Kapitel vierzehn
Transit-Tag, 3. Juni 1769
Endlich war der Tag des zweiten Transits gekommen. Überall in der Welt warteten Astronomen auf das Erscheinen der Venus. Le Gentil lebte seit mehr als einem Jahr in Pondichéry und bereitete sich auf den großen Tag vor; William Wales war seit dem letzten Sommer an der Hudson Bay; Cook und die Mannschaft der Endeavour befanden sich auf Tahiti; Maskelynes Assistent William Bayley war am 28. April am Nordkap und Jeremiah Dixon am 7. Mai bei Hammerfest an Land gegangen.66 Mit mehr als achtzig Beobachtern in dreißig Beobachtungsstationen in Großbritannien und sechzehn im Ausland (die nordamerikanischen Kolonien nicht mitgezählt), lagen die Briten klar vorne, gefolgt von den Franzosen mit fast fünfzig Astronomen an achtzehn Orten in Frankreich und fünf in Übersee. Ref 215
Es gab Astronomen in neun deutschen Städten und holländische Beobachter in Leiden. Auch die Schweden waren vorbereitet. Pehr Wilhelm Wargentin hatte einundzwanzig Beobachter an neun Orten in Schweden und Lappland eingesetzt. Anders Planman saß gut geschützt in seinem Observatorium in Kajaani, und Fredrik Mallet hatte es – trotz der grimmigen Winterverhältnisse und seiner gedrückten Stimmung – am 12. Mai, spät, aber rechtzeitig, nach Pello geschafft. Ref 216
Achtzehn Astronomen waren an zehn Orten auf russischem Boden stationiert. Hier spielten die Astronomen aus Deutschland eine führende Rolle: Einer kam Mitte März nach Orenburg, ein anderer hatte Orsk erreicht, wo er seine erste astronomische Beobachtung am 9. April vorgenommen hatte. Georg Moritz Lowitz, der Astronom aus Göttingen, war mit seinem kleinen Sohn nach Gurjew am Kaspischen Meer gereist, wobei er sein Ziel gerade noch rechtzeitig erreicht hatte, nachdem er sich ein Wettrennen mit dem Tauwetter geliefert und Flüsse auf gefährlich dünnen, schwimmenden Eisdecken überquert hatte. Zwei Wochen vor dem Transit war Lowitz zu dem Schluss gelangt, dass seine Begleiter und Instrumente das Vorwärtskommen zu sehr verschleppten, und fuhr rasch voraus, um das Observatorium zu errichten, während sein Team ihm langsamer folgte. Am selben Tag betrat der deutsche Astronom und Jesuitenpater Christian Mayer zum ersten Mal das Observatorium in Sankt Petersburg, wo er den Transit beobachten wollte. Mayer, der der russischen Akademie von Jérôme Lalande empfohlen worden war, war am 3. März zu Hause in Mannheim aufgebrochen und in großer Eile nach Sankt Petersburg gereist.67 Die Schweizer Astronomen aus Genf sowie der Russe Stepan Rumowskij hatten ebenfalls ihre jeweiligen Beobachtungsstationen auf der Halbinsel Kola erreicht. Sogar der Beobachter, der den weiten Weg nach Jakutsk zurückzulegen hatte, war rechtzeitig zum Transit eingetroffen.
Auf dem nordamerikanischen Kontinent erwarteten 47 Beobachter das Erscheinen der Venus – von dem örtlichen Leiter eines Bergwerks bei Mexico City bis zum »Surveyor-General of Lands for the Northern District« [Direktor der Vermessungsbehörde für den nördlichen Distrikt] in Quebec. Mehr als dreißig Beobachter hatten sich auf zwölf Orte entlang der Ostküste verteilt, darunter auch John Winthrop aus Cambridge. Benjamin Franklin hatte Winthrops Instrumente schließlich »nach vielen Verzögerungen und Schwierigkeiten« Mitte März aus London abgeschickt, sodass die American Philosophical Society in Philadelphia ihre Teleskope wenige Tage vor dem Transit erhielt.
Sogar Chappe und sein Team hatten es geschafft. Als sie am 19. Mai zur Südspitze von Niederkalifornien gelangten, war die Hoffnung auf eine erfolgreiche Transit-Beobachtung nur noch gering. Wunderbarerweise hatten sie die gefährliche Landung ohne Beschädigung eines einzigen Instruments überlebt. Sie kamen in der nahe gelegenen Mission San José del Cabo unter, einer kleinen Ortschaft, die vom Ausbruch eines »epidemischen Leidens« heimgesucht wurde – Typhus, an dem schon ein Drittel der Bevölkerung gestorben war. Wie nicht anders zu erwarten, fürchteten die spanischen Beobachter um ihr Leben und schlugen vor, die Reise zu Land fortzusetzen, aber Chappe ließ nicht mit sich reden. Er setzte lieber sein Leben aufs Spiel, als den Transit zu verpassen. Er werde sich »nicht aus San-Joseph rühren«, erklärte er, »mögen die Folgen sein, wie sie wollen«. Er war bereit für die Venus.
Am 3. Juni 1769, als ein Beobachtungsort nach dem anderen aus der Nacht in den Tag eintauchte, begannen sich Astronomen und Hobbybeobachter auf der ganzen Welt für das große Ereignis zu wappnen. Es war der letzte Venus-Transit, den sie alle würden beobachten können. Ref 217
Der Süden: britische Expedition, James Cook und die Endeavour, Tahiti
Die Mannschaft der Endeavour war nervös. Seit ihrer Ankunft auf Tahiti Mitte April war der Himmel meistens bedeckt gewesen, was »uns alle etwas besorgt hinsichtlich des Erfolges machte«. Als der Transit-Tag näher rückte, wurde das Wetter besser, aber es waren noch immer zu viele Wolken am Himmel. James Cook beschloss, zwei Teams auf Nachbarinseln zu schicken, um zusätzliche Beobachtungen zu machen, »aus Angst, dass wir hier scheitern könnten«. Ref 218
In den Tagen vor dem Transit waren Cook und der Astronom Charles Green »sehr fleißig«: Sie bereiteten ihre Instrumente vor und wiesen die Gruppen ein, die den Transit auf den anderen Inseln beobachten sollten. Teleskope wurden getestet, Linsen poliert und Uhren ein letztes Mal überprüft. Am 1. Juni verließ ein Team und am 2. Juni das zweite die Matavai-Bucht, die Boote beladen mit Ausrüstung und die Köpfe mit Greens Anweisungen vollgestopft. In Fort Venus machte sich ein besorgter Green noch immer an seinen Instrumenten zu schaffen. Während die Spannung stieg, arbeiteten die Männer schweigend nebeneinander, »alle Arbeiter begierig im Hinblick auf den morgigen Tag«.
Als dann die Sonne am 3. Juni aufging, wachten Cook und seine Mannschaft unter einem klaren Himmel auf. Sie konnten ihr Glück kaum fassen – nicht eine einzige Wolke war zu sehen. »Der Tag«, schrieb Cook in sein Tagebuch, »erwies sich als so günstig, wie wir nur wünschen konnten.« Als Green und Daniel Solander, der Botaniker der Endeavour (den man aufgefordert hatte, das dritte Teleskop in Fort Venus zu übernehmen), die Plätze an ihren Instrumenten eingenommen hatten, konnten sie nur noch darauf warten, dass die Venus sich auf die Sonnenscheibe schob. Cook hatte Wachen zum Schutz des Forts aufgestellt, damit die Tahitianer »die Beobachtung nicht stören konnten«. Mit jeder Minute stieg die Spannung. Niemand sagte ein Wort.
Als Erster sah Green etwas – um 9 Uhr 21 Minuten und 45 Sekunden bemerkte er ein Licht am Rand der Sonne. Fünf Sekunden später entdeckte Cook »die erste sichtbare Erscheinung von ♀«68, aber Green brauchte noch weitere zehn Sekunden, bevor er überzeugt war, tatsächlich die Venus zu sehen. Solander war sich noch nicht sicher. Wie die Astronomen beim ersten Transit, hatten die drei Männer Mühe, den genauen Augenblick des Eintritts zu bestimmen. Solander bemerkte einen »flackernden Lichtschleier«, Cook eine »Wellenbewegung«. Der exakte Zeitpunkt, so Cook, »war sehr schwer zu beurteilen«. Ref 219
Unbeeindruckt setzten Cook und Green ihre Beobachtungen fort. Während dieser Stunden kletterte die Temperatur auf mörderische 48° C. Die Hitze war »unerträglich«, klagten die Männer. Dann, kurz nach 15 Uhr – der Himmel war noch immer wolkenlos, und kein Lufthauch regte sich – warteten sie auf den Austritt. Als sich Venus und Sonne langsam trennten, hielten Cook und Green die Zeit fest – doch die beiden Astronomen lagen zwölf Sekunden auseinander. Die Venus hatte gezaudert, »wodurch natürlich«, so Cook, die Zeitnahme »etwas zweifelhaft wurde«.
Die Unstimmigkeiten zwischen Solanders Zeiten und den ihren ließen sich durch die unterschiedlichen Vergrößerungen der Teleskope erklären – aber Green und Cook hatten genau das gleiche Modell verwendet. Die beiden anderen Teams waren auf ähnliche Probleme gestoßen, wie sie bei ihrer Rückkehr berichteten, doch trotz dieser Rückschläge hofften sie alle, die Royal Society würde mit den Ergebnissen zufrieden sein. Das Wetter war ideal gewesen, und für das Zaudern der Venus konnten sie nichts. Sie hatten alles getan, was in ihrer Macht stand.69 Ref 220
Der Westen: französische Expedition, Chappe d’Auteroche, San José del Cabo, Niederkalifornien
Auch in Kalifornien prangte die Sonne an einem blauen Himmel. Seit ihrer Ankunft vor zwei Wochen hatten Chappe d’Auteroche und sein Team wie wild gearbeitet, um vorbereitet zu sein. »Ich hatte noch genug Zeit«, hatte er sich beruhigt. Als ihm klar wurde, dass er es schaffen konnte, »überkam mich ein solcher Taumel der Freude und Befriedigung«, erklärte er mit seinem üblichen Überschwang, »dass es sich unmöglich ausdrücken lässt«. Eine große Scheune in der Missionsstation San José del Cabo wurde sein provisorisches Observatorium (Doz und Medina bauten ihr eigenes). Eilig hatte Chappe angeordnet, dass das halbe Dach abgenommen wurde, sodass sie ihre Teleskope auf den Himmel richten konnten. Nach ihrer verspäteten Ankunft, hatte er seine Instrumente aufgebaut, »wie sie waren«, weil er keine Zeit mehr hatte, sie zu justieren – aber er war dankbar, dass er es überhaupt geschafft hatte.
Während dieser Tage vor dem Transit, als die Astronomen ihre behelfsmäßigen Observatorien vorbereiteten, fielen die Einwohner von San José dem Typhus in beunruhigender Zahl zum Opfer. Während Cooks Mannschaft im Südpazifik tahitianischer Musik lauschte, hörte Chappe nichts als das »Stöhnen« der erkrankten Einwohner. Doch mit der Entschlossenheit eines Mannes, der bereit war, für seinen Erkenntnisdrang zu sterben, kümmerte er sich »um nichts anderes« als den Transit. Komme, was da wolle, Chappe würde den Weg der Venus verfolgen. Ref 221
Als er am 3. Juni aufwachte, »war mir das Wetter«, schrieb er, »so günstig gesonnen, wie ich mir nur wünschen konnte«. Sie erwarteten die Venus zur Mittagszeit, daher verbrachte er den Morgen mit letzten Vorbereitungen. Während der Ozeanüberquerung von Cádiz nach Mexiko hatte er Instruktionen für den Transit-Tag aufgeschrieben. Er heftete die lange Liste an die Wand – »damit ich mir jeden Augenblick ins Gedächtnis rufen konnte, was ich zu tun oder vorzubereiten hatte«. Er hatte die neuesten achromatischen Teleskope aus London mitgebracht und die Uhr an einem Balken aus Zedernholz befestigt, den er 60 Zentimeter tief in den Erdboden gegraben hatte, damit er möglichst stabil war. Mit pedantischer Sorgfalt hatte Chappe die Uhr noch in eine Kiste gesetzt, die er mit Papier bedeckte, um den empfindlichen Mechanismus vor Wind und Staub zu schützen. Jeder kannte seine Aufgabe: Chappe beobachtete, sein Diener zählte die Minuten und Sekunden, der Ingenieur war angewiesen, die Zeiten festzuhalten, und der Uhrmacher half mit den Instrumenten.
Dann, wenige Sekunden vor 12 Uhr mittags, bewegte sich die Venus langsam auf den Rand der Sonne zu. Wie Cook und Green bemerkte auch Chappe, dass die Venus einen Augenblick am Sonnenrand zu kleben schien und sich nur »mit Schwierigkeiten löste«. Das Tropfenphänomen, das die Astronomen 1761 entdeckt hatten, beeinträchtigte die Zeitmessungen abermals. Während der nächsten Stunden maß und beobachtete Chappe. Alles klappte nach Plan. Er registrierte die Zeit des inneren Austritts um 17 Uhr 54 Minuten und 50 Sekunden und 18 Minuten später den äußeren Austritt – schließlich verschwand der schwarze Punkt, und der Transit war vorbei. Als Chappe seine lange Liste mit Zeiten und Messergebnissen betrachtete, konnte er sein Glück nicht fassen. »Ich hatte Gelegenheit, eine höchst vollständige Beobachtung vorzunehmen«, notierte er.
Es sollte der letzte Satz sein, den er in sein Tagebuch schrieb. Ref 222
Der Norden: skandinavische Expedition, Maximilian Hell, Vardø, nördlicher Polarkreis
Vardø war unter einer dicken weißen Decke begraben. Einige Wochen zuvor hatte ein weiterer Sturm noch mehr Schnee über die kleine Insel gebracht, doch zumindest waren die langen Monate der Winterdunkelheit beendet. Maximilian Hell und sein Assistent János Sajnovics hatten seit ihrer Ankunft Mitte Oktober ein abgeschiedenes Leben geführt. Nur einmal waren ihnen Briefe aus Kopenhagen zugestellt worden, doch seltsamerweise waren sie über die Fortschritte der anderen Beobachter besser informiert als ihre Kollegen in den wissenschaftlichen Gesellschaften von London oder Paris. Nur drei Wochen vor dem Transit hatte ihnen ein norwegischer Kapitän die Nachricht gebracht, dass sich Jeremiah Dixon und William Bayley in Hammerfest und auf dem Nordkap auf den Transit vorbereiteten. Zwei Tage später, am 14. Mai, berichtete ihnen die Mannschaft eines anderen Schiffs, dass einer der russischen Beobachter auf Kildin, einer kleinen Insel nördlich der Halbinsel Kola in der Barentssee, gestorben sei.70 Ref 223
Traurig über die Nachricht vom Tod eines ihrer Beobachterkollegen, aber zuversichtlich, dass Dixon und Bayley Erfolg haben würden, machten sich Hell und Sajnovics an ihre eigenen Vorbereitungen. Am 2. Juni nahmen sie eine letzte Prüfung ihrer Instrumente vor. Sie waren für die »große Beobachtung« bereit, aber zu nervös, um schlafen zu können. Obwohl die Venus erst nach 21 Uhr erscheinen sollte, wachten sie schon in den frühen Morgenstunden auf. Als sie die Läden vor ihren Fenstern aufstießen, konnten sie die Sonne deutlich sehen. Das war zwar ein vielversprechender Anfang, aber keinesfalls eine Garantie, dass das gute Wetter von Dauer war. Während der Sommermonate wälzt sich der Nebel am nördlichen Polarkreis regelmäßig vom Meer aufs Land. Jeder, der auf Vardø lebte, hätte Hell sagen können, dass die Wahrscheinlichkeit eines durchgehend wolkenlosen Tages am 3. Juni ziemlich gering war.
Tatsächlich war der Himmel Minuten später bedeckt, doch eine Stunde später herrschte wieder heller Sonnenschein. Den ganzen Tag über spielten die Wolken ein quälendes Versteckspiel mit der Sonne. Um 15 Uhr war der Himmel mit weißen Wolken bedeckt, um 18 Uhr ließ sich die Sonne kurz in einer Lücke sehen. Um 21 Uhr, als es nur noch wenige Minuten bis zum Transit waren, richteten Hell und Sajnovics ihre Teleskope aus. Dann, gerade als der vorhergesagte Zeitpunkt für das Erscheinen der Venus gekommen war, öffneten sich die Wolken: »Mit Gottes besonderer Gnade!«, riefen die Astronomen aus, als sie den kleinen schwarzen Punkt erblickten. Der Garnisonskommandant ließ die Flagge hissen, und Vardøs Einwohner kamen zum Observatorium gelaufen, um einen Blick auf das himmlische Zusammentreffen zu werfen. Aber als sie sich am Teleskop versammelten, war die Sonne wieder verschwunden.
Sechs lange Stunden während der hellen nördlichen Nacht blickten Hell und Sajnovics voller Hoffnung zum Himmel, bestürzt, dass die Wolken sich weigerten, die Sonne aus ihrer dunklen Umarmung freizugeben. »Unglaublich, aber doch wahr!«, schrieb Sajnovics in sein Tagebuch. Fast sechs Monate hatten sie gebraucht, um von Wien nach Vardø zu gelangen, und während ihrer siebeneinhalb Monate am nördlichen Polarkreis hatten sie tückische Stürme, Eis, Schnee und einen Winter von scheinbar nie endender Dunkelheit ertragen – nur um an den Wolken zu scheitern. Es bestand absolut keine Aussicht – darin waren sich alle einig –, dass sie die Venus noch einmal sehen würden.
Überdrüssig, in den grauen Himmel zu starren, ging der größte Teil von Hells Publikum zu Bett. Dann, um 3 Uhr morgens am 4. Juni – als sich die Venus wie eine züchtige Jungfrau hinter einem Vorhang von Wolken auf ihren Austritt vorbereitete –, frischte der Wind auf und vertrieb die Wolken. Augenblicklich konnten Hell und Sajnovics sehen, wie sich der schwarze Punkt langsam auf den Sonnenrand zubewegte. Sie konnten ihr Glück nicht fassen und notierten sorgfältig den Zeitpunkt des Venus-Austritts.
Der Kaufmann der kleinen Ortschaft, der im Observatorium ausgeharrt hatte, war so aufgeregt, dass er zur Feier des Ereignisses mit Salutschüssen aus drei kleinen Kanonen die Stille zerriss. Nach der erfolgreichen Beobachtung sang der fromme Hell die Hymne Te Deum laudamus, um Gott für seine Gnade zu danken, und begab sich zur Ruhe. Es war ein guter Tag gewesen. Ref 224
Der Osten: französische Expedition, Le Gentil, Pondichéry
In Pondichéry sollte der Beginn des Transits in der Dunkelheit der Nacht stattfinden. Bei Aufgang der Sonne am Morgen des 4. Juni über dem Indischen Ozean würde die Venus bereits ihren Weg begonnen haben. Die Aussichten für eine erfolgreiche Beobachtung waren ausgezeichnet. Seit mehr als einem Monat hatte die blaue Kuppel des Morgenhimmels nicht die kleinste Wolke gezeigt. Am Abend zuvor hatten Le Gentil und der französische Gouverneur von Pondichéry die Satelliten des Jupiters noch ganz klar gesehen. Die Bekannten und Nachbarn fingen schon an, »mir Glück zu wünschen«, notierte Le Gentil in seinem Tagebuch. Der folgende Tag, dessen war sich der französische Astronom sicher, würde ideal geeignet sein, um die Venus über die Sonne gleiten zu sehen. Mit einem letzten Blick auf den Nachthimmel vergewisserte er sich, dass es noch immer keine Wolken gab. Neun lange Jahre hatte Le Gentil auf diesen Augenblick gewartet. Es war seine letzte Chance, ein astronomisches Vermächtnis zu hinterlassen. »Mit zufriedener Seele« habe er den verheißungsvollen Tag »gelassen« erwartet, schrieb er. Ref 225
Um 2 Uhr morgens wurde Le Gentil vom »Stöhnen« der Sandbänke geweckt und stürzte ans Fenster. Der Himmel, der in den vergangenen Monaten jede Nacht von den Sternen hell erleuchtet worden war, hatte sich mit Wolken bedeckt. Es war vollkommen still, und ohne Wind war keine Hoffnung, dass sie vertrieben würden. »Von dem Augenblick an fühlte ich mich verloren«, meinte Le Gentil. Schlaflos, mit offenen Augen lag er auf seinem Bett und lauschte. Um 5 Uhr morgens hörte er den Wind »ungemein schwach« wehen, was einen Hoffnungsschimmer in ihm weckte, doch binnen weniger Minuten wandelte sich das Wetter, und aus der leichten Brise wurde ein stürmischer Wind. Plötzlich war das Meer mit hüpfenden Schaumkronen bedeckt und die Luft schwer von wirbelndem Sand und Staub. Mit erneuter Rage führte der Wind weitere Wolken heran, die sich, wie Le Gentil verzweifelt notierte, ausbreiteten und einen »zweiten Vorhang« bildeten, der die aufgehende Sonne verbarg.
Um 6 Uhr legte sich der Sturm, aber die Wolken blieben. Le Gentil konnte noch nicht einmal eine Spur von der Sonne sehen. Eine Stunde später, als sich die Venus gerade auf ihren endgültigen Austritt vorbereitete, vermochte er nur etwas »helles Weißes« zu entdecken, das hinter den Wolken glomm. Statt des Feuerballs der Sonne, auf dem sich, punktförmig, die Venus abzeichnete, sah Le Gentil absolut nichts vom Transit.
Um 7 Uhr hatte sich der Durchgang, unsichtbar für den französischen Astronomen, vollzogen. Eine halbe Stunde später brannte ihm die Sonne ins Gesicht, als wollte sie sich über ihn lustig machen. »Ich hatte Schwierigkeiten, mir klarzumachen, dass der Venus-Transit endgültig vorbei war«, schrieb er. Es schien, als wären die Wolken nur zu seinem »Verdrusse« aufgetaucht. In den letzten neun Jahren hatte er Zehntausende von Kilometern zurückgelegt, Ozeane überquert und sein Leben mehr als einmal aufs Spiel gesetzt, »blos um ein trauriges Gewölk zu sehen«. Ref 226
Rund 250 Forscher an 130 Beobachtungsorten hatten ihre Teleskope auf den Himmel gerichtet. In Europa verfolgten viele das Ereignis, wenn auch nur für einige wenige Minuten, bevor die Dunkelheit die Sonne verbarg. In Philadelphia war es der APS gelungen, ihre drei Beobachtungen durchzuführen. Der amerikanische Astronom David Rittenhouse wachte früh am Transit-Tag auf und sah den Himmel in vollkommener »Reinheit der Atmosphäre« erstrahlen. Viele Leute aus Philadelphia waren auf seine Farm in Norriton gekommen, um den Transit zu beobachten. Als sich dann kurz nach 14 Uhr die Venus zu ihrem Auftritt anschickte, geriet Rittenhouse in solche Erregung, dass er zusammenbrach, ohnmächtig wurde und den Beginn des wichtigsten Ereignisses in seinem wissenschaftlichen Leben versäumte. Als er wieder zu Bewusstsein kam, griff er rasch nach seinem Teleskop und stellte fest, dass die Venus bereits in die Sonnenscheibe eingetreten war, beruhigte sich aber genügend, um einige Beobachtungen vorzunehmen.
In Russland hatte Katharina die Große auf einem Landsitz, 50 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt, 18 Lieblingshöflinge und den Astronomen Franz Aepinus eingeladen, um die Venus zu beobachten, die nach den Vorhersagen die Sonnenscheibe kurz nach 3 Uhr morgens verlassen sollte. »Ohne eine Ruhepause« spielte sie die ganze Nacht Karten, damit sie nicht einschlief und das Ereignis verpasste. In Großbritannien beobachtete König Georg III. mit seiner Frau und vier Astronomen den Anfang des Transits in seinem nagelneuen Observatorium im Old Deer Park in Richmond, bis ihnen der Nachtanbruch die Sicht nahm.
Überall gab es Beobachter: Missionare in China, Charles Mason in Irland und Angestellte der Ostindien-Kompanie in Madras. In Jakarta hatte ein wohlhabender holländischer Priester ein aufwendiges, 25 Meter hohes Observatorium mit sechs Stockwerken gebaut (doppelt so kostspielig wie der Gouverneurspalast), das zu einer der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Ostindiens werden sollte.71 Sogar zwei Hobby-Beobachtern auf den Philippinen, die von Le Gentil ausgebildet worden waren, als er sich in Manila aufhielt, gelang es, dem langsamen Weg der Venus zu folgen. Ref 227
Mit den besten Instrumenten ausgerüstet, hatten sich die Astronomen darauf konzentriert, die Eintritts- und Austrittszeit der Venus zu messen, doch viele andere Menschen auf der Welt wollten einfach das seltene Himmelsschauspiel bestaunen. In London drängten sich mehr als 50 neugierige Zuschauer in die Werkstatt des Instrumentenbauers Benjamin Martin, um das auf die Wand projizierte Bild des Transits zu sehen. Für den Fall einer Bewölkung hatte Martin für sein Publikum eine Unterhaltung anderer Art vorgesehen: einen »künstlichen Transit«, das heißt, eine 2,25 Meter große Darstellung des Himmels über London am Transit-Tag, mit einem uhrwerkartigen Mechanismus, der ein Modell der Venus über eine gemalte Sonne bewegte. Ref 228
Auch in den amerikanischen Kolonien nahmen Hunderte von neugierigen Schaulustigen, angeregt von der ausführlichen Berichterstattung in den Regionalzeitungen, Anteil an dem Ereignis. In Providence, Rhode Island, wurde der Transit von »den meisten Einwohnern« beobachtet, während die Hobby-Beobachter, die sich in Charleston versammelt hatten, wegen einer Wolkendecke »vollkommen leer ausgingen«. Überall, wo Astronomen ihre Teleskope aufstellten, versammelten sich Menschenmengen, um den winzigen schwarzen Fleck durch eingerußte Gläser zu bestaunen. Obwohl Astronomen auch dann noch an ihren Teleskopen klebten, wenn Wolken und Regen sie daran hinderten, irgendetwas zu sehen, verlor ihr Publikum rasch die Geduld. Einige suchten nach besserer Unterhaltung. Als in Leiden ein Gewitter den Himmel verdunkelte, beschloss ein Zuschauer, sich stattdessen eine »irdische Venus« im Opernhaus anzuschauen. Er schrieb an einen Freund, die Beobachtungen dort hätten sich als erfolgreich herausgestellt, und die Sängerin »sah aus, als wäre sie einer Immersion nicht abgeneigt«. Ref 229Diese irdischen Freuden genossen auch einige »junge Burschen« in London, die, nachdem sie den schwarzen Punkt auf der Sonne erblickt hatten, »einen Transit nach Covent Garden unter eine Anzahl schöner Planeten gleichen Namens machten« – das Viertel Covent Garden war für seine Prostituierten bekannt.
Alle, die das Ereignis beobachtet hatten, wussten, dass sie die Venus zum letzten Mal während ihres Lebens über die Sonne wandern sahen. Nach diesem Transit würde es 105 Jahre dauern, bevor der Planet als schwarzer Fleck zurückkehrte. Jetzt aber stand man erneut vor der gewaltigen Aufgabe, die Daten zu sammeln und auszutauschen, um die verschiedenen Zahlen zu jenem einen Wert zusammenzufassen, nach dem alle suchten: der genauen Entfernung zwischen Sonne und Erde. Ref 230