Kapitel neun

Russland steigt ein

/epubstore/W/A-Wulf/Die-jagd-auf-die-venus/OEBPS/e9783641073022_i0041.jpg

Als Frankreich und Großbritannien sich auf den zweiten Transit vorbereiteten, beeilte sich Russland, in den Wettlauf einzusteigen. Auf Befehl von Katharina der Großen sollten die Russen dieses Mal Expeditionen in eigener Verantwortung organisieren. Die Zarin kümmerte sich persönlich darum, das Projekt auf den Weg zu bringen. Im Frühjahr 1767 schrieb sie einen Brief an Graf Wladimir Orlow, den Direktor der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg (und Bruder ihres Liebhabers Graf Grigori Orlow), und befahl ihm, die Transit-Beobachtungen mit »höchster Sorgfalt« vorzubereiten. Sie wollte alles tun, damit Russlands Beitrag mindestens ebenso bedeutsam war wie der Frankreichs, Großbritanniens und der anderen europäischen Länder. Als Katharina 1762 die Macht ergriffen hatte, erfuhr sie zu ihrer Enttäuschung, dass Chappe d’Auteroche, ein Franzose, die einzigen genauen Beobachtungen auf russischem Boden vorgenommen hatte. Der Transit sei, so befand sie, eine gute Gelegenheit, der internationalen Gemeinschaft der Philosophen und Naturforscher zu beweisen, dass Russland nicht das unzivilisierte und rückständige Land war, für das es allgemein gehalten wurde. Ref 131

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte schon Peter der Große versucht, Russland zu reformieren, damit es »den anderen europäischen Staaten etwas ähnlicher« werde, wie ein Engländer schrieb; aber das Land war noch immer nicht vor einem »Rückfall« gefeit. Karten von Katharinas Reich waren unterteilt in »Russland in Asien« und »Russland in Europa«, und viele Reisende hielten es für ein »orientalisches Reich«. Katharina wollte diese Wahrnehmung verändern und begrüßte die Wissenschaft vorbehaltlos als eine Möglichkeit, ihren Glauben an Fortschritt und Vernunft unter Beweis zu stellen. Doch es war nicht einfach. Allein seine Größe machte das Land fast unregierbar. Die Entfernungen waren so riesig, dass ein Befehl für den Weg von Sankt Petersburg nach Kamtschatka im fernen Osten achtzehn Monate brauchte. »Halb Russland könnte zerstört werden«, schrieb ein Reisender, »und die andere Hälfte würde nichts davon erfahren.« Außerdem hatte der Siebenjährige Krieg Russland in eine heikle Finanzlage gebracht: Steuern wurden nicht eingetrieben, Soldaten erhielten keinen Sold, und der Staatsapparat befand sich in allgemeiner Unordnung. Doch nichts von alledem vermochte Katharinas Ehrgeiz zu bremsen.

Schon einen Monat nach ihrem Staatsstreich hatte sie Verbindung zu Voltaire aufgenommen  – dem Paten der Aufklärung, dem Mann, von dem Goethe später sagte, dass er und seine Zeitgenossen »die ganze sittliche Welt beherrschten«. Katharina wusste genau, was sie tat: Voltaire war im Europa des 18. Jahrhunderts so einflussreich, dass seine Freundschaft ihr das Image einer aufgeklärten Monarchin verleihen würde. In ihrem zweiten Brief bot sie ihm an, eine Übersetzung der bahnbrechenden Encyclopédie von d’Alembert and Diderot, jener umfassendsten Wissenssammlung des 18. Jahrhunderts, zu finanzieren. »Es war auf jeden Fall Voltaire, der mich in Mode gebracht hat«, gab Katharina später einem Freund gegenüber zu. Voltaire seinerseits war hocherfreut, dass ihm zugeschrieben wurde, die Neuordnung eines ganzen Reichs angeregt zu haben. Die Ermordung von Katharinas Ehemann tat er als »Lappalie« ab  – »Familienangelegenheiten, in die ich mich nicht einmische«. Ref 132

Aus dem Wunsch, sich als freigebige Mäzenin wissenschaftlicher Bildung darzustellen, kaufte sie Diderots Bibliothek auf, als diesem das Geld ausging  – wobei sie ihm gestattete, die Bücher zu behalten, und ihm sogar ein jährliches Gehalt für ihre Instandhaltung zahlte. Voltaire bewunderte sie dafür und schrieb ihr, »alle Literaten Europas müssen Ihnen zu Füßen liegen«. Katharinas Enthusiasmus war grenzenlos, und sie schien unermüdlich zu sein  – frühmorgens stand sie auf und verbrachte den Tag mit Lesen und Schreiben. Das Reich, so insistierte sie, sollte sich unter ihrer Herrschaft verändern, denn »Russland ist eine europäische Macht«. Zur gleichen Zeit, da sie die Akademie in Sankt Petersburg anwies, die Transit-Expeditionen zu organisieren, versuchte sie beispielsweise, das russische Recht zu reformieren, wobei sie sich auf Montesquieus Analyse der Beziehung zwischen Bürger und Staat stützte. Ihre Anweisungen an die Gesetzeskommission offenbarten ähnliche Bestrebungen, wie sie in der Förderung der Transit-Beobachtungen zum Ausdruck kamen: Beides sollte davon künden, dass Russland nicht asiatischem Despotismus verhaftet, sondern ein aufgeklärter europäischer Staat war.

Da die Mitglieder der Kaiserlichen Akademie wussten, wie sehr Katharina von der Naturforschung fasziniert war, veröffentlichte die Akademie aus Anlass ihrer Krönung im Jahr 1762 eine Sonderausgabe des Berichts über Stepan Rumowskijs (allerdings nicht erfolgreiche) Beobachtung des ersten Transits in Selenginsk. Gleichzeitig machte Franz Aepinus, der Privatlehrer bei Katharina und ihrem Sohn Paul gewesen war, die Zarin auf den zweiten Transit aufmerksam. Seit seinen Kämpfen mit Michail Lomonossow hatte sich Aepinus mehr und mehr aus der Akademie zurückgezogen und sich stattdessen seiner Karriere bei Hofe gewidmet. Doch als Astronom wusste er nur zu gut, wie wichtig die russischen Beobachtungsstationen für den bevorstehenden Transit waren. Ref 133

Die Transit-Beobachtungen wurden zum festen Bestandteil von Katharinas Bemühungen, ihr Land an Europa und an den Geist der Aufklärung zu binden. Katharina war überzeugt, dass Russland eine führende Rolle bei den Transit-Projekten des Jahres 1769 spielen müsse. Im Gegensatz zu anderen europäischen Monarchen wartete sie nicht ab, bis sich die Astronomen an sie wandten, sondern ergriff selbst die Initiative. Bis ins letzte Detail befasste sie sich mit den Vorbereitungen der Expeditionen. Kurz bevor sie im Frühjahr 1767 zu einer Besichtigung der Wolga-Provinzen aufbrach, verlangte sie Informationen über die »am günstigsten gelegenen Orte des Reichs« und fragte, ob bereits Arbeiter dorthin gesandt worden seien, um die Observatorien zu errichten. Da sie die gleichen Probleme voraussah, mit denen die Akademie 1761 zu kämpfen gehabt hatte  – zu wenige geeignete russische Astronomen  –, schlug sie vor, einige Marineoffiziere zu Beobachtern auszubilden. Ref 134

Am 27. März wurden ihre Anweisungen den aufgeregten Mitgliedern der Akademie mitgeteilt, die das Thema während der Sitzungen in den vergangenen Jahren ausführlich erörtert hatten. Lomonossow war die treibende Kraft hinter diesen frühen Versuchen gewesen, aber er war Anfang 1765 mit 53 Jahren gestorben, und ohne seine ansteckende Energie war das Interesse an dem Vorhaben bald erlahmt.37 Nun, da Katharina selbst ihr Interesse bekundete, änderte sich alles. Sobald ihr Brief verlesen worden war, erörterten die Wissenschaftler, was man ihr am besten antworten könnte. Nach mehreren hitzigen Sitzungen setzten die Akademiemitglieder einen langen Brief auf, in dem sie Katharina alle Informationen lieferten, nach denen sie verlangt hatte. Es würden mehrere Expeditionen an verschiedene Orte im riesigen russischen Reich erforderlich sein, so erläuterten die Forscher. Der gesamte Transit würde nur im äußersten Norden des Landes zu sehen sein, aber der Austritt der Venus könnte im ganzen Reich beobachtet werden.

Wie die Franzosen und die Briten erklärten auch die Russen mit Nachdruck, dass ihre Astronomen die Länge der Beobachtungsstationen bestimmen müssten  – ein wichtiges Nebenprodukt der Expeditionen, weil bislang nur ganze zwanzig Orte in Russland genau geografisch bestimmt worden waren. Sie schlugen die Ausrüstung von mindestens vier Expeditionen vor: zwei Richtung Norden  – zur Halbinsel Kola in Russisch-Lappland und zu den Solowezki-Inseln im Weißen Meer; Richtung Süden empfahlen sie eine Beobachtung in Astrachan am Kaspischen Meer und in Gurjew an der Mündung des Flusses Ural (dem heutigen Atyrau in Kasachstan).

Nach Lomonossows Tod wurde dem 33-jährigen Stepan Rumowskij  – der den ersten Transit in Selenginsk beobachtet hatte und jetzt das Petersburger Observatorium leitete  – die Verantwortung übertragen. Da an jeder Expedition mindestens zwei ausgebildete Beobachter teilnehmen mussten, erklärte sich Rumowskij einverstanden, diese im Laufe des nächsten Jahres »mit allem erdenklichen Bemühen« auszubilden, und versuchte zwölf junge Marineoffiziere zu rekrutieren, die »voller Eifer« und mit den »Grundlagen der Mathematik« vertraut waren.

Aufgrund der Erkenntnisse, die die Russen beim ersten Transit gewonnen hatten, beschlossen sie, dass jede Expedition genau den gleichen Satz von Instrumenten mitnehmen sollte, unter anderem Quadranten und Teleskope von unterschiedlicher Länge: 90 Zentimeter, 1,80 Meter, 4,50 Meter, 5,50 Meter. Die besten Handwerker in Paris und London wurden mit der Herstellung beauftragt. Man beschloss, die Observatorien nicht vorzufertigen, weil ihre Konstruktion den besonderen Verhältnissen jedes Beobachtungsortes angepasst werden musste. Ref 135

Im Laufe der nächsten Wochen schrieben die Mitglieder der Kaiserlichen Akademie an ihre ausländischen Kollegen und versuchten, die astronomische Ausbildung der Marineoffiziere zu organisieren. Es trafen Antwortschreiben aus Deutschland und Frankreich ein, in denen man den Russen zu ihren Plänen gratulierte und Hilfe anbot. Doch mochten die Akademiemitglieder auch noch so eifrig sein, der Zarin ging es nicht schnell genug. Als Katharina im Frühling und Frühsommer dieses Jahres an der Wolga entlangreiste, ließ sie der Gedanke an die Transit-Projekte nicht los, und sie plagte Orlow immer wieder mit der Frage, ob er »weitere Berichte von der Akademie« erhalten habe. Sie verlangte genauere Informationen über die vorgeschlagenen Beobachtungsorte, um sicherzugehen, dass die Astronomen dort unter optimalen Bedingungen den Venus-Durchgang würden beobachten können. Als unterstützende Maßnahme ordnete sie daher an, dass mehr Beobachter in den Norden gesandt werden sollten, weil es dort häufig »nebelicht« sei. Wenn jede Beobachtung durch eine zweite, in einiger Entfernung vorgenommene, abgesichert werde, betonte sie, seien die Aussichten auf eine erfolgreiche Aufzeichnung des Transits sehr viel größer. Gleichzeitig wurde von ihr ein 6000-Rubel-Zuschuss für den Erwerb der besten Instrumente »sogleich bewilligt«. Ref 136

Als Katharina im Juni von ihrer Wolga-Reise zurückkehrte, wies sie Aepinus an, sich nach den Fortschritten des Transit-Projekts zu erkundigen. Ende Juli wurde sie zunehmend ungeduldiger. Um Missverständnisse zu vermeiden und den Gang der Ereignisse zu beschleunigen, schickte sie Orlow mit neuen Instruktionen von Moskau nach Sankt Petersburg.38 Aepinus hatte Holzkaufleute von der Halbinsel Kola befragt, um die geeignetsten Beobachtungsorte in der dortigen Region ausfindig zu machen, während Katharina anordnete, augenblicklich alles für den Bau der Observatorien erforderliche Material nach Kola »abzuschicken«. Denn die kleinen Hütten, so sagte sie, in denen die Astronomen leben und arbeiten konnten, müssten im Voraus gebaut werden.39

In der Zwischenzeit hatte Rumowskij Schwierigkeiten, geeignete Astronomen zu finden. Einige der Marineoffiziere hatten wenig Lust, ihr Leben für ein solches Unternehmen zu riskieren, während andere mögliche Kandidaten für ihre »üblen Sitten« bekannt waren, wie die Akademie in Erfahrung brachte. Infolgedessen hatten die Forscher wenig Hoffnung, sie könnten die Expeditionen nur mit russischen Astronomen bestreiten. Katharinas Lösung war, europäische Wissenschaftler mit doppelten Gehältern und Ansehen nach Russland zu locken. Nichts würde sie daran hindern, das russische Reich zur Hochburg aufgeklärten Denkens zu machen. Ref 137

Im Herbst 1767 waren die Akademiemitglieder intensiv mit den Vorbereitungen beschäftigt, und im Oktober erhielten sie Nachricht von James Short, Londons bestem Instrumentenbauer, dass er an dem russischen Auftrag arbeite. Alle waren erleichtert, da sie »bereits zu zweifeln begonnen hatten«, dass ihr Wunsch nach einer standardisierten Ausrüstung für jede Expedition erfüllt werden könnte. Shorts Zusage, so Rumowskij, »erlöste uns aus einer sehr unangenehmen Situation«; denn sonst hätte er keine Ahnung gehabt, wie er seiner ungeduldigen Zarin den Mangel an Instrumenten erklären sollte. In seiner Antwort an Short und an die Royal Society erläuterte Rumowskij die russischen Pläne für die Expeditionen und schickte außerdem eine Abschrift von Katharinas ursprünglicher Forderung nach Transit-Beobachtungen. Sobald diese Schreiben in der Royal Society in London verlesen wären, würden die Informationen, dessen war sich Rumowskij sicher, weiter verbreitet werden, bis ganz Europa von Russlands wissenschaftlichem Projekt gehört hatte. Im selben Schreiben verkündete er auch voller Stolz, Katharina habe die russischen Bemühungen wegen der »Unvorhersehbarkeit« des Wetters von vier auf acht Expeditionen verdoppelt.

Ende Oktober 1767, als alle Instrumente in Auftrag gegeben, etliche Astronomen aus Deutschland und der Schweiz eingestellt und die Beobachtungsorte festgelegt waren, schien alles für die russischen Transit-Beobachtungen in die Wege geleitet zu sein. Die Akademie beschloss, ihre Fortschritte in einem Bericht für Katharina zusammenzufassen. Man wollte vier Gruppen nach Norden, zwei nach Osten und zwei nach Süden schicken  – die Expeditionsleiter waren vier Russen, drei Deutsche und ein Astronom aus Genf.

Aber Katharina war nicht zufrieden. Ganz im Sinne ihrer Aufklärungsideale erweiterte sie die Zielsetzung der Expeditionen, indem sie anordnete, dass die Beobachter, die nach Süden und nach Osten reisten, von anderen Wissenschaftlern begleitet wurden. Sie beschloss nun, die Transit-Expeditionen in umfassende wissenschaftliche Projekte umzuwandeln  – sie sollten also nicht nur aus Astronomen bestehen, die die Venus beobachteten und geografische Positionen der auf dem Weg liegenden Städte und Geländepunkte bestimmten, sondern auch aus anderen Arbeitsgruppen, die naturkundliche Sammlungen anlegten und Berichte über landwirtschaftliche und bergbauliche Nutzungsmöglichkeiten verfassten. Für jede Expedition waren vorgesehen: ein astronomischer Leiter, zwei Assistenten, außerdem Soldaten und Dolmetscher, ein Uhrmacher, ein Jäger, ein Tierpräparator und ein Bergmann, dazu weitere Naturforscher der Botanik und Zoologie. 40

Etwa zur gleichen Zeit, als die Akademie ihren Bericht an Katharina sandte, erhielt die Zarin auch einen Brief von Voltaire, der schrieb: »Ganz Europa schaut auf das bedeutende Beispiel für Toleranz, das die Kaiserin von Russland der Welt gibt«  – fünf Jahre nach Beginn ihrer Regierungszeit wurden die Veränderungen, die sie eingeführt hatte, endlich auch in anderen Teilen Europas zur Kenntnis genommen. Ende des Jahres berichteten sogar amerikanische Zeitungen von Katharinas acht Expeditionen quer durch das russische Reich und erwähnten, dass dies »auf Kosten der Kaiserin«41 geschehe.

 

Im Laufe der nächsten Monate wurden die russischen Vorbereitungen fortgesetzt, die einzige Unwägbarkeit bestand darin, dass weder die Astronomen aus Genf noch der deutsche Astronom Georg Moritz Lowitz aus Göttingen, der angeboten hatte, nach Jakutsk zu reisen, bis zu jenem Zeitpunkt in Sankt Petersburg eingetroffen waren. Ende Februar 1768 entschieden die Akademiemitglieder, dass sie nicht länger auf Lowitz warten könnten und dass sie stattdessen ein russisches Team in den fernen Osten des Landes schicken müssten. Angesichts der Entfernungen innerhalb des russischen Reiches gefährdeten diese Verzögerungen die Erfolgsaussichten der Expeditionen ernsthaft. Ref 139

Eine kluge Entscheidung, denn es dauerte noch etliche Wochen, bis Lowitz aus Göttingen eintraf. Der verwitwete Astronom kam in Begleitung seines elfjährigen Sohnes, mit dem er durch die endlose Weite des Zarenreichs zu seiner Transit-Beobachtungsstation zu reisen gedachte. Anderthalb Monate später, Ende Mai, erreichte endlich mit den Schweizer Astronomen die letzte Gruppe von Ausländern Sankt Petersburg.42 Die Mannschaften für die Expeditionen waren vollständig. Verlockt durch doppelte Gehälter sowie die Aussicht auf Abenteuer und Ruhm, hatten die Ausländer bereits Tausende von Kilometern zurückgelegt. Ende Mai bewilligte Katharina weitere 10 000 Rubel. Jetzt brauchten die Expeditionsteilnehmer nur noch ihre Instruktionen und Ausrüstungen.

Was Katharina und die russischen Astronomen aber nicht wussten: Der überarbeitete James Short war ernsthaft erkrankt. Eigentlich nicht verwunderlich, war er doch mit Anfragen von Astronomen in Großbritannien und ganz Europa überschwemmt worden. Alle wollten die besten Teleskope und Quadranten haben, um den Erfolg ihrer eigenen Beobachtungen zu sichern.

Im Laufe der vorangegangenen anderthalb Jahrhunderte hatten sich die technischen Möglichkeiten zur Betrachtung des Sonnensystems enorm verbessert. Bis zur Erfindung des Teleskops oder Fernrohrs im 17. Jahrhundert konnte man die Sterne nur mit bloßem Auge anschauen. Die frühen Linsenteleskope (die, wie der Name sagt, Linsen zur Bilderzeugung verwendeten) waren durch Spiegelteleskope ersetzt worden (in denen eine Kombination aus gekrümmten Spiegeln das Licht reflektierte und die Verzerrung des Bildes verringerte). Die letzte Neuerung war die sogenannte »achromatische« Linse, die aus Kron- und Flintglas zusammengesetzt war. Diese aus zwei Glasarten bestehende Kombination glich die unterschiedlichen Dispersionen aus. Zuvor hatte man die Lichtdispersion durch den Bau sehr langer (und unhandlicher) Teleskope verringert, doch achromatische Linsen verliehen jetzt den 1,50 Meter langen Teleskopen die gleiche Schärfe wie den traditionellen 6-Meter-Instrumenten. Es war, wie ein deutscher Astronom schrieb, »eine sehr glückliche Erfindung, zu der nur England fähig war«7. Ref 140

Während des ersten Transits hatten nur wenige Astronomen Teleskope mit achromatischen Linsen verwendet. Doch angesichts des Tropfenphänomens und der Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Eintritts- und Austrittszeit der Venus war den Wissenschaftlern klar geworden, wie wichtig die Qualitiät ihrer Teleskope für die Ergebnisse ihrer Beobachtungen war. Der Auftrag der Kaiserlichen Akademie in Sankt Petersburg war einer der größten, die Short bekommen hatte. Die Russen bewiesen, dass sie mit der wissenschaftlichen Entwicklung Schritt hielten  – achtzehn der einundzwanzig bestellten Teleskope sollten achromatische Linsen haben. Die Expeditionen quer durch das russische Reich würden zu den bestausgerüsteten der Welt gehören, aber nur, wenn Short überlebte. Im Frühsommer 1768 ließen seine Kräfte rasch nach, doch da er wusste, wie wichtig die Teleskope waren, schleppte er sich jeden Tag in seine Werkstatt. Dem Tod nahe, war Short trotzdem entschlossen, die Instrumente rechtzeitig fertigzustellen.

Die Nachrichten wurden im Laufe dieses Sommers nicht besser. Die Akademie erhielt einen Brief von dem russischen Astronomen, der auf dem Weg nach Jakutsk war. Er berichtete, dass die Straßen nach Osten im letzten Winter zerstört worden waren. Er saß in Sibirien fest, bis sich die Verhältnisse besserten. Besorgt wegen der ständigen Rückschläge, beschloss die Akademie, die Forscher, die naturkundliche Sammlungen anlegen sollten, vorauszuschicken und die Astronomen später folgen zu lassen. Mitte Oktober dann, mit Wintereinbruch, trafen Shorts Instrumente endlich ein  – er hatte sein Versprechen gehalten und bis zu seinem Tod im Juni 1768 gearbeitet, um den Auftrag abzuschließen. Die Akademie war erleichtert, erwartete aber noch weitere Instrumente aus Frankreich. Auf jeden Fall war das Jahr für die Astronomen jetzt zu weit fortgeschritten, um ihre Reise noch anzutreten. Stattdessen beschloss die Akademie, die britischen Teleskope und Quadranten an die verschiedenen Forschungsgruppen auszugeben, damit sie sich während der Wintermonate »in ihrem Gebrauch üben können«. Ref 141

Ende Januar 1769 waren die sieben Astronomen, die in Sankt Petersburg gewartet hatten, endlich zum Aufbruch bereit. Drei Gruppen fuhren nach Süden: nach Orenburg am Fluss Ural, nach Gurjew an der Mündung des Flusses ins Kaspische Meer und nach Orsk im Südosten Russlands. Drei nördliche Orte waren in Russisch-Lappland ausgesucht worden: Rumowskij und sein Team sollten den Transit auf Kola beobachten, während die Schweizer Astronomen nach Ponoy und Umba geschickt wurden, die ebenfalls auf Kola lagen.

Am 27. Januar wurden die Instruktionen für die Expeditionsleiter auf einer Sitzung der Akademie laut verlesen. Alles wurde minutiös vorgeschrieben: Wie die Observatorien zu errichten seien, was zu messen sei, wo die genauen geografischen Positionen zu bestimmen seien. Die Akademie ordnete auch an, dass die Beobachter es sich bequem machen und »in keiner gezwungenen Stellung« verharren sollten, um bei der Beobachtung des sechsstündigen Venus-Durchgangs nicht zu ermüden. Am wichtigsten aber war, dass die Astronomen »spätestens« acht Tage nach dem Transit ihre Berichte nach Sankt Petersburg zurücksenden sollten.

Vor ihrer Abreise blieb den Expeditionsleitern nur noch eine Aufgabe: Katharina hatte verlangt, dass die astronomische Armee bei ihr zur Audienz erschien. Ref 142

/epubstore/W/A-Wulf/Die-jagd-auf-die-venus/OEBPS/e9783641073022_i0042.jpg

Katharinas Winterpalais in Sankt Petersburg.

Zwei Tage später, an einem kalten Sonntagmorgen, begaben sich die sieben Astronomen zum Winterpalais und zu ihrem wichtigen Treffen. Es war nur ein kurzer Weg vom Sitz der Akademie zum prächtigen Palast der Zarin, einfach über den gefrorenen Fluss Newa, der sich durch die Stadt schlängelte. Katharinas Astronomen gingen durch die Kälte, gegen die arktischen Temperaturen durch Pelzmützen und -schuhe geschützt. Wäscherinnen hatten Löcher in die Eisdecke der Newa gehackt, um Hemden und Leinzeug ihrer Kunden einzuweichen. Anstelle von Booten oder Kutschen flogen in leuchtenden Farben bemalte Schlitten mit »erstaunlicher Geschwindigkeit« vorbei, wie andere Besucher beschrieben, und aufgehäufter Schnee ließ künstliche Berge entstehen, von denen Leute jeden Alters auf kleinen Tabletts herunterglitten. Auf den Straßen von Sankt Petersburg gab es Kaufleute »in asiatischen Kostümen«, Bauern in Schafsfellen mit langen, »von Eisklümpchen verkrusteten« Bärten und elegant gekleidete, in Pelze gehüllte Damen. Sankt Petersburg vereinte, wie Diderot später schrieb, »das Zeitalter der Barberei mit dem der Zivilisation«  – es war eine Kombination aus der Eleganz von Städten wie London und Paris einerseits und asiatischen Einflüssen sowie bäuerlicher Kultur andererseits. Ref 143

Große Gebäude säumten die Ufer der Newa  – auf der einen Seite die Festung der Stadt und die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, auf der anderen das Winterpalais und die Admiralität. Die Wohnhäuser von wohlhabenden Russen und ausländischen Kaufleuten trugen zu dem glanzvollen Stadtbild bei. Vor den Palästen und prächtigen Gebäuden brannten Feuer, an denen Dienstboten und Kutscher kauerten, um ihre kalten Glieder zu wärmen. Als die sieben Astronomen in das Winterpalais geführt wurden, schälten sie sich aus ihren Pelzkokons, unter denen ihre eleganteste Kleidung zum Vorschein kam. Nach der Schilderung eines Reisenden dürften sie ausgesehen haben wie »bunte Schmetterlinge, die plötzlich aus ihrer Winterverkrustung schlüpfen«. Während die Astronomen auf die Zarin warteten, konnten sie die grandiose Einrichtung des Winterpalais bewundern  – Deckengemälde, vergoldete Ornamente, Statuen und Hunderte von Gemälden, die Katharina fuhrenweise in Großbritannien, Frankreich, in den Niederlanden, in Deutschland und Italien gekauft hatte. Alles kündete von erlesenstem europäischem Geschmack. Ref 144

/epubstore/W/A-Wulf/Die-jagd-auf-die-venus/OEBPS/e9783641073022_i0043.jpg

Ein vornehmer, in Pelze gekleideter Russe.

Wie an jedem Sonntag hatte Katharina zur Mittagszeit in ihrer Palastkirche Andacht gehalten und empfing nun in ihrem Salon Gesandte und »ausländische Edelleute« zu einem zeremoniellen Handkuss. Als die sieben Astronomen vorgestellt wurden, erblickten sie eine 39-jährige Frau, die von vielen Kommentatoren noch immer als schön beschrieben wurde. Andere Zeitgenossen berichteten von ihren blauen Augen, in denen ein »prüfender Ausdruck« lag, und von ihrem Charme. Vor allem aber beeindruckte sie mit ihrem Verstand und ihrer »brillanten« Konversation, denn sie war mit einer enormen Vielzahl von Themen vertraut. Es ist nicht überliefert, was Katharina im Einzelnen sagte, als sich ihre Astronomen vor ihr verbeugten und ihr die Hand küssten, aber sie hatten ihre letzte Pflicht erledigt und waren nun für die Begegnung mit Venus bereit. Ref 145