Kapitel sieben
Wie weit ist es zur Sonne?
Als die Venus am frühen Nachmittag des 6. Juni 1761 die Sonnenscheibe verließ, blieb Le Gentil nichts anderes, als enttäuscht aufs Meer zu schauen. Er hatte Europa als Erster verlassen, Tausende von Kilometern durch Hurrikane und Schlechtwetter zurückgelegt, Krankheit und Entbehrung ertragen, aber absolut nichts erreicht. Er, der sonst auch noch in den widrigsten Situationen guter Dinge war, blieb jetzt still und verdrossen. Er schrieb keine Briefe, und das Tagebuch, in dem er normalerweise auch noch die unbedeutendsten Einzelheiten festhielt, blieb nach dem Transit tagelang leer. Nichts konnte ihn aufheitern.
Als sein Schiff zwölf Tage später Rodriguez anlief, war Le Gentil so mit seinem Pech beschäftigt, dass er die Gelegenheit verpasste, Pingré zu besuchen. Hätte er das Schiff verlassen, hätte er seinen Kollegen von der Académie des Science rasch entdeckt und aus erster Hand erfahren, wie es Pingré ergangen war. So aber schloss sich Le Gentil in seiner Kabine ein und vermied alle Gesellschaft und Gespräche. Ref 103
Sein Schiff fuhr nach Mauritius weiter, während Pingré zurückblieb und noch immer damit beschäftigt war, die geografische Position seiner Beobachtung genauer zu bestimmen. Aber der Siebenjährige Krieg blieb eine stets gegenwärtige Gefahr. Als Pingré sich Ende Juni zur Rückreise anschickte, griff ein britisches Schiff an und konfiszierte die Mignonne und die Oiseau, die beiden einzigen Segler der Insel. Rodriguez hatte keine Befestigungsanlagen, und »die Hälfte unserer Waffen funktionierten nicht«, schäumte Pingré. Die Franzosen hatten keine Chance gegen die Briten. Wütend beschimpfte der heißblütige Astronom die Invasoren und wedelte zornig mit seinem Pass der Royal Society – aber er nutzte ihm wenig. Statt die Wichtigkeit der internationalen Zusammenarbeit anzuerkennen, drohte der britische Kapitän damit, die französischen Einwohner zu hängen. Als die Angreifer ein paar Tage später abzogen, hissten sie die britische Fahne, nahmen die Mignonne mit und verbrannten die Oiseau mit dem größten Teil ihrer Vorräte. Pingré war von der Außenwelt abgeschnitten und hatte angesichts der Abgeschiedenheit von Rodriguez wenig Hoffnung auf Befreiung. Auf der Insel waren die Häuser »verwüstet«, Geflügel, Ziegen und Rinder gestohlen und geschlachtet, die Obst- und Gemüsegärten geplündert worden. Den achtzig Einwohnern wurden knapp 300 Kilogramm Reis und Mehl gelassen, und sie waren, wie Pingré widerholt beklagte, auf das »widerliche Getränk Wasser« angewiesen.
Mitte Juli liefen zwei weitere britische Schiffe Rodriguez an. Dieses Mal wurde Pingré mit mehr »Höflichkeit und Menschlichkeit« behandelt, aber auch diese Kapitäne weigerten sich, ihn zu befreien. Sie erklärten sich allerdings einverstanden, die Ergebnisse seiner Transit-Beobachtungen nach Mauritius zu bringen, von wo aus die Berichte nach Paris und an die Royal Society in London geschickt werden konnten. Egal, wie erbost Pingré über die schlechte Behandlung auch war, als Wissenschaftler glaubte er unbeirrt an den internationalen Charakter des Projekts. Aber er saß weiterhin auf Rodriguez fest, hungrig und voller Sehnsucht nach einem anständigen Getränk. Ende August war der Reis verbraucht, die Moral war schlecht, und die verbliebenen Insulaner begannen kleinliche Streitereien auszutragen. Ref 104
Derweil war Le Gentil auf Mauritius eingetroffen, wo sein alter Elan langsam zurückkehrte. Schließlich hatte er trotz allem Glück: Die Venus würde in acht Jahren wieder erscheinen. Unter keinen Umständen würde er den nächsten Transit verpassen. Der war zu seinem wichtigsten Daseinszweck geworden. Da er in Paris nicht von Frau und Kindern erwartet wurde, gab es keinen dringenden Grund für eine Heimkehr. Die Astronomie beherrschte sein Leben, und die Astronomie wurde während des Transit-Jahrzehnts von der Venus beherrscht. Die Venus, der hellste Stern am Himmel, der Planet, der seinen Namen von der Göttin der Liebe hatte, war Le Gentils inspirierende Kraft. Egal, wie schön und hell die Venus normalerweise auch am Nachthimmel stand, Le Gentil wollte sie nur als kleinen schwarzen Fleck sehen, der über die Sonne wanderte. Seine Leidenschaft für sie erklärte sich aus den wissenschaftlichen Möglichkeiten: der Hoffnung, sie könnte den Schlüssel zur Größenbestimmung des Universums liefern. Tatsächlich war der hartnäckige Astronom so entschlossen, dass er einfach beschloss, in der Region zu bleiben, statt in seine französische Heimat zurückzusegeln. Er würde auf die Venus warten – auch wenn es acht lange Jahre dauerte.
Le Gentil brauchte nur einen guten Grund, um die Académie in Paris dazu zu bewegen, seine Auslagen und sein Gehalt weiter zu bezahlen. Rasch entwickelte er einen Plan. Auf seiner Reise nach Indien hatte er bemerkt, wie ungenau die Seekarten der Region waren. Die exakte geografische Position in diesen Meeresgewässern zu bestimmen, sei entscheidend für Navigation und Handel, schrieb er nach Hause, wobei er betonte, es werde einen Zeitraum von »etlichen Jahren« erfordern, die Aufgabe abzuschließen – privat notierte er, das »entschädige« ihn für seine Enttäuschung über die Transit-Beobachtung und könnte ihm ermöglichen, »den Durchgang der Venus 1769 zu erwarten«. Ref 105
Ungeduldig wie immer, wartete er nicht auf eine Antwort. Am 6. September 1761 teilte er seinen Vorgesetzten in Paris mit, er werde nach Madagaskar reisen, wo er Beobachtungen vorzunehmen beabsichtige, die »denkbar nützlich für Geografie, Navigation und Naturkunde« sein würden. Er berichtete auch von seinen und Pingrés Transit-Beobachtungen, die der britische Kapitän, der von Rodriguez kam, wie versprochen weitergegeben hatte. Le Gentil versicherte, er habe »die am wenigsten schlechte Beobachtung gemacht, die von einem Schiff auf See möglich ist«, und fügte – nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude – hinzu, dass Pingrés Beobachtungen alles andere als erfolgreich waren. »Ihm fehlt mehr als die Hälfte«, teilte Le Gentil der Académie mit, denn Pingré habe die Eintrittszeit der Venus nicht gemessen.
Die meisten Astronomen, die sich an ferne Orte gewagt hatten, übermittelten ihre Ergebnisse rasch nach Hause, aber keiner schien es mit der Heimreise eilig zu haben (mit Ausnahme von Pingré, der unfreiwillig blieb). Anders Planman zum Beispiel widerstrebte es, zu seinem Dozentendasein in Uppsala zurückzukehren. Stattdessen begab er sich nach Oulu, rund 200 Kilometer westlich von Kajaani an der Nordostküste des Bottnischen Meerbusens. Hier beabsichtige er, so schrieb er an Wargentin, ungefähr einen Monat lang »eine Wasserkur zu machen«. Es würde die Akademie nicht mehr kosten, als wenn er in Kajaani bliebe, versicherte er Wargentin, in Wahrheit aber hatten ihn die Reise nach Norden und die Belastung der Transit-Beobachtungen erschöpft. »Ich bin müde vom Tanzen auf der Venushochzeit«, erklärte er einem Freund in Uppsala. Um Wargentin die Idee schmackhaft zu machen, versprach Planman diesem, er werde bei seinem Aufenthalt in Oulu den genauen Längengrad der Stadt bestimmen. Ref 106
Nevil Maskelyne begann auf Sankt Helena mit Gravitationsexperimenten, während Charles Mason und Jeremiah Dixon ihre Beobachtungen am Kap der Guten Hoffnung fortsetzten und immer wieder am Himmel überprüften, ob ihre Längenberechnungen genau waren. Ende September 1761, fast vier Monate nach dem Transit, hatten Mason und Dixon die Arbeit am Kap der Guten Hoffnung beendet und packten ihre Instrumente ein. Irgendwann zwischen ihrer Ankunft im April und ihrer Abreise am 3. Oktober hatten sie beschlossen, über Sankt Helena nach Großbritannien zurückzukehren. Als sie zwei Wochen später Sankt Helena betraten, trafen sie Maskelyne und änderten ihre Pläne abermals. Ohne weitere Umstände segelte Dixon mit Maskelynes Uhr im Gepäck zurück ans Kap, um dort die Schwerkrafttests zu Vergleichszwecken zu wiederholen29, während Maskelyne und Mason auf Sankt Helena blieben. Zum Jahresende war Dixon zurück – mittlerweile bereisten die Astronomen die Weltmeere so mühelos, als führen sie eine kurze Strecke in einer Kutsche durch London.
Daheim in den wissenschaftlichen Gesellschaften Europas begannen die Forscher die Ergebnisse der Beobachtungen zusammenzustellen. Während die ausführlichen Briefe und langen Tabellen mit Rechnungen rund um den Globus reisten, warteten die Astronomen voller Spannung. Obwohl weniger spektakulär als die Expeditionen selbst, bezeugt die anschließende Analyse der riesigen Datenmenge, mit welch außerordentlicher Hingabe die Astronomen zu Werke gingen. Sie betrachteten die Sterne durch das Prisma des aufgeklärten Denkens, indem sie wie viele andere versuchten, die natürliche Welt nach rationalen Prinzipien zu ordnen. Ref 107
Nur wenige Tage nach dem Transit wurden die ersten Berichte in der Royal Society in London, in der Académie des Sciences in Paris und in der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg verlesen. Binnen weniger Wochen war eine ungewöhnliche Zahl von Briefen in dem fein gesponnenen europäischen Informationsnetz ausgetauscht worden. Jeder, der solche Nachrichten bekam, kopierte sie und schickte sie an seine Korrespondenten weiter, die dann ihrerseits die eigenen Kontaktpersonen damit versorgten – eher kreis- und schleifenförmig als geradlinig, aber trotzdem effektiv. Überall in Europa saßen sie – Astronomen, aber auch Diplomaten, Kaufleute und Hobbyforscher – an ihren Schreibpulten und kopierten die Beobachtungen und Zeiten – immer und immer wieder. Sie falteten ihre Briefe zusammen, versiegelten sie und gaben sie Freunden mit oder verschickten sie per Kutsche oder Schiff. Es war, als würde sich eine Wissenslawine durch Europa wälzen.
Anfang Herbst waren die meisten europäischen Beobachtungen so oft ausgetauscht worden, dass jeder, der interessiert war, wusste, was die Astronomen in Lappland, Sankt Petersburg, Schweden, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und im Rest Europas gesehen hatten. Bereits eine Woche nach dem Transit veröffentlichten ein deutscher Hobbyastronom und ein dominikanischer Mönch die ersten Ergebnisse, rasch gefolgt von Astronomen in Turin und Padua sowie von Michail Lomonossow, der im Juli 200 Exemplare seiner Analyse auf Russisch und 100 auf Deutsch drucken ließ. Viele Beobachtungen wurden in den Zeitschriften wissenschaftlicher Gesellschaften wie den Philosophical Transactions der Royal Society, den Novi Commentarii der russischen Akademie, der Kungl. Vetenskapsakademiens handlingar der schwedischen Akademie und den Mémoires der Pariser Académie abgedruckt. Auch Zeitungen in aller Welt berichteten über die Ergebnisse – sogar die Bostoner Presse brachte im September Artikel über die Beobachtungen in Neufundland, London und Pondichéry. Ref 108
Nur die Ergebnisse der Expeditionen in fernere Weltgegenden mussten erst noch eintreffen. Erwartungsgemäß dauerte es viele Monate, bis die wissenschaftlichen Gesellschaften diese Briefe erhielten. Beispielsweise schickte Maskelyne seine Ergebnisse in der Obhut seines Assistenten am 29. Juni von Sankt Helena ab, aber die brauchten bis November, um die Royal Society zu erreichen. Pingré schrieb im Juli, als er noch auf Rodriguez war, einen Brief an die Royal Society; doch als das Schreiben Ende April 1762 den Fellows in London vorgelesen wurde, war Pingré noch immer nicht nach Frankreich zurückgekehrt. Pingré musste fast drei Monate warten, bis ihn ein französisches Schiff befreite, und so kam er erst Ende Mai nach Paris.
Noch länger musste man in der Royal Society warten, bis man von Mason und Dixon hörte. Erst im April 1762, als die beiden Astronomen nach London zurückkehrten, erfuhren die Fellows die Beobachtungsergebnisse vom Kap der Guten Hoffnung – wobei sich auch zeigte, dass die besten Daten aus der südlichen Hemisphäre von dem ungehorsamen Paar stammten. Nachdem der Ruf von Mason und Dixon wiederhergestellt war, wurden sie bald darauf von der Royal Society den Eigentümern von Maryland und Pennsylvania empfohlen30, um einen langwierigen Grenzstreit zwischen den beiden Staaten und den Nachbarn Delaware und Virginia zu schlichten. Ab 1763 verbrachten Mason und Dixon fünf Jahre in den nordamerikanischen Kolonien, wo sie den Grenzverlauf vermaßen und kartierten, der später als »Mason-Dixon-Linie« bekannt wurde – und viele Jahre später die kulturelle Trennungslinie zwischen dem Norden und dem Süden bildete (sowie zwischen der Union und der Konföderation während des Amerikanischen Bürgerkriegs). Ref 109
Auch Chappes Ergebnisse brauchten mehrere Monate, um von Tobolsk nach Paris zu gelangen. Der französische Astronom hatte unmittelbar nach seiner erfolgreichen Transit-Beobachtung einen Zusammenbruch erlitten. Die körperlichen Strapazen seiner Winterreise und die seelischen Turbulenzen am Tag des Transits forderten ihren Tribut. In den folgenden Tagen hatte Chappe Blut erbrochen und eine »überwältigende Schwäche« verspürt. Schwach und erschöpft, hatte er danach kämpfen müssen, um die Heimreise durch Sümpfe und durch Gebiete, die von russischen Rebellen unsicher gemacht wurden, zu überleben. Der französische Konsul in Russland schrieb an die Académie in Paris, Chappe habe es geschafft, und er sei wohlauf, wenn auch »außerordentlich erschöpft, was ihn daran hindert, selbst zu schreiben«. Enttäuschenderweise wurden in dem Brief die Transit-Beobachtungen nicht erwähnt. Wie nicht anders zu erwarten, erhielt die russische Akademie die Resultate aus Tobolsk zuerst. Die Académie in Paris musste fast ein Jahr warten, um Chappes Druckschrift über den Transit zu bekommen, die in Sankt Petersburg veröffentlicht worden war und alle erforderlichen Informationen enthielt. Ref 110
Als das Material gesammelt war, begannen die Astronomen mit ihren Berechnungen. Als sie über den vielen verschiedenen Beschreibungen und Zeitmessungen brüteten, wurde ihnen rasch klar, dass die Beobachtungen nicht so erfolgreich waren, wie sie gehofft hatten. Die Berichte waren gespickt mit Kommentaren wie »zweifelhaft«, »ungewiss«, »nicht sicher« und »nicht genau«. Sobald die Resultate verglichen waren, zeigte sich, dass die Schwierigkeiten der Beobachter sich ähnelten. Das Problem war, dass die Venus sich nicht rasch über den Rand auf die Sonnenscheibe bewegt, sondern stattdessen eine Minute innegehalten hatte, scheinbar am Rande klebend, unwillig, ihren Weg zu beginnen. In diesem Augenblick hatten beispielsweise die Beobachter im Haus des Gouverneurs in Madras gemeint, die Venus ähnele eher einer »Birne« als einem vollkommen runden Punkt. Die Astronomen im Observatorium von Uppsala hatten die Venus in »Gestalt eines Wassertropfens« und in der einer »Degenspitze« gesehen. In Sankt Helena schilderte Maskelyne die Venus als »abwechselnd ausgedehnt… zusammengezogen«, und ein britischer Beobachter schrieb an die Royal Society, der Planet habe scheinbar »an der Sonne geklebt«. Das »Tropfenphänomen« (black drop effect)31, wie es später genannt wurde, machte es Beobachtern unmöglich, für Eintritt und Austritt einen genauen Zeitpunkt zu bestimmen.
Erwartet hatten die Astronomen, dass die Venus sich deutlich sichtbar und rasch von der Sonne trennen würde. Sie hatten angenommen, wie ein deutscher Astronom erklärte, der Planet werde »mit der Geschwindigkeit eines Blickes« in die Sonne eintreten und sie wieder verlassen. Tatsächlich aber wurden die Messungen durch das unerwartete Verhalten der Venus unzuverlässig – sogar Wissenschaftler, die das Ereignis Seite an Seite verfolgt hatten, gelangten in ihren Tabellen zu unterschiedlichen Angaben über Eintritts- und Austrittszeiten. In Uppsala beispielsweise betrug der Unterschied zwischen den Zeitmessungen der vier Astronomen zweiundzwanzig Sekunden.
Doch nicht nur das Tropfenphänomen hatte die Beobachtungen behindert. Viele Beobachter hatten auch Mühe gehabt, die genaue Eintritts- und Austrittszeit zu bestimmen, weil der Rand der Sonne zu »zittern« schien. Maskelyne sah die Venus nur kurz, notierte aber, sie sei »außerordentlich undeutlich«, und Wargentin erklärte, er habe sich wegen der »heftigen Wellenbewegungen« hinsichtlich des ersten Kontakts nicht sicher sein können – nur dass zu einer bestimmten Zeit »irgendein Teil der Venus die Sonnenscheibe eingenommen hatte«.
Außerdem war da noch der seltsame helle Ring, der Venus bei ihrem Eintritt und Austritt umgab und den Lomonossow und viele andere Astronomen registrierten. Ein Deutscher sah die Erscheinung im Observatorium des ehemaligen Klosters Berge bei Magdeburg, genauso wie Beobachter in Lappland, Paris, London und Madras. Daher gelangten etliche Astronomen wie Lomonossow zu dem Schluss, die Venus müsse eine ähnliche Atmosphäre haben wie die Erde. Ref 111
Nichts am Transit schien klar und einfach zu sein. Planman war über seine eigenen Beobachtungen so verärgert, dass er sie immer wieder durchging. Bereits eine Woche nach dem Transit meinte er zu Wargentin, mit seinen Zeiten müsse etwas falsch sein. Da Planman in der Einsamkeit von Oulu kaum etwas anderes zu tun hatte, konnte er die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Drei Wochen später schrieb er Wargentin, entweder habe sein Teleskop versagt, oder die Zeit des äußeren Austritts der Venus sei falsch aufgeschrieben worden. Als Wargentin ihm die anderen schwedischen Beobachtungsdaten schickte, verglich Planman und rechnete hin und her, bis er endlich zu dem Schluss kam, es gebe einen Unterschied von »einer ganzen Minute«. Allerdings wollte Planman unter keinen Umständen akzeptieren, dass es sein eigener Fehler war. Stattdessen »argwöhnte« er, der Fehler liege bei seinem Assistenten, der die Minuten und Sekunden gezählt hatte. Als sich Planman seine Tabellen noch einmal vornahm und die Zeit veränderte, machte sich Wargentin Sorgen, was die ausländischen Kollegen von den variablen schwedischen Daten halten mochten. Ref 112
Aber Planman war nicht der Einzige, der die Zahlen frisierte. Ein Kollege in Uppsala bemühte sich, seine Messung des Venus-Durchmessers mit den Ergebnissen anderer Astronomen in Einklang zu bringen. Um sie passend zu machen, erhöhte er einfach seine Zahlen und die Wargentins. In Russland beichtete der Beobachter, der nach Irkutsk gegangen war, dass er sich »bei der Aufzeichnung der Zeit geirrt« hatte, und veränderte anschließend die Ergebnisse. Pingré berichtigte seine Daten so häufig, dass die Astronomen in Großbritannien verwirrt waren. Zunächst hatte er von Rodriguez aus an die Royal Society geschrieben, diese Zeiten dann auf seiner Rückreise in einem Brief aus Lissabon berichtigt und noch einmal in einem Schreiben aus Paris, als er feststellte, dass seine Zeiten noch immer falsch waren – wobei er zuletzt »die Langsamkeit der Uhren« verantwortlich machte.
Ein anderes Problem war die Verwirrung in Bezug auf die genauen geografischen Positionen der verschiedenen Beobachtungsstationen. Einige Forscher hatten Greenwich als Nullmeridian zur Berechnung ihrer Länge gewählt, andere Paris. Das hatte »absurde Konsequenzen«, wie ein britischer Astronom sagte, weil die exakte Längendifferenz der beiden noch immer nicht ermittelt worden war. Zusammen mit der Ungenauigkeit der Eintritts- und Austrittszeit der Venus folgte daraus, dass ein größerer Teil der für die Berechnungen wichtigen Daten mangelhaft war. Ref 113
Es war auch nicht hilfreich, dass die Astronomen und wissenschaftlichen Gesellschaften, die bei der Organisation der TransitBeobachtungen und beim Austausch ihrer Ergebnisse so eng zusammengearbeitet hatten, eine sehr viel patriotischere Haltung an den Tag legten, als es um die Berechnungen ging – jedes Land wetteiferte, die Sonnenparallaxe und die Entfernung zwischen Erde und Sonne als Erstes zu ermitteln.
Delisle, der die bewegende Kraft hinter den globalen Bemühungen gewesen war, beteiligte sich nicht sonderlich an den Berechnungen. Nach dem Transit zog er sich langsam aus dem astronomischen Netzwerk zurück, das so lange das Zentrum seines Lebens gewesen war. Fast achtzig, gebrechlich und beinahe blind, hatte Delisle getan, was er konnte. Da er keine eigenen Kinder hatte, waren nun seine früheren Studenten Le Gentil und Jérôme Lalande sein Stolz und seine Freude. Sie waren seine wahren »Erben«. Weil sich Le Gentil auf der anderen Seite der Erde befand, übernahm Lalande die Verantwortung für die Zusammenstellung der Daten in Frankreich. Lalande hatte den Transit in Paris beobachtet und nur wegen seiner Seekrankheit an keiner Expedition teilgenommen, aber er genoss öffentliche Anerkennung und bekannte, dass er eine »Elefantenhaut für Beleidigungen und ein Schwamm für Lob« sei. Um Aufmerksamkeit zu erregen, schien er Kontroversen regelrecht zu suchen. Einige Jahre später löste er beispielsweise eine Panik in Paris aus, als er einen Artikel veröffentlichte, in dem er die unmittelbar bevorstehende Zerstörung der Erde durch einen Zusammenstoß mit einem Kometen vorhersagte – wobei er stillschweigend unterschlug, dass das Ereignis nach seinen Berechnungen höchst unwahrscheinlich war. Ref 114
Lalande war so versessen darauf, als Erster einen Wert zu präsentieren, dass er seine Berechnungen zunächst nur auf Chappes Beobachtungen in Tobolsk und die in Schweden stützte. Lalande teilte der Royal Society mit, dass nach seinen Berechnungen die Sonnenparallaxe fast 10”¼ betrage, korrigierte den Wert aber zwei Monate später, als er Pingrés Beobachtungsdaten erhielt, auf 9”½.Damit wies diese Neuberechnung in heutigen Maßeinheiten eine Differenz von rund zehn Millionen Kilometern auf.
Sobald Pingré im Frühjahr 1762 nach Paris zurückgekehrt war, sichtete er die zusammengetragenen Daten und begann eigene Berechnungen – sein Ergebnis erhöhte die Parallaxe wieder auf 10”6, während der britische Instrumentenbauer James Short, der den Transit in London beobachtet hatte, zu dem Schluss gelangte, der Wert betrage nur 8”69. In Schweden wurde Wargentin, tüchtig wie immer, zur Schaltzentrale für die internationalen Daten, aber es war Planman, der – obsessiv fixiert auf die Parallaxeberechnungen – sein nächstes Lebensjahrzehnt der Bestimmung des so schwer fassbaren Winkels widmete. Er schlug zunächst vor, dass die Parallaxe zwischen 8” und 8 ”5 liege, und entschied sich dann für 8”2, setzte aber seine Berechnungen trotzdem fort. Je mehr Planman seine Ergebnisse veränderte und neu berechnete, desto weniger wusste Wargentin, wer recht hatte und wer unrecht. Pingré, schrieb Wargentin an Planman, sei ein »guter Rechner« und wenn er unrecht habe, würde das auch für viele andere gelten, »daher weiß ich gar nicht mehr, was ich glauben soll«. Lalande war tief enttäuscht. Doch so oft die Astronomen ihre Rechnungen auch wiederholten, die Ausgangsdaten waren einfach zu unterschiedlich: Die Werte für die Sonnenparallaxe variierten so sehr, dass sie um mehr als 30 000 000 Kilometer schwankten, teilte er einem Kollegen in Berlin mit. Ref 115
»Es gab keinen Grund, über ihre treffliche Leistung in Begeisterung zu geraten«, schrieb Lalande einem Forscher in Berlin. Die Ergebnisse waren zu ungenau. »Wir sammeln sämtliche Beobachtungen, die wir aus allen Teilen der Erde bekommen können«, schrieb ein britischer Beobachter an einen Kollegen am Observatorium von Uppsala, »aber ich fürchte, es gibt nicht viel Aussicht, das Problem zu lösen«. Die Ergebnisse ließen keine genauen Berechnungen zu. »Beim Vergleich aller dieser Beobachtungen«, schrieb Wargentin an die Royal Society, »werden Sie feststellen, dass sie nicht so weitgehend übereinstimmen, wie erhofft.«
Eines aber war sicher: Die Parallaxe war unzweifelhaft kleiner, als man zuvor angenommen hatte. Jeremiah Horrocks, der einzige Astronom, der den Transit von 1639 beobachtet hatte, meinte, sie liege bei 15”, was einer Entfernung von 87 200 000 Kilometern entsprochen hätte. Nach dem Transit von 1761 waren die Resultate mit Werten zwischen 8”28 und 10”6 sehr viel näher an der heute akzeptierten Zahl von 8”79. Nach den Beobachtungen von 1761 lag die Entfernung der Sonne von der Erde also zwischen 124 050 000 und 158 800 000 Kilometern – nicht sehr genau, aber doch im Bereich des heute gültigen Werts von knapp unter 150 000 000 Kilometern. Ref 116
Die Auseinandersetzungen über die Berechnungen wurden hitziger. Wieder gerieten sich die Russen in die Haare. Stepan Rumowskij, der in Selenginsk32 die östlichsten Beobachtungen vorgenommen hatte, bestritt die Resultate und Parallaxenberechnungen seines Kollegen Nikita Popow, der nach Irkutsk gereist war. Mehrere Wochen hindurch nutzten die beiden Astronomen jede Akademiesitzung als Forum, um ihrem Groll Luft zu machen, wobei ihre Argumente wie Pingpongbälle hin- und herflogen. Rumowskij schlug vor, ihre Daten dem »Urteil« von Kollegen in Berlin, Leipzig und Stockholm zu unterbreiten. Popow, der eine längere Streiterei und Demütigung auf der europäischen Bühne scheute, versprach, seine Ergebnisse stattdessen noch einmal nachzurechnen, doch Rumowskij warf ihm vor, »Zuflucht im Aufschub« zu suchen. In der Zwischenzeit machte Rumowskij weiter und schickte Popows Aufsatz seinen Freunden in Europa. Nach zwei Monaten dieser öffentlichen Auseinandersetzung hatten die Kollegen der beiden genug und drängten auf ein Ende des »nutzlosen und schädlichen Gezänks«. Obwohl die streitsüchtigen Astronomen sich wieder beruhigten, verursachte Rumowskij neuen Ärger, indem er einen Brief aus Schweden vorlegte, in dem Wargentin erklärte, Popows Irkutsker Beobachtungen »scheinen fast ohne Nutzen zu sein«. Drei Wochen später gab Popow auf und räumte ein, er und sein Assistent hätten die Zeit des inneren Eintritts falsch gemessen – und sich um zwei Minuten geirrt.
Andere Konflikte hatten eine nationalistischere Tonlage. So fragten sich die Russen, ob sie die Ergebnisse des Petersburger Observatoriums überhaupt veröffentlichen sollten, weil die »Echtheit dieser Beobachtungen von französischen Astronomen angezweifelt wurde«. James Short in London schrieb einen 46-seitigen Artikel in den Philosophical Transactions, in dem er Pingrés Berechnung bestritt und behauptete, der französische Astronom habe »einen Fehler von einer Minute« bei der Zeitmessung des inneren Venus-Austritts gemacht. Es seien Minuten, Sekunden und Längengrade hinzugezählt und abgezogen worden, um die Berechnungen passend zu gestalten. Im Gegenzug warf Pingré Short vor, Ergebnisse zu verwenden, die »unsicher und sogar verändert« seien. In ihrem Streit ging es um den Vergleich zwischen den beiden einzigen gültigen Beobachtungen, die in der südlichen Hemisphäre vorgenommen worden waren (Maskelynes fehlgeschlagene Beobachtung wurde ausgeklammert): der französischen auf Rodriguez und der britischen am Kap der Guten Hoffnung. Pingré glaubte, Mason und Dixon hätten ihre Länge ungenau bestimmt, während Short behauptete, der französische Astronom habe den Fehler gemacht.33 Ref 117
Pingré lehnte viele Beobachtungen, die Short berücksichtigt hatte, als unzuverlässig ab, einschließlich derjenigen des dominikanischen Forschers Giovanni Battista Audiffredi, der den Transit in Rom beobachtet hatte. Gekränkt veröffentlichte Audiffredi seinerseits eine Druckschrift und schrieb dem Sekretär der Académie in Paris, um seine Ehre und seine Beobachtungen zu verteidigen, wobei er erklärte, er werde nicht an »Astronomendisputen« teilnehmen. Bei einem Vergleich der Beobachtungen auf Rodriguez mit denen am Kap gelangte er zu dem Schluss, dass Pingrés Daten nutzlos seien. Er selbst nannte einen Parallaxenwert von 9”26 – wieder eine neue Zahl.
»Diese Erwägungen lassen mich, so möchte ich sagen, fast an dem Erfolg verzweifeln, nach dem wir streben und auf den wir hoffen«, schrieb ein britischer Astronom einem Kollegen in Uppsala. Egal, worüber sie stritten, einig waren sie sich alle darin, dass »eine endgültige Entscheidung«, wie Pingré erklärte, »wahrscheinlich nicht vor dem Transit von 1769 fällt«. Maskelyne hatte diese Probleme bereits in den Tagen nach seiner fehlgeschlagenen Transit-Beobachtung prophezeit. »Wir müssen auf die günstigeren Umstände des Venus-Transits von 1769 warten, um die Parallaxe der Sonne genau zu bestimmen«, hatte er von Sankt Helena an die Royal Society geschrieben.
Sie hatten acht Jahre für die Vorbereitung. Ref 118