft, sah Jared zu, wie sie ihm das Netz über Brust und Bauch legte. Im nächsten Augenblick verschmolzen die Spinnenseidefäden und die Blutsperlen mit seiner Haut. Er keuchte auf.
Nachdem Thera seine Brust kurz betrachtet hatte, nickte sie. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. »Die wirst du nicht alle ewig mit dir herumtragen. Sobald die Macht aus dem Netz gewichen ist, werden die Spinnenseide und das Blut wieder durch deine Haut nach außen dringen und von dir abfallen.«
»Kann ich mich jetzt wieder anziehen?«, wollte Jared unwirsch wissen. Er zitterte am ganzen Leib. Allerdings lag das nicht nur daran, dass es zu kalt war, um halb nackt herumzustehen.
»Ja, zieh dich ruhig wieder an.«
»Fertig?«, fragte Lia leise und trat zu ihnen.
»Fertig«, erwiderte Thera.
Sie wandten sich zur Kutsche.
Hastig zog Jared sich das Hemd über. Er wollte eine Minute mit Lia, solange ihm noch die Zeit dazu blieb.
»Warte mal«, sagte Blaed scharf. Er deutete auf Thera. »Lia und du seid nicht mit dem Netz verbunden.«
»Was?«, sagten Jared und Talon einstimmig.
»Sie sind nicht Teil des Netzes. Ich habe zwar bis zum Schluss gewartet, aber ich war auch schon da, als Thera die erste Person hinzugefügt hat.« Blaed starrte die beiden Frauen an. In seinen Augen stand schmerzlich das verletzte Vertrauen.
Lia musterte die drei Männer. Sie holte tief Luft. »Thera und ich können nicht Teil des Netzes sein.« Sie hielt eine Hand empor, um sämtliche Proteste im Keim zu ersticken. »Es geht nicht. Aber ich schwöre euch, dass wir alle geschützt sind.«
»Komm schon«, drängte Thera. »Wir müssen uns um den letzten Rest kümmern.«
»Welchen letzten Rest?«, wollte Jared wissen und machte einen Schritt auf die beiden zu. »Ansonsten habt ihr nichts erwähnt.«
Lias Augen hielten ihn davon ab, einen weiteren Schritt zu tun.
Die drei Männer sahen zu, wie Thera und Lia zu der Kutsche eilten.
Jared presste sich die Hand auf die Brust. Am liebsten hätte er sich die Stelle über seinem Herzen massiert, um den tiefen, wachsenden Schmerz zu lindern, doch er hatte Angst, er könnte das Netz beschädigen.
Talon stieß Blaed an. »Beziehen wir unsere Posten.« Er ging ein Stück die Straße entlang, drehte sich dann jedoch um. »Jared? Alles in Ordnung bei dir?«
Jared ließ die Hand sinken. »Mir geht es gut.«
Eine Minute später stand er allein auf der Straße. Alle anderen hatten sich versteckt. Die Tür der Kutsche blieb geschlossen. In ein paar Minuten würde Krelis klar werden, dass sie ihm Lia nicht ausliefern würden, und die Schlacht würde beginnen.
Zu spät, dachte Jared auf dem Weg zu dem Gasthaus, in dem er sich bis ganz zum Schluss verstecken würde. Er hätte es Lia sagen sollen, solange noch Gelegenheit dazu war, hätte sie wissen lassen sollen, wie viel sie ihm bedeutete. Sein Bedauern, sich nicht mehr mit Reyna aussprechen zu können, hätte ihn lehren sollen, nicht unnötig zu warten, wenn er jemandem sein Herz ausschütten wollte. Doch die Scham über die Art, wie er die letzten neun Jahre gelebt hatte, hatte ihn davon abgehalten, Lia drei wichtige Wörter zu sagen.
Und jetzt war es zu spät.
Die schwarzen Juwelen 05 - Finsternis
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