Kapitel 1
Nichts, was man ihm im Laufe der letzten neun
Jahre angetan hatte, tat so weh wie die bittere Erkenntnis, dass er
selbst schuld daran war. Ein einziges Fehlurteil hatte dazu
geführt, dass der achtzehnjährige Junge, der er einst gewesen war,
jener junge großspurige Geck, einen Weg voller Schmerzen
eingeschlagen hatte. Ein Weg, der bald mit der Brutalität enden
würde, die Männer in den Salzminen von Pruul erwartete.
Während er die letzten Tage darauf gewartet
hatte, auf den Sklavenmarkt gebracht zu werden, hatte er versucht,
jenem Jungen zu vergeben, der damals die Warnungen seiner Freunde
und der älteren Krieger in den Wind geschlagen hatte, als jene Hexe
den Gasthof betreten hatte. Er hatte versucht, ihm zu vergeben,
dass er sich von dem schönen Gesicht und dem üppigen Körper hatte
blenden lassen, dass er die Fäulnis nicht gespürt hatte, die unter
der Oberfläche existierte, dass er mit solchem Eifer nach dem
Moschusgeruch verströmenden Köder gegriffen hatte. Wie hatte er den
geflüsterten Worten Glauben schenken können, die ihm eine Ewigkeit
voll süßer nächtlicher Eskapaden versprachen? Wie hatte er so sehr
Gefangener der heißen Begierde zwischen seinen Beinen sein können,
dass er der Frau gestattete, ihm jenen goldenen Ring um den Schwanz
zu legen? Bloß weil sie ihm mit geschürzten Lippen von all den
unanständigen Dingen erzählt hatte, die sie mit ihm und für ihn tun
wollte – doch erst, sobald er einen Ring des Gehorsams trug, denn
sie brauchte ›ein klein wenig‹ Kontrolle über seine
Leidenschaft.
Einen Tag lang hatte sie mit ihm gespielt, bevor
er schließlich herausfand, wie grausam ein Ring des Gehorsams sein
konnte, wenn er von einer Frau benutzt wurde, der es Vergnügen
bereitete, anderen Schmerzen zuzufügen.
Nach neun Jahren als Lustsklave konnte er sich
nicht mehr erinnern, warum er jemals mit einer Frau hatte ins Bett
steigen wollen.
Und er machte dem Jungen Vorwürfe. Bittere
Vorwürfe. Da nun die Salzminen von Pruul auf ihn warteten, machte
er diesem Jungen Vorwürfe. Er konnte ihm nicht verzeihen.
»Was hat ein Krieger mit rotem Juwel in
diesem Pferch zu suchen?«, flüsterte einer der Sklaven. »Für
gewöhnlich sperren sie seinesgleichen nicht hier unten zu
uns.«
Ein anderer Sklave spuckte aus. »Es ist
gleichgültig, welche Juwelen er trägt, solange er hier ist.«
»Stimmt schon, aber … ich habe ihn schon mal
gesehen. Ich dachte, er sei ein Lustsklave.«
»Das ist er auch gewesen«, antwortete ein dritter
Mann, »bis er zum Königinnenmörder wurde.«
»Ein Königinnenmörder!«
Königinnenmörder. Königinnenmörder.
Jared blieb in der Ecke des Sklavenpferches, die er
in Beschlag genommen hatte. Er achtete nicht auf das Geflüster, das
sich um ihn her erhoben hatte, und tat, als fiele ihm gar nicht
auf, dass die anderen Männer ihn mieden. Selbst hier, im
schlimmsten Pferch, wollten die Männer, denen man aufgrund ihres
Ungehorsams nur noch die niedersten Arbeiten zutraute, nichts mit
einem Mann zu tun haben, an dessen Händen das Blut einer Königin
klebte.
Dafür hatte er Verständnis. Als sich die blinde Wut
wieder so weit gelegt hatte, dass er die Leichen der Königin und
ihres prinzlichen Bruders wahrnahm, als er begriff, was geschehen
war, hatte ihn angesichts seiner eigenen Tat Entsetzen
gepackt.
Ihm stockte der Atem, als ihn erneut quälende
Gefühle durchzuckten und in Stücke zu reißen drohten.
Ein Teil von ihm war entsetzt gewesen, das stimmte
– der Teil, der von seinem Vater den Ehrenkodex der Krieger
beigebracht
bekommen hatte, der dazu erzogen worden war, dem weiblichen
Geschlecht zu dienen. Doch ein anderer Teil, ein primitiver Teil,
von dessen Existenz er nichts geahnt hatte, hatte ein Triumphgeheul
ausgestoßen.
Die Schmerzen ließen wieder nach, während der wilde
Fremde in seinem Innern unruhig an den Rändern seines Geistes und
seines Herzens entlangstrich.
Er vertraute diesem Fremden nicht, ja er fürchtete
dessen Gegenwart sogar. Das war nicht er! Doch er würde sich aus
einem ganz bestimmten Grund noch einmal dessen primitiver Wildheit
bedienen: Er wollte, musste lange genug nach Hause
zurückkehren, um seine Mutter aufzusuchen und die Worte
zurückzunehmen, die er nun schon seit Jahren bereute. Danach
…
Es hatte keinen Sinn anzunehmen, dass es wirklich
ein danach gab. Doch das würde reichen. Es musste
reichen.
Also musste ihm noch in dieser Nacht die Flucht
gelingen. Morgen würde in Raej der Herbstsklavenmarkt beginnen. Die
Hexen, die auf die Insel kamen, um zu kaufen und zu verkaufen,
würden auf dem Auktionsgelände unter dem Geleitschutz von
angeheuerten Wächtern unterwegs sein. Und die Wachen, welche die
Pferche beaufsichtigten, würden ausgesprochen nervös sein und allzu
schnell auf alles reagieren, was ein Sklave tat.
Deshalb würde er in dieser Nacht nahe genug an den
offiziellen Landeplatz außerhalb des Marktgeländes gelangen müssen,
um auf einen der Winde aufspringen zu können; jene Netze aus
mentalen Bahnen, die es den Angehörigen des Blutes ermöglichten,
durch die Dunkelheit zu reisen. Er würde auf einem Wind reisen und
so den ganzen Weg bis zum Ranonwald zurücklegen.
Nachdem Jared diesen Entschluss gefasst hatte,
beobachtete er, wie die Sonne unterging und der Viertelmond langsam
emporstieg. Dabei dachte er an seine Mutter, seinen Vater und seine
Brüder, sein Zuhause … und an den Jungen, der er einst gewesen
war.