Prolog

Die Herausforderung

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Die alten Babylonier nannten sie Ischtar, für die Griechen war sie Aphrodite und für die Römer Venus  – die Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und der Schönheit. Sie ist der hellste Stern am Nachthimmel und sogar an einem klaren Tag zu sehen. Für einige kündigte sie Morgen und Abend, für andere neue Jahreszeiten oder bedeutsame Epochen an. 260 Tage lang regiert sie als »Morgenstern« oder »Bringer des Lichts«, dann verschwindet sie und geht wieder auf als »Abendstern« und »Bringer der Morgendämmerung«.

Jahrhundertelang hat Venus die Menschheit inspiriert, doch in den 1760er Jahren waren die Astronomen überzeugt, dass der Planet die Lösung für ein sehr gewichtiges wissenschaftliches Problem liefern könnte: die Antwort auf die Frage nach der Größe des Sonnensystems. Ref 1

 

1716 rief der britische Astronom Edmond Halley in einem zehnseitigen Aufsatz seine Kollegen auf, sich gemeinsam an einem weltweiten Projekt zu beteiligen  – ein Projekt, das die Welt der Wissenschaft unwiderruflich verändern könnte. Am 6. Juni 1761, so sagte Halley vorher, werde die Venus vor der Sonne vorüberziehen, für wenige Stunden werde der helle Stern als kleine, vollkommen schwarze Scheibe sichtbar sein. Er glaubte, durch eine Messung der genauen Zeit und Dauer dieses seltenen Himmelsereignisses würden sich die Daten zusammentragen lassen, die die Astronomen brauchten, um die Entfernung von der Erde zur Sonne zu berechnen.

Allerdings gab es ein Problem: Der sogenannte Venus-Transit oder Venus-Durchgang ist eines der seltensten vorhersagbaren Ereignisse. Diese Durchgänge treten immer paarweise auf  – im Abstand von acht Jahren, aber mit einem Intervall von mehr als einem Jahrhundert, bevor sie sich wieder beobachten lassen.1 Laut Halley hatte es erst ein einziges Mal eine Beobachtung des Ereignisses gegeben, und zwar durch den britischen Astronomen Jeremiah Horrocks. Das nächste Paar würde 1761 und 1769 auftreten, und danach erst wieder 1874 und 1882. Ref 2

Halley war sechzig Jahre alt, als er seinen Aufsatz schrieb, und wusste, dass er den Transit nicht mehr erleben würde (es sei denn, er würde 104 Jahre alt), aber er wollte dafür sorgen, dass die nächste Generation gut vorbereitet war. In der Zeitschrift der Royal Society, der wichtigsten wissenschaftlichen Institution Großbritanniens, erläuterte Halley genau, warum dieses Ereignis so wichtig war, was die »jungen Astronomen« zu tun hatten und wo sie den Venus-Transit beobachten sollten. Er schrieb auf Latein, der internationalen wissenschaftlichen Verkehrssprache, um in ganz Europa so viele Astronomen wie möglich zur Teilnahme an seinem Projekt bewegen zu können. Je mehr Menschen er erreichte, desto größer die Aussichten auf Erfolg. Es sei von größter Wichtigkeit, erläuterte Halley, dass möglichst viele Menschen an verschiedenen Orten auf der Erde das seltene himmlische Zusammentreffen von Sonne und Venus zur selben Zeit beobachteten. Es reiche nicht aus, den Durchgang der Venus nur von Europa aus zu betrachten; Astronomen müssten auch abgelegene, möglichst weit auseinanderliegende Orte auf der nördlichen und südlichen Erdhalbkugel aufsuchen. Und nur wenn sie ihre Ergebnisse zusammenfassten  – wobei die nördlichen Daten das Gegenstück zu den südlichen Beobachtungen bildeten  –, konnten sie schaffen, was bis dahin unvorstellbar schien: eine exakte mathematische Erfassung der Dimensionen unseres Sonnensystems  – der heilige Gral der Astronomie.

Hunderte von Astronomen folgten Halleys Aufruf zu diesem Transit-Projekt. Sie kamen im Geist der Aufklärung zusammen. Das Wettrennen um die Beobachtung und Messung des Venus-Transits war ein Schlüsselmoment der neuen Zeit, einer Epoche, in der man die Natur mit Hilfe der Vernunft zu verstehen suchte. Die Wissenschaft wurde verehrt, und rationales Denken verdrängte die Mythen. Der Mensch begann, die Welt nach rationalen Prinzipien zu ordnen. So trug der Franzose Denis Diderot alles verfügbare Wissen in seiner monumentalen Encyclopédie zusammen. Der schwedische Botaniker Carl Linnaeus klassifizierte Pflanzen nach ihren Geschlechtsorganen, und 1751 brachte Samuel Johnson mit der Zusammenstellung des ersten englischen Wörterbuchs Ordnung auch in die Sprache. Mit der Erfindung von Mikroskopen und Teleskopen eröffneten sich bis dahin unbekannte Welten, denn die Forscher konnten nun die winzigsten Einzelheiten und die Unendlichkeiten der natürlichen Welt sehen. Robert Hooke spähte durchs Mikroskop und fertigte detaillierte Stiche von vergrößerten Samen, Fliegen und Würmern an  – er hat den Begriff »Zelle« für die Grundeinheit des Lebens geprägt. In den nordamerikanischen Kolonien experimentierte Benjamin Franklin mit Elektrizität und Blitzableitern, um menschlicher Kontrolle zu unterwerfen, was bislang als Ausdruck göttlicher Rage galt. Langsam wurden die Naturvorgänge klarer. Kometen galten nicht mehr als Vorboten des Zorns Gottes, sondern waren, wie Halley bewiesen hatte, vorhersagbare Himmelsereignisse. 1755 hatte Immanuel Kant die Vermutung geäußert, das Universum sei viel größer, als seine Zeitgenossen glaubten, und bestehe aus zahllosen riesigen »Welteninseln«  – »Galaxien« würden wir heute sagen.

Die Menschheit glaubte, sie schreite auf dem Weg des Fortschritts unaufhaltsam voran. In London, Paris, Stockholm, Sankt Petersburg, sogar in Philadelphia in den nordamerikanischen Kolonien wurden wissenschaftliche Gesellschaften gegründet, um dieses neu erworbene Wissen zu erfassen und auszutauschen. Beobachtung, Untersuchung und Experiment waren die Bausteine des neuen Weltverständnisses. Da Fortschritt das Leitmotiv des Jahrhunderts war, beneidete jede Generation die nächste. Während die Renaissance den Blick auf das Goldene Zeitalter der Vergangenheit gerichtet hatte, blickte die Aufklärung zuversichtlich in die Zukunft. Ref 3

Halleys Plan, den Venus-Transit als Werkzeug zur Himmelsvermessung zu verwenden, war aus den Errungenschaften des vorhergehenden Jahrhunderts erwachsen. Bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts hatte man den Himmel mit bloßem Auge beobachtet, doch der technische Fortschritt holte jetzt langsam die ehrgeizigen Pläne und Theorien der Wissenschaften ein. Die Blickrichtung der Astronomie hatte sich verändert: Es ging nicht mehr um die Kartierung der Sterne, sondern um das Verständnis der Planetenbewegungen. Anfang des 16. Jahrhunderts hatte Nikolaus Kopernikus die revolutionäre These aufgestellt, dass nicht die Erde, sondern die Sonne den Mittelpunkt des Sonnensystems bildet und von den Planeten umkreist wird  – ein Modell, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Galileo Galilei und Johannes Kepler bestätigt und erweitert worden war. Entscheidend für das Verständnis des Universums aber wurde Isaac Newtons bahnbrechendes Buch Principia von 1687, in dem er die fundamentalen, für alle Körper geltenden Bewegungs- und Gravitationsgesetze darlegte. Wenn Astronomen nun die Sterne beobachteten, waren sie nicht mehr auf der Suche nach Gott, sondern nach den das Universum regierenden Gesetzen.

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Eine Abbildung des ptolemäischen und tychonischen Planetensystems.

Zu jener Zeit, als Halley seine Astronomie-Kollegen dazu aufrief, den Durchgang der Venus zu beobachten, glaubte man, das Universum arbeite wie ein von göttlicher Hand geschaffenes Uhrwerk nach Gesetzen, die die Menschheit nur zu verstehen und zu berechnen brauche. Position und Bewegungen der Planeten begriff man nicht mehr als willkürlich von Gott bestimmt, sondern man ging davon aus, dass sie auf Naturgesetze gegründet und damit geordnet und vorhersagbar seien. Doch noch immer war den Astronomen die tatsächliche Größe des Sonnensystems unbekannt und damit ein wichtiges Teil des Himmelspuzzles. Ref 4

Die Abmessungen des Himmels zu verstehen, sei schon »immer ein wichtiger Gegenstand astronomischer Forschung« gewesen, sagte der amerikanische Astronom und Harvard-Professor John Winthrop im Transit-Jahrzehnt. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts hatte Kepler entdeckt, dass sich die relative Entfernung zwischen der Sonne und einem Planeten ausrechnen ließ, wenn man wusste, wie lange der Planet braucht, um die Sonne zu umkreisen (je länger die Umrundung dauert, desto weiter ist er entfernt).2 Daraus hatte er die Entfernung zwischen Erde und Sonne im Verhältnis zu den anderen Planeten ableiten können  – eine Maßeinheit, die zur Grundlage für die Berechnung von relativen Entfernungen im Universum wurde.3 Beispielsweise wussten die Astronomen, dass die Entfernung zwischen Erde und Jupiter fünfmal so groß ist wie die Entfernung zwischen Erde und Sonne. Das Problem bestand allerdings darin, dass bis dahin noch niemand in der Lage gewesen war, die Entfernung genauer zu beziffern.

Die Astronomen des 18. Jahrhunderts hatten eine Karte des Sonnensystems, aber sie hatten keine Ahnung von seiner wirklichen Größe. Ohne zu wissen, wie weit die Erde tatsächlich von der Sonne entfernt ist, war eine solche Karte so gut wie nutzlos. Nach Halleys Auffassung war die Venus der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels. Als hellster Stern am Himmel wurde die Venus zur idealen Metapher für das Licht der Vernunft, das die neue Welt erleuchten und die letzten Spuren des finsteren Mittelalters verwischen sollte.

 

Anders als die meisten Astronomen, deren Leben von der ständig wiederkehrenden Mühe ihrer nächtlichen Beobachtungen beherrscht wurde, hatte Halley sich aufregenderen Aufgaben verschrieben  – was vermutlich der Grund war, warum er sich vorstellen konnte, dass eine Schar abenteuerlustiger Astronomen lange nach seinem Tod bereit sein würde, in alle Welt auszuschwärmen. Halley war nicht nur der Mann, der anderthalb Stunden in einer Taucherglocke fast zwanzig Meter tief in der Themse verbracht hatte, er war auch der erste Europäer, der drei Expeditionen in den Südatlantik unternommen hatte, um den südlichen Nachthimmel mit Hilfe eines Teleskops zu kartieren. Halley »spricht, flucht und trinkt Brandy wie ein alter Seebär«, sagte ein Kollege von ihm, aber er war auch einer der genialsten Wissenschaftler seiner Zeit. So hatte er die Rückkehr des nach ihm benannten Halleyschen Kometen vorhergesagt, eine Karte des südlichen Sternenhimmels gezeichnet und Isaac Newton überredet, die Principia zu veröffentlichen. Ref 5

In der Gewissheit, dass er nicht mehr am Leben sein würde, um die weltweite Zusammenarbeit zur Beobachtung des Venus-Transits zu organisieren  – ein Umstand, den Halley »noch auf seinem Totenbett«, ein Glas Wein in der Hand, beklagte  –, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf künftige Generationen zu vertrauen und zu hoffen, dass sie sich in fünfzig Jahren noch an seine Anweisungen erinnern würden. »In der Tat würde ich mir wünschen, dass viele Beobachtungen dieses einen Phänomens von verschiedenen Personen an weit entfernten Orten vorgenommen würden,« schrieb er. »Das empfehle ich daher wieder und wieder allen wissbegierigen Astronomen, die (nach meinem Tode) Gelegenheit haben werden, diese Dinge zu beobachten.«

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Edmond Halleys Zeichnung der Venus beim Eintritt und Austritt während des Transits.

Halley forderte seine Nachfolger auf, sich auf ein Projekt einzulassen, das größer und kühner war als alle bisherigen wissenschaftlichen Unternehmen. Die gefährlichen Reisen zu abgelegenen Außenposten würden viele Monate, möglicherweise sogar Jahre dauern. Dabei würden die beteiligten Astronomen ihr Leben für ein Himmelsereignis riskieren, das gerade einmal sechs Stunden dauern und nur bei geeigneten Wetterbedingungen zu sehen sein würde. Ref 6

Im Vorfeld der Expeditionen mussten die Forscher für die Finanzierung von ausgezeichneten Teleskopen und anderen Instrumenten sowie für Reise, Unterbringung und Gehältern sorgen. Sie mussten ihre Monarchen oder Regierungen dazu bewegen, sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen, und ihre eigenen Beobachtungen mit denen in anderen Ländern abstimmen. Miteinander im Krieg liegende Nationen mussten  – zum ersten Mal  – im Namen der Wissenschaft zusammenarbeiten. Das Projekt konnte nur gelingen, wenn Hunderte von Astronomen von vielen Dutzend Orten ihre Teleskope in genau demselben Augenblick auf den Himmel richteten, um die Venus über die glühende Sonnenscheibe wandern zu sehen.

Hinzu kam  – was vielleicht noch aufwendiger, wenn auch weniger aufregend war  –, dass sie ihre Ergebnisse mit anderen Forschern teilen mussten. Jeder Beobachter musste seine Beobachtungen in den internationalen Datenpool einfließen lassen. Kein individuelles Ergebnis würde ohne die anderen von Nutzen sein. Um die Entfernung zwischen der Sonne und der Erde zu berechnen, mussten die Astronomen die Zahlen vergleichen und aus den verschiedenen Daten ein eindeutiges Ergebnis ableiten. Die Zeiten, die weltweit mit Hilfe verschiedener Uhren und Teleskope gemessen würden, mussten irgendwie standardisiert und vergleichbar gemacht werden.

Die Beobachtungen des Venus-Transits würden das ehrgeizigste jemals geplante wissenschaftliche Projekt sein  – ein höchst ungewöhnliches Vorhaben zu einer Zeit, als ein Brief von Philadelphia nach London zwei bis drei Monate brauchte und die Reise von London nach Newcastle sechs Tage dauerte. Es bedurfte schon einer gehörigen Portion Fantasie, vorzuschlagen, dass die beteiligten Astronomen, beladen mit mehr als einer halben Tonne Ausrüstung, Tausende von Kilometern durch die Wildnis hoch im Norden und tief im Süden reisen sollten. Ref 7

Auch der Plan, genaue Entfernungen im Raum zu berechnen, war ein kühnes Vorhaben, da die Uhren noch nicht genau genug gingen für eine exakte Längenbestimmung; außerdem existierten nicht mal auf der Erde standardisierte Maßeinheiten: Eine englische Meile bezeichnete eine andere Länge als eine Meile in den deutschsprachigen Ländern  – und selbst dort gab es Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich. Eine Mil in Schweden betrug mehr als zehn Kilometer, in Norwegen mehr als elf, während eine französische Lieue drei Kilometer, aber auch bis zu viereinhalb Kilometer lang sein konnte. Allein in Frankreich gab es 2000 verschiedene Maßeinheiten  – die sogar von Dorf zu Dorf verschieden waren. Angesichts dieser Umstände schien die Hoffnung, man könne Hunderte von Beobachtungen, die von Astronomen in aller Welt gesammelt würden, zu einem gemeinsamen Wert zusammenfassen, ungeheuer ehrgeizig. Ref 8

Die Wissenschaftler, die ihre Observatorien an den europäischen Bildungszentren verließen, um die Venus von abgelegenen Außenposten der bekannten Welt zu beobachten, waren Abenteurer der besonderen Art. Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht wie heldenmütige Entdeckungsreisende wirken mochten, bewiesen sie auf der weltweiten Jagd nach der Venus ungewöhnlichen Wagemut und Einfallsreichtum. Am 6. Juni 1761 und noch einmal am 3. Juni 1769 richteten mehrere hundert Astronomen in aller Welt ihre Teleskope auf den Himmel, um zu verfolgen, wie die Venus über die Sonne wanderte. Sie setzten sich über alle religiösen, nationalen und wirtschaftlichen Unterschiede hinweg, um sich zum ersten globalen wissenschaftlichen Projekt zusammenzuschließen. Dies ist ihre Geschichte.