Kapitel sechs

Transit-Tag, 6. Juni 1761

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Als die Erde sich drehte und ein Beobachtungsort nach dem anderen aus dem Schatten der Nacht ins Tageslicht rückte, richteten fast 250 Astronomen ihre Teleskope zum Himmel. Das Licht der nördlichen Sommernächte erlaubte den Forschern in Skandinavien bis hoch nach Lappland, die vollständige Wanderung der Venus über die Sonne zu verfolgen (die nach 3 Uhr morgens begann), doch die Beobachter in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und in den Niederlanden mussten sich mit dem Austritt zufriedengeben, weil die ersten Stunden des Transits in der Dunkelheit lagen. Von Tobolsk aus sah man den Beginn des Transits kurz vor 7 Uhr morgens, von der indischen Ostküste aus um 7.30 Uhr und von Jakarta aus kurz nach 9 Uhr. In Südamerika vollzog sich der gesamte Transit während der Dunkelheit, genauso wie in den nordamerikanischen Kolonien von Georgia bis Massachusetts. Ref 82

Als der Tag des Transits kam, dürfte Delisle stolz gewesen sein, dass man weltweit auf seinen Aufruf reagiert hatte, auch wenn sein nachlassendes Augenlicht ihn selbst daran hinderte, genaue Beobachtungen vorzunehmen. Er hatte das Projekt von seinem kleinen Observatorium in Paris aus in Gang gesetzt. Er hatte Edmond Halleys Herausforderung angenommen, Forscher in ganz Europa überredet, seinem Vorschlag zu folgen, und hatte sich damit als wahrhaft inspirierender Führer erwiesen. In den letzten Jahren hatte er gerechnet, gezeichnet, überzeugt und korrespondiert, wobei er jede seiner vielfältigen Beziehungen in der wissenschaftlichen Welt genutzt hatte, um diesen Augenblick zu ermöglichen. Jetzt konnte er nur noch warten und beten, dass die aufgebrochenen Astronomen ihre Bestimmungsorte rechtzeitig erreicht hatten.

 

Die Zielsetzungen jeder Expedition waren klar. Die Astronomen in den wissenschaftlichen Gesellschaften von Paris, London und Stockholm brauchten für ihre Berechnungen den genauen Standort jeder Beobachtung und, ganz entscheidend, die exakte Zeit des Venus-Transits. Wenn sich die Astronomen nach Halleys Dauermethode richteten  – also den ganzen Transit maßen  –, mussten sie auf vier spezifische Punkte achten: erstens den Augenblick, da Venus den äußeren Rand der Sonne berührte, den sogenannten äußeren Kontakt oder Eintritt; zweitens den Zeitpunkt, zu dem Venus vollständig in die Sonne eingetreten war, den sogenannten inneren Kontakt oder Eintritt; drittens den Augenblick, wenn der kleine schwarze Fleck sich anschickte, die Sonne wieder zu verlassen, den inneren Austritt; und viertens den äußeren Austritt oder die Austrittszeit, wenn die Venus vollständig verschwand. Bei Delisles Methode brauchten die Beobachter nur die Eintritts-oder die Austrittszeit festzuhalten.

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Abbildung 1: 1. äußerer Kontakt oder Eintritt; 2. innerer Kontakt oder Eintritt ; 3. innerer Austritt; 4. äußerer Austritt oder Austrittszeit.

Doch egal, welche Methode sie verwendeten, keine Beobachtung allein würde von Nutzen sein  – die Wissenschaftler brauchten zumindest ein Beobachtungspaar. Je nach ihren Beobachtungsorten würden die Forscher die Venus am Anfang und am Ende ihrer Wanderung zu etwas unterschiedlichen Zeiten oder mit unterschiedlicher Dauer sehen.

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Abbildung 2: Beobachter B1 sieht die Venus (V1) zuerst in die Sonne eintreten, während Beobachter B2 die Venus (V2) etwas später erblickt.

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Abbildung 3: Venusbahnen, wie sie Beobachter 1761 von der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel sahen.

Beobachter im Süden, wie Pingré auf Rodriguez, sahen den Eintritt der Venus früher und auf einer längeren Bahn näher zum Sonnenzentrum als Beobachter hoch im Norden, wie Anders Planman in Lappland. Je weiter die Beobachter auseinander waren, desto größer der Unterschied zwischen der Eintritts- und der Austrittszeit und zwischen der aufgezeichneten Gesamtdauer.

Die Wissenschaftler hofften, aus diesen Daten die Sonnenparallaxe gewinnen zu können: den Schlüssel zur Größe des Sonnensystems. Eine Parallaxe ist die Differenz oder Verschiebung in der Position eines Objekts, das unter verschiedenen Sichtlinien erfasst wird.23 Die »Sonnenparallaxe« (Winkel α in Abbildung 2) wird gemessen als der Winkel (oder, um genau zu sein, als der halbe Winkel), der von zwei Positionen an gegenüberliegenden Seiten der Erde zur Sonne gezogen wird.24

Es gab verschiedene Methoden, die Parallaxe zu errechnen. Bei der einen nahm man den Unterschied der Eintritts- oder Austrittszeit, der sich aus den Messungen zweier Beobachter ergab (Abbildung 2)  – wobei man die genauen geografischen Positionen und die Unterschiede der Ortszeiten berücksichtigen musste. Für die andere Methode verwendete man den Unterschied der Transitdauer in den Aufzeichnungen zweier Beobachter (Abbildung 3).

Mit Hilfe relativ einfacher Trigonometrie konnten die Astronomen nun die Entfernung zwischen der Erde und der Sonne berechnen.25 Die Lösung des Rätsels, das die Größe des Sonnensystems aufgab, war zum Greifen nahe. Zumindest dachten die Astronomen das.

Le Gentil: An Bord der Le Sylphide, Indischer Ozean, südöstlich von Sri Lanka, unmittelbar südlich des Äquators, Breite: 5° 44’10 S, Länge: 89° 35’ O

An einem blitzblanken Himmel ging die Sonne kurz nach 6 Uhr morgens auf. Das Wetter war ideal. In zwei Stunden würde Venus den äußeren Rand der Sonne küssen und der flammenden Scheibe ihren dunklen Umriss aufdrücken. Le Gentil würde sie als einer der Ersten sehen. Doch statt in Pondichéry festen Boden unter den Füßen zu haben, stand er auf einem schaukelnden Schiff. Auf dem schwankenden Deck konnte er sich weder auf seine Pendeluhr verlassen noch eine genaue geografische Position angeben. Aber als er an all die anderen Astronomen dachte, die ebenfalls auf die Venus warteten, sagte er sich, er wolle nicht »untätig« bleiben und »alles tun, was ich konnte«.

Er wollte versuchen, den Zeitpunkt des Venus-Eintritts und-austritts mit einer Sanduhr zu bestimmen, die dreißig Sekunden lang lief  – nicht der genaueste Zeitmesser, aber besser als nichts.26 Während Le Gentil in den Himmel starrte, musste einer der Matrosen die Uhr immer wieder umdrehen und die Anzahl der vollführten Drehungen festhalten. Ref 83

Während andere Astronomen lange Pfähle mehrere Fuß tief in den Boden gegraben hatten, befestigte Le Gentil sein Teleskop mit einem 1,20 Meter langen Holzbalken an einem der Schiffsmasten. Er wusste nicht, wann die Venus erscheinen würde. Kein Astronom kannte die genaue Eintrittszeit  – und bis zu diesem Zeitpunkt würde die Venus unsichtbar bleiben. Allein das unentwegte Starren Richtung Sonne strengte die Augen schon ungemein an, doch den Augenblick des Eintritts auf einem schlingernden Schiff genau zu bestimmen, war praktisch unmöglich. Am günstigsten schienen Le Gentils Aussichten, wenn er in die gleißende Sonne blickte und darauf wartete, einen ersten Blick auf die Venus zu erhaschen. Doch was immer Le Gentil auch versuchte, es erwies sich als unmöglich, den Blick zu fokussieren. Jedes Mal, wenn sein Schiff auf einer Welle ritt, verlor er die Sonne aus den Augen. Die waren schon ermüdet, bevor die Venus sich gezeigt hatte. In der Annahme, es sei leichter, der Wanderung des Planeten über die Sonne zu folgen, sobald sie erschienen war, beschloss Le Gentil, sich nur auf den Venus-Austritt zu konzentrieren und so Energie und Sehkraft zu sparen. Ref 84

Nach einer Wartezeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, sah Le Gentil endlich die Venus. Wie erwartet, hatte er ihren Eintritt verpasst. Jetzt blieb ihm nichts anderes, als ihren langsamen Weg zu bewundern. Aber wieder trieb der Himmel ein grausames Spiel mit ihm. Im Lauf der nächsten Stunden zogen Wolken auf, und Le Gentil kam zu der Überzeugung, seine Chance, den Austritt zu beobachten, sei dahin. Doch dann klarte der Himmel wieder auf, und um 14 Uhr 27, nach seiner  – etwas unzuverlässigen  – Zeitmessung, konnte er sehen, wie der kleine Planet »den Rand der Sonne« zu berühren schien. In diesem Augenblick rief er dem Matrosen zu, er solle anfangen, die Sanduhr zu wenden  – und als dieser sie achtundzwanzig Mal gedreht hatte, war die Venus »hinausgetreten« und verschwunden. Der Transit war vorüber, aber Le Gentil wusste, dass seine Zeitmessungen nicht verwendet werden konnten  – sie waren, wie er einräumte, »alles andere« als genau. Wissenschaftlich betrachtet, waren seine Beobachtungen nutzlos. Seine Reise war vergeblich.

Chappe d’Auteroche: Tobolsk, Russland

Nach einer unruhigen Nacht war Chappe früh aufgestanden. Den Abend vor dem Transit hatte er als sehr aufwühlend erlebt. Bei Sonnenuntergang war der Himmel klar gewesen, und als das Licht langsam schwand, hatte sich Chappe dem Augenblick mit Pathos hingegeben. Die »absolute Stille des Universums«, schrieb er in sein Tagebuch, habe ihn umfangen und zur »Gelassenheit« seines Gemüts beigetragen. Endlich habe er sich im Einklang mit dem Universum gefühlt  – die Gefahren und Strapazen der vergangenen Monate hatten ihn zu dieser vollkommenen Erfüllung geführt. Doch als er um 10 Uhr abends in den Nachthimmel blickte, begann sich Nebel über den Horizont zu wälzen, während Quellwolken die Sterne verdunkelten  – Vorboten einer dicken schwarzen Wolke, die sich schon bald heranschob. Als der Himmel seine dunklen Vorhänge herabließ und die Sterne verschwanden, war Chappe so beunruhigt, dass er »in einen Zustand der Mutlosigkeit« stürzte. Die Reise sei »vergeblich« gewesen, erklärte er, er habe all den Gefahren »umsonst« getrotzt.

Obwohl es mitten in der Nacht war, weckte er seine Assistenten, die im Observatorium schliefen, und scheuchte sie aus ihren warmen Betten, sodass er in der kleinen Hütte allein sein konnte  – ohne sich darum zu kümmern, wo sie die Nacht verbringen würden. Während er in dem kleinen Raum auf und ab lief, schienen seine Teleskope ihn zu verhöhnen. Das vollgestopfte Observatorium löste bei ihm klaustrophobische Reaktionen aus. Alle paar Minuten ging Chappe nach draußen, um den Himmel ungläubig zu mustern. Von einer »schrecklichen Unruhe« gepackt, blieb er die ganze Nacht auf. Ref 85

Als die Sonne hinter einer Wand aus dunklen Wolken aufging, konnte Chappe nur einen verschwommenen roten Schatten hinter dem Grau erkennen. Doch plötzlich frischte der Wind auf und trieb den düsteren Schleier davon. Mit dem Aufklaren des Himmels heiterte sich auch Chappes Stimmung auf, und er wurde »von einer Art neuem Leben« erfüllt. Die Natur, sagte er, »scheint zu jubilieren«. Seine dunklen Stimmungen und Gedanken hatten sich so rasch verzogen wie die Wolken und wurden durch Freude und Zuversicht ersetzt. Chappe, der nur in Extremen zu denken und zu leben schien, fühlte sich wie ein neuer Mensch.

Kurz darauf erschienen der Gouverneur des Gebiets, seine Familie und der Erzbischof von Tobolsk mit einigen seiner Geistlichen auf dem Berg und »teilten mein Glück«, wie Chappe schrieb. Er hatte ein eigenes Zelt für sie aufgeschlagen, in dem sie eines seiner Teleskope benutzen konnten, und seine Wachen verdoppelt  – Vorsichtsmaßnahmen, um nicht bei seinen eigenen Beobachtungen gestört zu werden. Dem Uhrmacher befahl er, Notizen zu machen und die Uhr im Auge zu behalten, während der Dolmetscher die Minuten und Sekunden zählen musste. Ref 86

Als die Zeit des Transits näher rückte, stand Chappe an seinem Teleskop und blickte »zwischen uns und der Sonne tausend Mal in der Minute« hin und her, sagte er. In seiner Aufregung entging ihm fast, dass sich eine Wolke auf einer Seite der Sonne niedergelassen hatte. Erst als der Wind sie fortwehte, wurde Chappe klar, dass die Venus die Sonne bereits berührt hatte. Unverzagt sagte er sich, er werde sich auf den Augenblick konzentrieren, in dem die Sonne vollkommen eingetreten sei, auf den inneren Kontakt. Während sich der winzige schwarze Kreis langsam vorwärts bewegte, begann der leicht erregbare Chappe zu zittern. »Ich fing am ganzen Körper an zu beben«, erklärte er später, »und war gezwungen, meine Gedanken zu sammeln, um die Venus nicht zu verpassen.« Als die Venus sich von dem inneren Rand der Sonne löste, stieß Chappe einen Ruf aus, damit der Uhrmacher den Zeitpunkt notieren konnte. Während der nächsten Stunden beobachtete er das allmähliche Fortschreiten der Venus und maß schließlich ihre Austrittszeit. Seine lange Reise nach Sibirien hatte sich als lohnend erwiesen. Überzeugt von der Genauigkeit seiner Beobachtungen, war sich Chappe sicher, dass sie »der Nachwelt auch dann noch nützlich sind, wenn ich dieses Leben schon verlassen habe«.

Alexandre-Gui Pingré: Rodriguez, Indischer Ozean

Mitten in der Nacht erwachte Pingré, weil heftiger Regen auf das Dach der kleinen Hütte trommelte, die er jetzt sein Heim nannte. Als er später die Insel verließ, rechnete er aus, dass es während seines Aufenthalts von 104 Tagen an 93 geregnet hatte … ganz und gar nicht das, was die Académie vorhergesagt hatte, als sie ihn entsandte. Ref 87

Es regnete noch immer, als Pingré um 5 Uhr morgens aufstand, trotzdem war er vorbereitet. Seine Instrumente waren gesäubert und in dem Kreis aus großen Steinen aufgebaut. Die beiden Teleskope hatte er mit Seilen und Rollen an stabilen Holzmasten befestigt. Die Uhr war bereit (nach einer Notreparatur des Pendels) und auf die genaue Zeit gestellt. Als die Sonne kurz nach 6 Uhr über den Horizont stieg, starrte er in den Himmel, konnte aber nichts erkennen. Später ließ sich die Sonne kurz sehen  – der schwarze Punkt war bereits vorhanden. Die Venus musste kurz vor Sonnenaufgang eingetreten sein. Pingré hatte offenbar den Beginn des Transits verpasst. Doch während der nächsten zwei Stunden sah der Astronom die Venus gelegentlich durch kleine Öffnungen in der dicken Wolkendecke. Gegen 8 Uhr 30 klarte der Himmel ein wenig auf, und Pingré, sein Assistent sowie der Kapitän und der Leutnant des Schiffs, das sie auf die Insel gebracht hatte, begannen den Abstand zwischen der Venus und dem inneren Rand der Sonne zu messen  – obwohl den Ergebnissen, wie er sagte, »nicht mehr als auf eine Sekunde genau zu vertrauen ist«. Nicht nur, dass Pingré kurzsichtig war, er hatte auch Schwierigkeiten, sein Teleskop genau auszurichten, weil der kräftige Wind »meine Instrumente in Unordnung brachte«. Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Zäh kroch die Zeit dahin. Dann, als er sich gerade vorbereitete, den Austritt des kleinen Planeten zu beobachten, schob sich eine Wolke vor die Sonne. Um 12 Uhr 53 Minuten und 18 Sekunden glaubte Pingré eine »undeutliche« Form durch die Wolken zu erkennen, die die austretende Venus gewesen sein mochte, aber er konnte sich nicht sicher sein. Etwas über eine Minute später, um 12 Uhr 54 Minuten und 21 Sekunden, notierte er, dass der Transit »mit Sicherheit zu Ende« sei. Wie er später der Royal Society gestand, hatte er seine Beobachtungen »wegen der Wolken hastig« vorgenommen. Doch statt zu verzweifeln, feierten er und seine Mitbeobachter in dieser Nacht und tranken auf »die Astronomen aller Länder, die heute Abend die Venus beobachtet haben«.

In Verbindung mit Beobachtungen in der nördlichen Hemisphäre mochten die Daten gerade gut genug sein, um den Schlüssel zur Entfernung zwischen Sonne und Erde zu liefern  – so hoffte zumindest ein optimistischer Pingré. Ref 88

Michail Lomonossow: Lomonossows Haus, Sankt Petersburg, Russland

Michail Lomonossows Streit mit Franz Aepinus hatte ein dramatisches Finale erreicht. Am 3. Juni, drei Tage vor dem Transit, hatte der Rat der Akademie der Wissenschaft den deutschen Wissenschaftler angewiesen, die Schlüssel des Observatoriums an Lomonossows Schützlinge zu übergeben. Empört über diese Entscheidung, war Aepinus beleidigt gegangen und hatte erklärt, er werde sich nicht die Mühe machen, die Venus zu beobachten. So waren Lomonossows Schützlinge im Observatorium der Akademie, während sich Lomonossow selbst für die Transit-Beobachtungen in sein Haus zurückgezogen hatte.

Das war der Höhepunkt der Auseinandersetzung, die im Winter zuvor begonnen hatte. Im Mai, lange nach Chappes Abreise aus Sankt Petersburg, hatte Lomonossow mit Nachdruck gefordert, dass am Tag des Transits russische Wissenschaftler bei Aepinus im Observatorium sein müssten. Der Deutsche, der sich über Lomonossows ständige Einmischung ärgerte, weigerte sich hartnäckig und schrieb einen langen Beschwerdebrief an den Rat der Akademie, in dem er mit ziemlich fadenscheinigen Argumenten begründete, warum er allein für die Beobachtungen verantwortlich sein müsse. Lomonossows Beobachter, so Aepinius, besäßen »keine Kenntnisse auf dem Gebiet der Beobachtungen«. Sie könnten auch nicht Latein, Deutsch, Englisch, Französisch oder Schwedisch lesen und seien deshalb vom internationalen Informationsaustausch über den Transit vollkommen ausgeschlossen. Ohne diese Sprachkenntnisse seien Lomonossows Schützlinge außerstande, die Erörterungen zu verstehen, in denen es darum gehe, wie Venus zu beobachten, wann ihre Bahn zeitlich zu bestimmen, wie die Rechnungen vorzunehmen und wann welches Instrument zu verwenden sei. Obendrein behauptete er auch noch, sie würden zu viel Lärm machen. Das Observatorium sei klein, und sie würden ihn stören, sodass er das Ticken seiner Uhr nicht hören könnte (das war wichtig, um die Sekunden während der Eintritts- und Austrittszeit zu zählen). Ref 89

Wie nicht anders zu erwarten, ging Lomonossow rasch zum Gegenangriff über, indem er seine Bedenken in einem langen Brief darlegte: Er entkräftete Punkt für Punkt Aepinus’ Argumente und stellte seinen deutschen Kollegen gleichzeitig als unfähig hin. In jedem Observatorium würden, so Lomonossow, etliche Mitbeobachter zur Teilnahme an wichtigen Ereignissen eingeladen, und seine Schützlinge seien bestens in der Lage, den Transit zu beobachten. Sie hätten schon die Sterne betrachtet, als Aepinus noch seinen »Katechismus in der Schule« gelesen habe. Dass Aepinus behaupte, er sei nicht in der Lage, die Uhr zu hören, sei nur ein weiterer Beweis für seine mangelnden Fertigkeiten  – gute Astronomen könnten »Sekunden zählen, ohne dass sie eine Uhr brauchen«.27 Die ganze Affäre sei »einfach Wahnsinn«. Wahnsinn war sie gewiss, weil sie dazu führte, dass Aepinus, einer der besten Astronomen in Sankt Petersburg, entschied, es sei wichtiger, seinen verletzten Stolz zu pflegen als den seltenen Auftritt der Venus zu beobachten. Ref 90

Lomonossow dagegen wollte diesen Auftritt nicht verpassen. Früh war er aufgewacht und hatte sich an sein Teleskop gesetzt, völlig auf die gleißende Sonne fixiert. Doch nichts war zu sehen. Als seine Augen allmählich ermüdeten, begann er, sich zu sorgen. Nachdem er vierzig Minuten in die Sonne gestarrt hatte, erblickte er etwas Seltsames: Der deutlich abgegrenzte Rand der Scheibe begann zu verschwimmen und »schien gestört zu sein«  – und zwar an jenem Punkt, an dem die Venus seiner Meinung nach eintreten musste. Rasch wandte Lomonossow sich vom Teleskop ab, um seinem »ermüdeten Auge« Ruhe zu gönnen, und als er wieder hinblickte, sah er den schwarzen Fleck. Die Venus drang ein. Stundenlang beobachtete Lomonossow dann, wie sie die Vorderseite der Sonne überquerte, wobei er seinen Augen von Zeit zu Zeit eine Ruhepause ließ, um auf den Austritt vorbereitet zu sein. Wieder entsprach der Anblick nicht im Geringsten dem, was er und die anderen Astronomen erwartet hatten. Als sich die Venus auf den Austritt vorbereitete, tauchte am inneren Rand der Sonne »eine kleine Pustel« auf, wuchs dem Planeten entgegen und berührte ihn schließlich. Als sich die Venus schließlich zum Austritt anschickte, wurde der Sonnenrand erneut »gestört«. Obwohl Lomonossow die Zeitbestimmung von Ein- und Austritt seinen Schützlingen in der Sternwarte überlassen hatte, war er sich sicher, eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht zu haben: Er glaubte, die Venus habe eine Atmosphäre wie die Erde. Die seltsame Unschärfe des Sonnenrands sei, so notierte er, von der Atmosphäre der Venus hervorgerufen worden. Die schwarze »Pustel« oder Ausbuchtung sei ein weiterer Beweis, weil sie aus der »Brechung der Sonnenstrahlen in der Venusatmosphäre« resultiere. Das könne sogar bedeuten, dass es auf dem Planeten Leben gebe.28

Anders Planman: Kajaani, Finnland

Planman wartete in dem kleinen Observatorium, das er in Kajaani erbaut hatte. Die Sonne war um 2 Uhr nachts aufgegangen, und er rechnete damit, dass er die Venus gegen 4 Uhr sehen würde. Die Instrumente waren in Stellung gebracht, sein Assistent hatte die Aufgabe, die Minuten und Sekunden zu zählen, und Planman hatte dem örtlichen Geistlichen beigebracht, eines der Teleskope zu bedienen. Mit seiner üblichen Sorgfalt und Detailversessenheit hatte Planman sich auf alle Eventualitäten vorbereitet. Durch die Beobachtung der Mondfinsternis von seinem Sesselturm aus hatte er den Längengrad bestimmt und ein einfaches Observatorium aus roh behauenen Bohlen errichtet, um seine Instrumente vor dem rauen Wind und der Kälte zu schützen. Ref 91

Planman wachte unter einem blauen Himmel auf und rechnete zuversichtlich mit einem Erfolg. Doch dann, gerade als die Venus erschien, erfüllte dicker Rauch die Luft. Einheimische Bauern hatten ein nahe gelegenes Waldgebiet in Brand gesetzt, um das Land zu roden. Zu allem Übel waren Glut und Flammen außer Kontrolle geraten und verschlangen große Teile des Waldes. Ständig zogen Rauchschwaden über das kleine Observatorium. Planman war wütend. Hätte er die Verfahren der örtlichen Landwirtschaft, einschließlich der Brandrodung, gekannt, so berichtete er Wargentin später, hätte er ein »Verbot« verhängt. Der Rauch hatte ihn überrascht, und jetzt war er sich hinsichtlich der exakten Eintrittszeit der Venus nicht sicher; doch nach wenigen Minuten hatten sich seine Augen an die Sichtverhältnisse gewöhnt, und er hielt den vollständigen Eintritt fest.

Sein Assistent hatte weniger Glück. Der Wind erschütterte das Teleskop des Geistlichen so heftig, dass dieser es nicht richtig ausrichten konnte und seine Augen rasch ermüdeten. Umsichtig wie immer, hatte Planman selbst dieses Problem vorhergesehen und lange trainiert, den Himmel entweder mit dem linken oder dem rechten Auge zu beobachten. Daher wechselte er während des Transits die Augen regelmäßig, damit sein rechtes, besseres Auge beim Venus-Austritt kurz nach 10 Uhr ausgeruht war. Obwohl vom Rauch und von den Unzulänglichkeiten seines Assistenten behindert, war Planman am Ende des Transtits von seinen Ergebnissen sehr angetan. Er hatte den Eintritt (wenn auch mit gewissen Zweifeln hinsichtlich des Anfangs) und den Austritt festgehalten.

Er hatte, wie er Wargentin stolz schrieb, »die Hochzeit der Venus« von Anfang bis Ende gesehen. Ref 92

Pehr Wilhelm Wargentin: Stockholm, Schweden

Trotz der frühen Stunde war das Stockholmer Observatorium überfüllt. Wargentins Werbefeldzug war so erfolgreich gewesen, dass man kaum in den dicht besetzten Raum gelangen konnte. Königin Louisa Ulrika und ihr fünfzehnjähriger Sohn Kronprinz Gustav waren kurz vor 3 Uhr morgens, noch in der Dunkelheit, eingetroffen. Politiker, Adlige und ausländische Diplomaten drängten sich, um einen Platz zu ergattern. Wargentin hatte Mitglieder der schwedischen Akademie gebeten, ihm zu helfen, und sie mit Teleskopen ausgerüstet. Sobald sich die Besucher in den Raum gezwängt hatten, war klar, dass nicht alle Beobachter die Uhr sehen konnten – daher beschloss man, dass einer von ihnen die Minuten und Sekunden ausrufen sollte.

Als die Sonne aufging, war der Himmel leuchtend blau. Alle Beobachter standen an ihren Teleskopen und warteten auf das Erscheinen der Venus. Das Wetter war perfekt, doch dann erblickte Wargentin das gleiche Phänomen wie Lomonossow im selben Augenblick in Sankt Petersburg: Der Rand der Sonne schien »zu kochen«, wodurch nur schwer zu erkennen war, ob die Venus bereits eingetreten war. Um 3 Uhr 21 Minuten und 37 Sekunden entdeckte Wargentin eine kleine Beule in der Sonne, die größer und dunkler wurde  – elf Sekunden später war er sich sicher, dass es Venus war, aber er wusste nicht, welche Zeit er als genauen Eintrittszeitpunkt notieren sollte. Als die Venus sich weiter auf die Sonne zubewegte, meinte Wargentin, der winzige schwarze Fleck sei jetzt von einem leuchtenden Ring umgeben, aber seine Kollegen konnten ihn nicht sehen … Trotz dieser Probleme und des Lärms, den die Zuschauer verursachten  – was den Astronomen erschwerte, die ausgerufenen Minuten und Sekunden zu hören  –, hielten sie den äußeren und inneren Kontakt fest. Jetzt hatten sie fast sechs Stunden Zeit, sich an Venus’ gelassener Wanderung zu erfreuen. Ref 93

Kurz vor 9 Uhr 30 konzentrierten sich wieder alle »mit größtem Fleiß« auf den Augenblick des Austritts. Einer von ihnen sah, wie etwas aus der Venus in Richtung Sonne »schoss«, die anderen nicht. Wieder war sich Wargentin sicher, dass er einen »schmalen Ring« von Licht entdecken konnte, aber er stand allein mit dieser Ansicht. Als die Astronomen die Zeit des endgültigen Austritts maßen, wurde klar, dass ihre Beobachtungen nicht übereinstimmten. Die notierten Zeiten reichten von 9 Uhr 47 Minuten und 9 Sekunden bis zu Wargentins 9 Uhr 48 Minuten und 9 Sekunden  – für eine exakte Wissenschaft wie die Astronomie ein beträchtlicher Unterschied. Die »Übereinstimmung ist nicht so groß, wie erhofft«, merkte ein frustrierter Wargentin an.

Charles Mason und Jeremiah Dixon: Kap der Guten Hoffnung, Südafrika

Mason und Dixon waren nervös. Zu ihrer Sorge wegen des eigenmächtigen Reiseabbruchs kam hinzu, dass das Wetter am Kap der Guten Hoffnung fürchterlich war. Seit ihrer Ankunft sechs Wochen zuvor war der Himmel fast jeden Tag und jede Nacht bedeckt gewesen, sodass sie kaum nützliche Beobachtungen hatten machen können. Doch am Abend vor dem Transit gingen sie etwas optimistischer schlafen: Die Wolken hatten sich endlich aufgelöst. Ref 94

Sie wussten, dass sie den Beginn des Transits verpassen würden. Obwohl sie sich fast auf demselben Längengrad wie Stockholm befanden, würde sie der spätere Sonnenaufgang am Kap daran hindern, den Eintritt der Venus zu beobachten. Während die Sonne in Stockholm den Himmel um 3 Uhr morgens erhellt hatte, mussten Mason und Dixon bis zur Dämmerung, bis kurz nach 7 Uhr morgens, warten. Während sie im dunklen Observatorium ausharrten, brachte sie jede Bewegung des Uhrzeigers dem ersehnten Augenblick näher. Tick…tack…tick…tack…  – der regelmäßige Schlag ihrer Pendeluhr war das einzige Geräusch. Schließlich ging die Sonne auf, jedoch in einem »dichten Dunstschleier«, und verschwand gleich darauf hinter einer dunklen Wolke. Mason und Dixon konnten die Venus nicht sehen. Die Zeit zog sich hin. Genau 23 Minuten, nachdem sie zum ersten Mal das schwache Licht der Sonne hinter einem Schleier feuchter Luft erblickt hatten, entdeckten sie die Venus  – kurzzeitig  –, bevor sie und die Sonne wieder verschwanden. Während der nächsten zwei Stunden spielte die Sonne mit ihnen Verstecken. Kurz bevor die Venus sich zu ihrem Austritt anschickte, war die Sonne »vollständig hinter einer Wolke verborgen«, doch plötzlich klarte der Himmel auf. Ohne sich an ihren Teleskopen zu rühren, maßen Mason und Dixon die Zeit vom Anfang und Ende des Venus-Austritts, ohne dass irgendetwas ihre Sicht beeinträchtigte. Zwanzig Minuten später verschwand die Sonne wieder für den Rest des Tages, aber die erste Beobachtung in der südlichen Hemisphäre war ein Erfolg gewesen.

Nevil Maskelyne: Sankt Helena, Südatlantik

Seit seiner Ankunft auf Sankt Helena, zwei Monate zuvor, starrte Maskelyne in einen bewölkten Himmel und erkannte mit jedem Tag, der verstrich, deutlicher, dass seine Chancen, einen Blick auf den Venus-Transit zu werfen, verschwindend gering waren. Meistens hatten dicke Wolken über den Bergen der kleinen Insel gehangen, und er war sich sicher, dass es auch heute, am Tag des Transits, nicht anders sein würde. Trotz seiner Zweifel hatte Maskelyne Instrumente und Uhr sorgfältig vorbereitet  – Linsen eingestellt, Schrauben angezogen und Federn zurechtgebogen. Zu seiner großen Enttäuschung war die Uhr am Tag vor dem Transit stehen geblieben, aber es war ihm gelungen, sie rechtzeitig zu reparieren. Ref 95

Am 6. Juni stand Maskelyne im Dunkeln auf und brach zu dem kleinen Observatorium auf. Auf Sankt Helena würde der Transit wie in Europa nachts beginnen. Nur Minuten später stieg die Sonne in den wie erwartet trüben Himmel empor, doch zu Maskelynes großer Überraschung teilten sich die Wolken und präsentierten die Venus vor ihrem goldenen Hintergrund. Seine Freude war von kurzer Dauer, weil die Sonne rasch wieder verschwand. Eine Stunde später, als die Venus gerade zu ihrem Finale ansetzte, bemerkte der aufgeregte Maskelyne, dass der Himmel strahlend blau wurde und die Venus »als tiefschwarzer Fleck auf dem Körper der Sonne erschien«. Während sich der kleine Kreis dem inneren Rand der Sonne näherte, sah Maskelyne, was so viele andere Astronomen zur selben Zeit beobachteten: Die Ränder begannen kurz vor der Berührung zu vibrieren und zu zittern. Wie die anderen war er sich nicht sicher, ob das wirklich der Beginn des inneren Austritts war. Der »Grad an Genauigkeit«, auf den Halley gehofft hatte, so Maskelyne an die Royal Society, konnte nicht erreicht werden. Was noch schlimmer war: Die Wolken zogen wieder auf und hinderten ihn daran, irgendwelche Austrittszeiten festzuhalten  – »die wichtigste Beobachtung von allen«. Als die Wolken sich verzogen, schien ihm die Sonne höhnisch ins Gesicht, aber es gab keine Spur mehr von Venus.

Jetzt war nur zu hoffen, dass Mason und Dixon »eine günstigere Gelegenheit hatten«, meinte Maskelyne. Als er in den leeren Himmel blickte, dachte er an all die anderen Astronomen, die gerade ihre Beobachtungen abgeschlossen hatten, und machte sich Sorgen, dass sie ebenfalls erfolglos geblieben sein könnten. »Ich befürchte«, seufzte er, »dass wir bis zum nächsten Transit 1769 warten müssen.« Würde Halley noch leben, dachte Maskelyne, wäre er trotzdem über die internationalen Bemühungen erfreut gewesen. Mochten sie auch  – noch  – keinen Erfolg gehabt haben, aber »wir haben alles getan, was in unserer Macht lag«. Ref 96

John Winthrop: St John’s, Neufundland

Der Harvard-Professor John Winthrop wartete schweigend in der Dunkelheit seines Zeltes in einem Lager, das einige Kilometer von St. John’s in Neufundland entfernt war. Er konnte nur eine Stunde des Transits beobachten, kurz nach Sonnenaufgang, bevor die Venus die Sonnenscheibe verließ, und er wusste, dass er sie als letzter Astronom auf der ganzen Erde sehen würde. Ihm war bekannt, dass Le Gentil nach Pondichéry entsandt worden war, wo der französische Astronom den Transit schon seit mehr als fünf Stunden beobachtet haben musste, genauso wie die britischen Beobachter in Benkulen, die Russen in Sankt Petersburg und die Schweden in Lappland.

Winthrop galt als Nordamerikas bedeutendster Mathematiker  – er war ein bekannter Lehrer (John Adams, der künftige Präsident der Vereinigten Staaten, hatte bei ihm studiert) und ein begeisterter Astronom. Wie so viele seiner Kollegen hatte Winthrop den Merkur-Transit beobachtet, sich dann aber auf die Venus konzentriert, das »wichtigste Phänomen, das uns der gesamte Bereich der Astronomie bietet«. Seine Seltenheit mache das Ereignis auch zu einem »vorzüglichen Amüsement«, meinte Winthrop. Alle redeten über den Transit  – es war das »Gesprächsthema«.

Als einziger amerikanischer Astronom, der beabsichtigte, das Ereignis aufzuzeichnen, hatte Winthrop am 9. Mai in Boston ein Schiff bestiegen, zwei Studenten im Schlepptau und die Instrumente sorgfältig verpackt. Dreizehn Tage später war er in St. John’s eingetroffen, wo er sich augenblicklich nach einem geeigneten Ort für seine Beobachtungen umgesehen hatte. »In Richtung Sonnenaufgang«, von Bergen umgeben, hatte die Stadt keinen geeigneten Platz zu bieten. »Wir waren gezwungen, in größerer Entfernung zu suchen«, schrieb Winthrop, und nach einigen »vergeblichen« Versuchen fand er einen Ort »in einiger Entfernung« von St. John’s. Sie hatten keine Zeit, ein richtiges Observatorium zu errichten, und schlugen stattdessen mehrere Zelte auf. Den Tag vor dem Transit hatten sie mit fieberhaften Vorbereitungen verbracht. Es galt, die Uhr anhand des Sonnenstands zur Mittagszeit zu stellen, die Teleskope zusammenzubauen und die genaue geografische Position zu errechnen. Von »gewaltigen Insektenschwärmen« angegriffen und die Haut mit gepunkteten Linien von »giftigen Stichen« überzogen, arbeiteten die Männer Tag und Nacht. Aber sie wurden fertig. Ref 97

Winthrop hatte den Standort seines provisorischen Observatoriums gut gewählt. Während die gesamte Küste von der Südspitze Neufundlands bis Halifax in Nova Scotia von schweren Stürmen umtost wurde, war das Gebiet um St. John’s im Nordosten der Insel »heiter und ruhig«  – abgesehen von den Mückenschwärmen. Als dann die Zeiger von Winthrops Uhr auf 4 Uhr 18 morgens rückten, kletterte die Sonne über den Horizont, und er sah, wie er schrieb, »diesen ganz wunderbaren Anblick, VENUS AUF DER SONNE«. Es waren noch rund 30 Minuten, bis der Planet seinen Austritt begann, daher forderte Winthrop die vor seinem Zelt versammelten Einheimischen auf, durch das Teleskop zu schauen und »ein so merkwürdiges Schauspiel zu betrachten«. Als das Ende des Transits rasch näher rückte, kehrte Winthrop an seine Instrumente zurück, während einer seiner Assistenten die Minuten und Sekunden zählte und der andere Notizen machte. Um 5 Uhr 05 nach Winthrops Uhr war das Spektakel vorbei, und Winthrop war es gelungen, den inneren wie den äußeren Austritt aufzuzeichnen.

Im Gedenken an den wundervollen Anblick beschlossen die Einheimischen, den Ort, an dem Winthrop sein Observatorium erbaut hatte, Venus’s Hill zu nennen. Ref 98

 

In Deutschland hatten fast vierzig Astronomen und offizielle Beobachter auf die Ereignisse »dieses feierlichen Tages« gewartet. Viele hatten sich bis zum Morgengrauen in Sorge um das Wetter in ihren Betten herumgewälzt. Die ganze Nacht hindurch lauschte in Nürnberg ein Beobachter dem gewaltigen Donner, während in München fünf Mitglieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wach blieben, hin- und hergerissen »zwischen Forcht und Hofnung«. Wolken behinderten viele der deutschen Beobachtungen. Tobias Mayer, Astronom und Schöpfer der ausführlichen Mondtabellen, mit denen Maskelyne die Länge seiner Fahrt nach Sankt Helena berechnet hatte, beobachtete Teile des Transits von seinem Göttinger Observatorium aus, konnte in dem Grau aber nicht viel erkennen. Ein Beobachter in Bayern beschrieb die Sonne als »von den wolkhen verschlungen«, während der Jesuit und Astronom Christian Mayer sowie sein Gönner Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz an den dunklen Wolken über dem Schlossgarten in Schwetzingen bei Heidelberg verzweifelten.

Andere hatten mehr Glück. Als in München die Sonne mit der scheinbar an ihr haftenden Venus aufging, rief einer der Beobachter freudig aus: »Jesus da ist sie!« Eine Welle der Erregung lief durch den Raum, und alle waren sich einig, dass es sich um einen »prächtigen Auftritt« und großen Erfolg handle. Im preußischen Halberstadt hatte die ganze Nacht ein Sturm gewütet, und die Sonne war als verschwommenes Licht hinter einer Wolkenwand aufgegangen, woraufhin ein Beobachter meinte: Die Situation »benahm uns fast die Hoffnung«. Doch dann, kurz vor dem vorhergesagten Austritt der Venus, lösten sich die Wolken plötzlich auf, und er war in der Lage, die Zeiten festzuhalten. Im Osten, in Leipzig, war das Wetter so enttäuschend, dass ein frustrierter Hobby-Astronom sich damit tröstete, über das heimliche Rendezvous zwischen Venus, der Göttin der Liebe, und Apollo, dem Gott der Sonne, eine Fabel zu schreiben. In deren Verlauf verhüllte der Gott seine Geliebte mit einer Wolkendecke, um sie vor den Blicken der irdischen Zuschauer zu verbergen.

In Leiden gelang den holländischen Astronomen nur »ein flüchtiger Blick auf die Venus«; auch ihre Kollegen in Amsterdam verzweifelten, weil der trübe Himmel ihnen den Transit verschleiert hatte. Wargentin hatte 34 schwedische Beobachter an zehn Orten aufgeboten, aber viele sahen ihre Beobachtungen gleichfalls von Wolken behindert. In Russland schaffte es der Astronom Stepan Rumowskij, der eigentlich bis nach Nerschinsk an der chinesischen Grenze wollte, nur bis Selenginsk am Baikalsee und verpasste den Eintrittsmoment. Immerhin konnte er die Zeit für den Austritt der Venus nehmen  – aber der Wind rüttelte dermaßen an seinem Teleskop, dass er zweifelte, ob seine Beobachtungen genau waren. Ref 99

In England und Schottland verfolgten über dreißig Astronomen das Geschehen. Allein in London gab es ein knappes Dutzend Beobachter, aber viele »verzweifelten fast« wegen der Wolken. Glücklicherweise begann sich der Himmel um halb acht morgens aufzuhellen und ermöglichte den Astronomen, die inneren und äußeren Austritte aufzuzeichnen. In Frankreich mobilisierte der unermüdliche Delisle um die vierzig Beobachter. Delisle selbst verfolgte den Transit von Pingrés Observatorium in der Pariser Abtei Sainte-Geneviève aus, während ein anderer Astronom seine Instrumente in das neue Château de Saint-Hubert von Ludwig XV. (gut dreißig Kilometer südwestlich von Versailles) brachte, weil der König den Transit dort beobachten wollte. Auch die italienischen Astronomen reagierten auf Delisles Vorschlag  – den einer von ihnen in der Zeitschrift Novelle Letterarie veröffentlicht hatte. Mehr als zwanzig Italiener in Rom, Bologna, Neapel, Turin, Padua, Venedig und Parma beobachteten den Transit.

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Eine Zeichnung vom Venus-Transit, wie er für den 6. Juni 1761 in London, Indien, Sankt Helena und Benkulen vorhergesagt worden war  – veröffentlicht in James Fergusons Buch zu dem Thema.

Überall auf der Erde  – in Europa, auf Malta, in Konstantinopel, Russland, Nordamerika, Ostindien, Südafrika, Peking, Indien, Jakarta und auf den Philippinen  – beobachteten Berufs-und Hobby-Astronomen (oder versuchten zu beobachten), wie der winzige schwarze Punkt über die Sonne wanderte. Vom äußersten Norden Lapplands bis zum Kap der Guten Hoffnung in der südlichen Hemisphäre, von Mauritius bis Neufundland starrten zahllose Beobachter an mehr als hundertdreißig Orten gleichzeitig in den Himmel und hofften, einen Blick auf »Madame Venus« zu erhaschen. Ref 100

 

Zu vielen Astronomen hatten sich ihre Mäzene gesellt, reiche Kaufleute und ausländische Diplomaten, sowie andere neugierige Zuschauer. In mehreren deutschen Städten projizierten Astronomen mit Hilfe von Spiegeln und Linsen das Bild der Sonne samt dem sichtbaren Punkt der Venus auf Wände, damit große Gruppen von Betrachtern den Anblick genießen konnten. In London war Benjamin Martins Werkstatt in der Fleet Street trotz der frühen Stunde brechend voll, weil auch er das Bild des Transits auf eine Wand projizierte. In Pondichéry sah ein englischer Offizier, der an der Belagerung der Stadt teilnahm, ohne Wissen des enttäuschten Le Gentil den Transit. Er und einige andere »unterhielten eine beträchtliche Anzahl von Virtuosen« mit dem außerordentlichen Schauspiel  – aber niemand machte sich die Mühe, Eintritts- und Austrittszeit zu messen. Auf den Bermudas erfreuten sich die Gäste einer Hochzeit an Venus, als der Priester ein eingerußtes Glas herumreichte, durch das man den Transit sehen konnte. Selbst hoch im Norden Lapplands weckten die Beobachtungen in Torneå (Tornio) so viel Interesse, dass die Astronomen den Transit auf einer weißen Leinwand präsentierten, um die Einheimischen »zu unterhalten«. Die Venus hatte die Öffentlichkeit in ihren Bann gezogen. Ref 101

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Ein Spiegelteleskop mit einem Apparat zur Projektion des Transits auf eine Wand.

Als der Transit vorbei war, mussten die Expeditions-Astronomen heimreisen oder ihre Ergebnisse so rasch wie möglich übermitteln. Die Astronomen der wissenschaftlichen Gesellschaften in Europa standen jetzt vor der schwierigen Aufgabe, die in der ganzen Welt gewonnenen Daten zu sammeln und zusammenzustellen. Für sich allein reichte selbst die erfolgreichste Beobachtung nicht aus. »Je mehr Beobachter es sind«, las man kurz darauf in der Boston Evening Post, »und je weiter ihre Beobachtungsstationen auseinanderliegen, desto verlässlicher und genauer die Schlüsse, die sich daraus ziehen lassen.« Ungeduldig warteten die Astronomen auf die Transit-Daten und hofften, ihre Kollegen im Ausland würden ihr Versprechen halten und die Informationen mit ihnen teilen. Ref 102