Epilog

Eine neue Morgenröte

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Sobald James Cook mit den Transit-Ergebnissen von Tahiti sicher nach Großbritannien zurückgekehrt war, hatten die Astronomen das alles entscheidende Gegenstück zu den nördlichen Beobachtungen. Nur der kleinliche Nevil Maskelyne fand etwas zu bemäkeln. Als er sich Charles Greens Beobachtungen anschaute, schrieb er, »sie unterscheiden sich stärker voneinander, als sie sollten«. Cook verteidigte Green und wies darauf hin, dass der Astronom gestorben sei, bevor er seine Aufzeichnungen habe überarbeiten können. Die Papiere, die der Royal Society vorlägen, seien Rohentwürfe. Ob Maskelyne denn »alles der Welt präsentiert, was er an guten oder schlechten Beobachtungen macht, oder ob er nie eine schlechte Beobachtung in seinem Leben gemacht hat«.76 Andere waren erfreut und begeistert, endlich die Entfernung zwischen Erde und Sonne ausrechnen zu können. Obwohl sehr viele Beobachtungen auf der ganzen Erde fehlgeschlagen waren, erwiesen sich die aus der Südsee als gut genug, um nützlich zu sein. Ref 245

Abermals setzten sich die Astronomen der gelehrten Gesellschaften in Großbritannien, Frankreich, Schweden, Russland und Amerika an ihre Berechnungen  – jeder wollte als Erster den genauen Wert für die Sonnenparallaxe vorlegen. Lalande und Pingré rechneten in Paris, Maximilian Hell in Wien, Anders Planman in Åbo, die Mitglieder der APS in Philadelphia und der Schwede Anders Lexell im Auftrag der Kaiserlichen Akademie in Sankt Petersburg  – alle drängte es, ihre Ergebnisse in den wissenschaftlichen Zeitungen zu veröffentlichen.

Im Dezember 1771, fünf Monate nach der Rückkehr der Endeavour, kamen die Fellows der Royal Society zusammen, um sich die britischen Resultate anzuhören. Ausgehend von den Zeitmessungen Maximilian Hells in Vardø, Stepan Rumowskijs auf Kola, William Wales’ an der Hudson Bay, Chappe d’Auteroches in Kalifornien sowie der tahitischen Beobachtungen errechnete Thomas Hornsby eine Sonnenparallaxe von 8”78, ein Wert, der der heute gültigen Zahl von 8”79 sehr nahe kommt.77 Die Entfernung, die Hornsby errechnete – 150 806 600 Kilometer  –, lag weniger als 1 300 000 Kilometer über dem heute gültigen Wert von 149 600 000 Kilometern. Die »Ungewissheit«, die die Beobachtungen von 1761 beeinträchtigt habe, sei »vollkommen beseitigt«, behaupteten die Briten. Die gelehrten Gesellschaften »können sich beglückwünschen« zur gelungenen Vermessung des Sonnensystems  – oder zumindest zu »einer so genauen Größenbestimmung«, räumten sie ein, »wie es die Natur des Gegenstands vermutlich zulässt«. Ref 246

Der britische Optimismus war ein wenig übertrieben. Erneut kamen Astronomen in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Parallaxenwerten. Je nach Einschluss oder Ausschluss bestimmter Zeiten und Daten reichten die Ergebnisse von 8”43 bis 8”80. Obwohl also nicht so genau, wie von den Astronomen erhofft, bedeutete das Resultat doch eine große Verbesserung gegenüber den Berechnungen von 1761. In den vergangenen zwei Jahrhunderten hatten die Astronomen die Parallaxe Stück um Stück heruntergeschraubt. Kepler hatte geschätzt, dass es keine 59” waren (was einer Entfernung von weniger als 23 000 000 Kilometern entsprach), Halley hatte vorhergesagt, sie sei nicht größer als 12”½, und die Ergebnisse von 1761 waren zwischen 8”28 und 10”60 (124 000 000 bis 158 800 000 Kilometern) angesiedelt. Auf eine genaue Entfernung hatte man sich noch immer nicht geeinigt, doch nach 1769 hatte sich der Spielraum erheblich verringert. Während die Schwankungsbreite der Sonnenparallaxe sich 1761 noch auf mehr als 32 000 000 Kilometer belief, konnten die Astronomen sie jetzt auf 6 500 000 Kilometer verringern. Nach dem Transit von 1769 hatten sie eine sehr viel genauere Vorstellung von der tatsächlichen Entfernung zwischen Erde und Sonne. Ref 247

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Eine Seite aus dem Bericht, der den Fellows der Royal Society vorgelesen wurde und der die Endergebnisse wiedergab: Das ist eine Liste der Zeiten, auf die sich die Berechnungen der Sonnenparallaxe stützten.

Die Errungenschaften des Transit-Projekts veränderten die Welt der Wissenschaft. Abgesehen davon, dass sie der Menschheit ein vertieftes Verständnis des Sonnensystems lieferten, ergaben sich aus den Expeditionen auch zahlreiche und weitreichende Nebenprodukte und Nutzeffekte. So wurden die Karten genauer  – von Le Gentils neuen Seekarten für die Gebiete um Madagaskar und Fredrik Mallets Vermessung des Bottnischen Meerbusens bis hin zu einer neuen Kartografie Russlands.78 Chappe war der Erste gewesen, der ein Buch herausgegeben hatte, das mehr als nur seine Transit-Beobachtunen enthielt  – Voyage en Sibérie. Nachdem Le Gentil seine ungeratenen Erben in die Schranken gewiesen und seine alte Stellung in der Académie zurückerobert hatte, verfasste er die Voyage dans les mers de l’Inde (1760–1771), in der er seine Odyssee beschrieb und einen Überblick gab über Klima, Krankheiten, Meeresleben, Sitten und Windverhältnisse im Indischen Ozean sowie über brahmanische Astronomie. Ref 248Auch der Jesuit Maximilian Hell plante eine dreibändige Veröffentlichung, die, wie er erklärte, neben Astronomie auch eine Vielzahl von Themen behandeln sollte  – darunter Meteorologie, Nordlichter und Rentierhaltung. Hells eigene Beobachtungen sollten durch Informationen des Botanikers, der ihn begleitet hatte, über die nördliche Flora ergänzt werden. Außerdem wollte Hell die aufschlussreiche Entdeckung seines Assistenten János Sajnovics aufnehmen, die die enge Beziehung zwischen Ungarisch und Sami betraf (eine Entdeckung, die heute als Ursprung der Uralistik gilt).79

Auch Katharina die Große hatte Ehrgeiz bewiesen. Mit den Astronomen hatte sie Naturforscher, Taxonomen, Maler und Jäger ausgesandt, sodass aus den astronomischen Expeditionen wissenschaftliche Entdeckungsreisen mit weiter gesteckten Zielen wurden. Beispielsweise gehörte der deutsche Naturforscher Peter Simon Pallas der Orenburg-Expedition an den Fluss Ural aus zwei klar bezeichneten Gründen an: zum »Nutzen des Reiches« und zur »Verbesserung der Wissenschaften«. Nach der Transit-Beobachtung reiste er noch fünf Jahre kreuz und quer durch Russland  – Jahre, in denen er etliche andere Transit-Astronomen traf, unter anderen den Deutschen Georg Moritz Lowitz, der den Verlauf möglicher Kanäle vermaß, um Zentralrussland für den Handel zu erschließen. Lowitz sollte der fünfte Astronom sein  – nach dem Russen, der nach Kildin ging, Chappe, de Medina und Green  –, der im Namen der Wissenschaft starb. Im Sommer 1774 veranlasste der Kosakenaufstand die Akademie in Sankt Petersburg, alle wissenschaftlichen Foschungsgruppen zurückzurufen, doch Lowitz gelobte zu bleiben und seine Arbeit zu beenden. Er wurde im August desselben Jahres gefangen genommen, brutal gefoltert und umgebracht. Ref 249

Als Pallas im Juli 1774 nach Sankt Petersburg zurückkehrte (nachdem er klugerweise dem Rat der Akademie gefolgt war), brachte er wissenschaftliche Schätze mit: eine riesige naturkundliche Sammlung, ethnografische Berichte und eine Fülle von Informationen über Landwirtschaft, Manufaktur, Bergwerke, Erzlager, Salinen und Waldgebiete. So wurden weite, wissenschaftlich unerforschte Gebiete Russlands bekannt, womit sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten boten, aber auch eingehende Informationen über die Bevölkerung sowie die einheimischen Pflanzen und Tiere zur Verfügung standen. Zusammen mit den TransitBeobachtungen veränderte die Expedition das Russlandbild in Europa, und sie gilt bis heute als die wichtigste Erkundung des Landes. Katharina hatte erreicht, was sie sich vorgenommen hatte: die Verpflichtungen ihres Landes bei den Transit-Beobachtungen zu erfüllen und die Grundlagen für eine umfassende wissenschaftliche Forschung in ihrem Land zu schaffen.

Die Endeavour kehrte mit 30 000 getrockneten Pflanzen zurück  – rund 3600 verschiedene Arten, von denen erstaunliche 1400 für die britischen Botaniker neu waren. Sie bezeugten, welche wirtschaftlichen Verheißungen diese fernen Länder bereithielten. Die Natur war zu einem »umfangreichen Buch voller Informationen« geworden, das sich zum Vorteil des Landes nutzen lasse, schrieb Joseph Banks. Angeregt von der Reise mit der Endeavour und den Kenntnissen, die er über Klima, Flora und Boden Australiens gewonnen hatte, wurde Banks der größte Fürsprecher der Kolonisierung des Erdteils. Persönlich suchte er nützliche Samen aus und erteilte landwirtschaftliche Ratschläge, als die First Fleet 1787 zur Botany Bay aufbrach. Ref 250

1778 wurde Banks der Präsident der Royal Society (ein Posten, den er vier Jahrzehnte innehatte), beriet die Regierung bei Kolonialprojekten und verwandelte Großbritannien in ein Zentrum für die wissenschaftliche Erforschung und wirtschaftliche Nutzung der globalen Flora. Nachdem er während der Transit-Jahre die weltweite Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Gemeinschaften erlebt hatte, wurde er ihr glühendster Anhänger. Sogar als Frankreich Großbritannien 1793 den Krieg erklärte, half er französischen Wissenschaftlern auch weiterhin, wo er konnte, verschaffte ihnen Pässe, überließ ihnen Pflanzenexemplare oder machte ihnen seine umfangreiche Bibliothek zugänglich. »Die Wissenschaft zweier Nationen kann in Frieden leben«, sagte er, »während ihre Politik Krieg führt«  – und wie sich zeigte, war dieser Frieden der Wissenschaften von entscheidender Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt.

Mit der Rückkehr der Transit-Astronomen und ihrer Teams samt den Kisten voller gepresster Pflanzen, Samen, Mineralien und ausgestopfter Tiere sowie ausführlicher Berichte zu den verschiedensten Themen  – Bodenbeschaffenheit, geografische Vermessungen, Klima und Sitten  – war die Idee der modernen wissenschaftlichen Expedition geboren. Banks mochte zwar behaupten, er habe sich als erster Mensch mit einer wissenschaftlichen Ausbildung auf eine Entdeckungsreise begeben, als er mit der Endeavour aufbrach, doch nach den Venus-Transiten wurden Expeditionen dieser Art zur Norm. Von da an waren an größeren Entdeckungsfahrten immer wissenschaftliche Teams oder zumindest einige Mitglieder mit wissenschaftlicher Ausbildung beteiligt: von Meriwether Lewis und William Clark, die, bevor sie 1803 zur ersten Durchquerung des nordamerikanischen Kontinents aufbrachen, eingehende wissenschaftliche Unterweisungen erhielten, bis zu Charles Darwin in den 1830er Jahren auf der Beagle. Sogar Napoleon Bonapartes Heer in Ägypten wurde von fast zweihundert Gelehrten begleitet  – darunter Chemikern, Mathematikern, Sprachwissenschaftlern und Botanikern.

Die Transit-Projekte offenbarten die Bedeutung internationaler Kommunikation und Zusammenarbeit. Nie zuvor hatten sich Wissenschaftler und Denker in so globalem Maßstab zusammengefunden  – nicht einmal Krieg, nationale Interessen oder andere widrige Umstände konnten sie davon abhalten. Die Stärke ihres Zusammenhalts war beispiellos, und die internationalen Verbindungen, die dadurch zustande kamen, blieben noch lange nach den Transiten erhalten. Ref 251

Sogar Entdeckungen, die die Länder unter Umständen gegeneinander hätten verwenden können, wurden jetzt geteilt. Als die Académie des Sciences in Paris und die französische Regierung 1775 für eine neue Methode zur Salpetergewinnung einen Preis auslobten, durften sich auch ausländische Forscher beteiligen  – eine überraschende Geste, wenn man bedenkt, dass Salpeter für die Herstellung von Schießpulver gebraucht wurde. Die Mitglieder der Académie veröffentlichten die Arbeit des Preisträgers in großer Auflage und informierten ihre alten Transit-Kollegen in der Royal Society, der schwedischen Akademie der Wissenschaften und der Kaiserlichen Akademie in Sankt Petersburg.

Das wissenschaftliche Interesse hatte die nationalen Grenzen überschritten. Heute halten wir diese internationale Zusammenarbeit für selbstverständlich, reden aber über solche weltweiten Projekte, als wären sie ein Privileg des 20. und 21. Jahrhunderts, dabei sind die Grundlagen solcher organisierter Zusammenarbeit in den 1760er Jahren gelegt worden. Zum ersten Mal hatten Staaten groß angelegte wissenschaftliche Projekte finanziert und wurden damit zum Vorbild für künftige Generationen. Die friedliche Zusammenarbeit so vieler Länder, Gesellschaften und Individuen, wie sie an den Transit-Beobachtungen beteiligt waren, bewies, wie wichtig Austausch und Zusammenarbeit für den Erkenntnisfortschritt sind. Der Keim des globalen Dorfs, in dem wir heute leben, wurde im Transit-Jahrzehnt gelegt, als unerschrockene Astronomen aus ganz Europa zusammenkamen, um Edmond Halleys Aufruf zu folgen. Ref 252

 

Am 5. und 6. Juni 2012 (je nachdem, wo Sie sind), wird der winzige schwarze Kreis der Venus die Sonnenscheibe wieder überqueren. Das wird der letzte Transit bis zum Dezember 2117 sein, daher sind wir für mehr als ein Jahrhundert die letzten Menschen, die eine Himmelserscheinung beobachten können, welche einst Wissenschaftler auf der ganzen Welt zur Zusammenarbeit anregte. Wenn wir nach oben blicken und sehen, wie ein Planet, der fast so groß ist wie unser eigener, angesichts der ungeheuren Ausmaße der Sonne perspektivisch zu einem winzigen Fleck schrumpft, stehen wir auf den Schultern Hunderter tapferer Männer, die genau das gleiche Schauspiel 250 Jahre zuvor verfolgten.