Kapitel zwei

Die Franzosen sind die Ersten

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Als sich der Nebel am Kap der Guten Hoffnung hob, entdeckte Le Gentil vier Schiffe am Horizont. Noch etwa fünf Meilen entfernt, aber sich rasch nähernd, erschienen die bedrohlichen britischen Kriegsschiffe riesig im Vergleich zu der kleinen Fregatte, auf der der französische Astronom reiste. Ein Blick durch sein Teleskop zeigte ihm, dass zwei der Schiffe über je 64 Kanonen verfügten  – der französische Segler hatte nur 24. Die Briten verfolgten das Schiff seit ein paar Tagen, aber das Wetter hatte ihm immer ermöglicht, ihnen zu entkommen  – bis jetzt.

Als ob Seereisen seinerzeit nicht auch so schon gefährlich genug gewesen wären, wurden sie durch die unberechenbare politische Situation noch riskanter. Mitten im Siebenjährigen Krieg schickte Delisle die Astronomen in Kampfgebiete. Da ihre Reise zwischen kriegführenden Armeen hindurch verlief, war höchst ungewiss, ob sie ihre Bestimmungsorte erreichen würden. Großbritannien und Frankreich waren Kriegsgegner, daher hätte das Auftauchen der feindlichen Flotte durchaus das frühzeitige Ende von Le Gentils Reise bedeuten können. Zwar hatten sich Wissenschaftler beider Länder bereit erklärt zusammenzuarbeiten, doch war ihr Projekt im größeren politischen und wirtschaftlichen Rahmen ohne Bedeutung. Mochten die Royal Society in London und die Académie des Sciences in Paris auch dasselbe Ziel verfolgen, wenn ein britisches Schiff einem französischen begegnete, war eine Seeschlacht unvermeidlich. Der Krieg hatte die Seefahrt zu einem so riskanten Unterfangen gemacht, dass die britische Ostindien-Kompanie der Royal Society sogar geraten hatte, an jeden Ort zwei Beobachter zu schicken, sie aber »auf verschiedenen Schiffen« reisen zu lassen, falls eines angegriffen würde.

Es war nicht das erste Mal, dass der 34-jährige Le Gentil auf seiner Reise dem Feind begegnete. Seit er Brest zwei Monate vorher, Ende März 1760, verlassen hatte, sahen sie sich gezwungen, im Zickzackkurs den Ozean zu kreuzen, um den Briten zu entgehen. Dieses Mal war ein Entkommen allerdings unwahrscheinlich. Le Gentil sah die Briten rasch näher kommen  – trotz des starken Windes fuhren sie unter vollen Segeln. In der Absicht, die französische Fregatte in die Zange zu nehmen, scherte ein britisches Schiff nach Steuerbord aus und das andere nach Backbord, schrieb Le Gentil  – »um uns zwischen zwei Feuer zu nehmen«.

Angesichts dieser Gefahr bewies Le Gentil große Entschlossenheit. Schließlich hatte er eine wichtige astronomische Aufgabe zu erledigen, und nichts  – weder Kriege noch Wellen  – konnten ihn aufhalten. Egal, wie stürmisch die Meere und wie nah die feindlichen Kanonen waren, Le Gentil war bereit, sein Leben für Wissenschaft und Erkenntnis zu riskieren. In dieser Nacht, als sie über die raue See gejagt wurden, bereitete sich ein unerschütterlicher Le Gentil auf eine Mondfinsternis vor  – eines der seltenen Ereignisse, mit denen er die genaue Position des Schiffs bestimmen konnte. Als sich die Erde langsam zwischen Sonne und Mond schob, sodass ihr Schatten den Mond verbarg, richtete Le Gentil sein Teleskop auf den verschwindenden Trabanten  – fort von den britischen Kriegsschiffen. Ref 26

Glücklicherweise war das Wetter auf ihrer Seite: Ein dicker Vorhang aus Nebel und Regen verhüllte Le Gentils Fregatte vor den Blicken der Briten, sodass sie in die Weite des Ozeans entkommen konnte. »Der Nebel schien für uns gemacht zu sein«, schrieb Le Gentil später; mit Hilfe seiner astronomischen Beobachtungen und der Mondfinsternis war er sogar in der Lage, dem Kapitän bei der Umsegelung des gefährlichen Kap der Guten Hoffnung zu helfen.

Die Stürme setzten ihrem Schiff jedoch so zu, dass die Segel zu nutzlosen Streifen zerfetzt wurden. Immerhin hatte sich Gentils Seekrankheit gebessert, die ihn so gequält hatte, dass er den Tod als »Erleichterung« herbeigesehnt hatte. Er fühlte sich gut genug, um zu erklären, ihm sei nun »wohler als normalerweise an Land«, daher messe und beobachte er die Sterne, »ohne zu ermüden«. Sechs Wochen kreuzten sie langsam über den Indischen Ozean, bis sie Mauritius (damals Île de France) erreichten.

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Mauritius war eine Zwischenstation auf der französischen Handelsroute nach Indien und wurde daher von der Compagnie des Indes verwaltet; außerdem war es ein wichtiger französischer Marinestützpunkt mit einer florierenden Werftindustrie. Von dort aus führten die Franzosen Angriffe gegen britische Besitzungen in Indien, und  – so hatte man Le Gentil berichtet  – dort würde er auch eine Schiffspassage nach Pondichéry finden. Am 11. Juli ging Le Gentil in Mauritius von Bord  – drei Tage bevor der Royal Society die erforderlichen Mittel von König Georg II. bewilligt wurden. Ref 27

Seine Reise sei, so berichtete Le Gentil jetzt ziemlich unbekümmert in einem Brief an die Akademie, »denkbar angenehm und glücklich gewesen«. Doch selbst Le Gentil, mit seiner Begabung, sich auch noch die schrecklichste Begebenheit schönzureden, verzweifelte, als zwei Tage später ein Schiff aus Indien eintraf und die niederschmetternde Nachricht brachte, dass die französischen Besitzungen in Indien unter den britischen Angriffen zerbrachen. Bereits drei Jahre zuvor hatte Robert Clive mit seinem entscheidenden Sieg in der Schlacht von Plassey Bengalen unter britischen Einfluss gebracht. Jetzt war Karaikal, ein französischer Hafen, nur 150 Kilometer südlich von Pondichéry gelegen, von den Engländern eingenommen worden, während Pondichéry selbst  – der Hauptsitz der Compagnie des Indes in Indien  – belagert wurde. Rund 3000 Briten seien, so berichtete der französische Kapitän dem geschockten Le Gentil, »für die Belagerung« nach Pondichéry gesandt worden. Als er die indische Küste 25 Tage zuvor verlassen habe, sei der Feind damit beschäftigt gewesen, »seine Artillerie vor Pondichéry in Stellung zu bringen«. Was die Sache noch schlimmer machte: Einen Großteil der französischen Flotte, die im Marinestützpunkt auf Mauritius stationiert und zur Unterstützung von Pondichéry abgeordnet war, hatte einige Monate zuvor ein Hurrikan vernichtet  – einige Schiffe waren gesunken, andere an den Korallenbänken zerschmettert worden. »Ich weiß nicht, wann ich aufbrechen kann«, schrieb Le Gentil verzweifelt nach Paris. Für den Augenblick saß er jedenfalls auf Mauritius fest. Es sah so aus, als sei die erste französische Expedition bereits gescheitert. Ref 28

Doch so leicht gab Le Gentil nicht auf. Er beschloss, einen anderen Ort für die Transit-Beobachtung zu finden. Beharrlich sann er auf einen Plan, fürchtete aber, dass er seine Zeit mit »Luftschlössern« verschwendete. Als er Delisles ursprüngliche Liste möglicher Beobachtungsorte durchsah, fiel seine Wahl zunächst auf Jakarta als mögliche Alternative zu Pondichéry, doch schließlich gab er den Gedanken auf. Während er wartete, hatte nicht ein einziges Schiff die Insel angelaufen, geschweige denn Kurs auf Ostindien genommen. Seiner Ansicht nach bestand die einzige Möglichkeit darin, mit einem kleinen einheimischen Boot nach Rodriguez zu segeln, einer nahe gelegenen Insel, die vor allem wegen ihrer Schildkröten bekannt war. Keine Ideallösung, denn nach Le Gentils Berechnungen würde die Sonne auf Rodriguez während des Transits sehr niedrig stehen. Das würde die Beobachtungen erschweren, weil der Horizont »immer dunstig und mit dicken Wolken bepackt ist«. Das Klima von Rodriguez verhieß ebenfalls nichts Gutes, weil der Himmel, wie man ihm sagte, während des Monsuns oft bewölkt war. Aber er habe keine Wahl, erklärte er, weil »ich hier ohne jede Hoffnung bin«.

Auch abgesehen von den Sorgen um die Transit-Beobachtung, war Gentils tägliches Leben während der nächsten Monate auf Mauritius unerfreulich. Da Pondichéry von den Briten belagert wurde, konnten keine Lieferungen aus Indien eintreffen, und die korrupten Beamten der Compagnie des Indes in Mauritius verkauften die noch in ihren Lagern verbliebenen Güter zu absurd überhöhten Preisen. »Das Leben ist entsetzlich teuer«, schrieb Le Gentil nach Paris, wobei er sich besonders über die Weinpreise beklagte. Zusätzlich wurde er durch eine hartnäckige Ruhrerkrankung geschwächt und litt unter der feuchten Luft, die wie ein dickes Tuch über der Insel lag. Er war sich sicher, dass seine Krankheit auf die Enttäuschung zurückging. »Ärger und Sorge« wegen der Transit-Beobachtungen hatten ihn krank gemacht. Ref 29

Als Le Gentil den Plan fasste, nach Rodriguez zu segeln, hatten die Mitglieder der Académie in Paris ironischerweise gerade beschlossen, auch Alexandre-Gui Pingré nach Rodriguez zu entsenden. Mit seinem scheinbar nie versagenden Talent, Probleme anzuziehen, war es Le Gentil gelungen, sich aus den unendlichen Weiten des Ozeans ausgerechnet jenes winzige Fleckchen Land herauszusuchen, das die Akademiemitglieder für einen anderen französischen Beobachter bestimmt hatten. Durch reinen Zufall waren zwei Beobachter, die eigentlich so weit wie möglich voneinander getrennt sein sollten, im Begriff, sich aufeinander zu zubewegen.

 

Die Mitglieder der Akademie hatten den Sommer und Herbst 1760 gebraucht, um zu entscheiden, wohin sie Pingré schicken wollten. Während dieser Wochen hatten zwei französische Astronomen  – mit Hilfe von Pingré selbst  – einen Bericht für den Außenminister und für König Ludwig XV. aufgesetzt, in dem sie die Bedeutung der Expeditionen darlegten. Le Gentils früher Aufbruch sei ein Beweis für den »Eifer« der Akademie, hieß es dort, aber die Franzosen könnten noch mehr tun. Der Transit sei ein »kostbarer Augenblick«, machte ein anderer Astronom in einem weiteren Bericht geltend, und wenn man ihn nicht nutzte, würde man nie in der Lage sein, die verschenkte Gelegenheit wieder wettzumachen. Das vergangene Jahrhundert habe sie um diesen Augenblick »beneidet«, und die »Zukunft« würde jene tadeln, die ihn missachtet hätten.

Zunächst hatte die Akademie gehofft, Pingré zu einem der portugiesischen oder holländischen Häfen entlang der afrikanischen Südwestküste schicken zu können  – beispielswiese nach Luanda in Portugiesisch-Angola oder zu einem Hafen in Holländisch-Guinea. Mehrere Orte wurden in Erwägung gezogen und von allen Seiten beleuchtet, etwa im Hinblick auf Pingrés Reisemöglichkeiten, auf Wettervorhersagen und vorhandene Infrastruktur. Überall, so der Bericht, sei das Klima »gefährlich für Ausländer«. Man müsse unbedingt zwei Forscher entsenden, weil Pingré, falls er sterbe, »ersetzt werden muss«. Tapfer erklärte Pingré, er sei »von diesen Gefahren nicht beunruhigt«, die Académie solle daher die »Risiken« für sein persönliches Wohlergehen nicht berücksichtigen. Ref 30

Der 48-jährige, gichtkranke Pingré war auf den ersten Blick ein denkbar ungeeigneter Kandidat für eine so gefährliche Expedition. Sein beleibter Körper und sein pausbäckiges Gesicht ließen auf ein heiteres Naturell und ein sinnliches Vergnügen an den guten Dingen des Lebens schließen. Er war ein Universalgelehrter und ordinierter Priester, der Theologie studiert und gelehrt hatte, aber auch über Sprachwissenschaft, Musik, Poesie und, natürlich, Astronomie schrieb. Allerdings verbarg sich hinter seinen freundlichen und lebhaften Augen ein sehr eigenwilliger Charakter. In der Vergangenheit hatte er seine Kirche so sehr mit seinen unorthodoxen Auffassungen erzürnt, dass sie ihn in eine armselige Volksschule in der Provinz versetzte. Von dem Leben dort gelangweilt, hatte sich Pingré mit 38 Jahren der Astronomie zugewandt und die Académie in Paris mit wissenschaftlichen Briefen und Aufsätzen bombardiert. Mit seinen Ausführungen über Kometen, Verfinsterungen, Navigation und über den Venus-Transit hatte er sich langsam einen Ruf erworben. Schließlich hatte ihn das Kritikerlob für seine astronomische Forschung sogar innerhalb der Kirche rehabilitiert, sodass ihm gestattet wurde, an die Pariser Abtei Sainte-Geneviève, eine berühmte Bildungsstätte, zurückzukehren. Wie Le Gentil und Delisle hatte Pingré den Durchgang des Merkur im Jahr 1753 beobachtet und mehrfach seine Dienste für die Venus-Expeditionen angeboten. Angesichts seiner Fachkenntnisse waren sich die Adademiemitglieder sicher, dass Pingrés Arbeit ihre Erwartungen »zweifellos übertreffen« würde. So beschloss man, nach Holland und Portugal zu schreiben, um herauszufinden, welche Häfen von Handelsschiffen angelaufen wurden und deshalb für Pingré am leichtesten zu erreichen waren. Ref 31

Wie zu erwarten, waren die Portugiesen und Holländer, die von vornherein wenig Interesse am Transit gezeigt hatten, nicht besonders erpicht darauf, den Franzosen Gelegenheit zur Vermessung ihrer Kolonialbesitzungen zu geben. In ihren Antworten sprachen sie höflich von »vielen Hindernissen«. Rasch wartete die Académie mit einer neuen Strategie auf: Pingré sollte den Transit von einem Teil des französischen Kolonialreichs aus beobachten, wo er sich der Unterstützung durch die lokale Verwaltung sicher sein konnte. Nach einigen Diskussionen entschied sich die Akademie für Rodriguez, das zum Handelsnetz der französischen Ostindien-Kompanie gehörte. Angeblich war dort der Junihimmel klar (ganz im Gegensatz zu den Informationen, die Le Gentil erhalten hatte), außerdem lag die Insel an der Handelsroute zwischen Frankreich und Indien und befand sich in französischer Hand.

Am 16. November, als Le Gentil mit einem Ruhranfall auf Mauritius das Bett hütete, kam Pingré mit seinen Freunden in Paris zu einem Abschiedsessen zusammen. Der Wein floss in Strömen, das Essen schmeckte hervorragend, und die Stimmung war ausgelassen. Nur Pingré saß stumm dabei. Ausnahmsweise einmal vermochte sich der Franzose, der selbst unter widrigsten Umständen seinen Appetit nicht verlor, nicht zum Essen aufzuraffen. Die letzten hektischen Wochen waren wie im Flug vergangen, doch nun, da er seine Freunde und Kollegen der Pariser Akademie vor sich sah, dämmerte ihm plötzlich, was er zu tun im Begriff war. Das Geplauder seiner Tischgenossen trat in den Hintergrund, während er an seine ungewisse Zukunft dachte. Morgen würde er die Welt, die er kannte, hinter sich lassen und im Namen der Wissenschaft um die Erde reisen. Zwar bereute er nicht, sich freiwillig bereit erklärt zu haben, war aber doch besorgt. Die Berufung, so räumte Pingré ein, habe ihm »außerordentlich geschmeichelt«, doch jetzt begannen ihn die Warnungen der Freunde zu beunruhigen. Sie seien »die ersten gewesen, die um sein Schicksal gebangt hätten«, sagte Pingré, und hätten daher versucht, ihm klarzumachen, dass sein Leben in Gefahr sei. Plötzlich sah er die Reise mit anderen Augen: Möglicherweise warteten auf ihn Tod und Verderben anstelle von Ruhm und Ehre. Da sich ganz Europa im Krieg befand, riskierte er »meine Freiheit, meine Gesundheit und sogar mein Leben«. Ref 32

Besorgt, aber noch immer entschlossen, nahm Pingré am folgenden Tag eine Kutsche nach Lorient an der bretonischen Küste  – dem Sitz der Compagnie des Indes  –, um sich dort an Bord eines Ostindienfahrers zu begeben. Bei seiner Ankunft verwandelte sich seine Furcht rasch in Zorn, weil die örtlichen Angestellten beanstandeten, dass er viel zu viel Gepäck habe. Ursprünglich als Kriegsschiff mit 64 Geschützen erbaut, war die Comte d’Argenson zu einem Frachtschiff der Compagnie umgewandelt worden. 38 Geschütze waren entfernt worden, um Platz für Handelswaren und Passagiere zu schaffen  – und, wie Pingré glaubte, für seine astronomische Ausrüstung. Empört wies Pingré darauf hin, dass 300 bis 400 Kilogramm Gepäck  – Teleskope, Quadranten und die große Pendeluhr  – nicht ungewöhnlich für einen Astronomen seien. Trotz Pingrés Einwänden zog sich der Streit wochenlang hin. Die örtlichen Angestellten schienen unter allen Umständen dafür sorgen zu wollen, dass sich Pingrés Abenteuer im Rahmen ihrer Regeln und Vorschriften bewegte. Schließlich musste die Académie in Paris intervenieren, und nach wochenlangem Warten konnte Pingré am 9. Januar 1761 endlich in See stechen  – ihm blieben nur noch vier Monaten und achtundzwanzig Tage bis zum Transit. Ref 33

Nachdem seine kostbare Ausrüstung sicher verstaut war, wandte Pingré seine Aufmerksamkeit nun der nächstwichtigen Frage zu, dem Essen. Er erkundigte sich beim Kapitän nach der Verpflegung an Bord, füllte sein Tagebuch mit einer detaillierten Liste der in der Schiffsküche vorhandenen Vorräte: Käse, Schinken, Pökelfleisch, Pastete und so fort, erfuhr aber zu seiner Enttäuschung, dass es nur eine Mahlzeit pro Tag gab. Die erste Nacht auf See war rau. Die meisten Passagiere »zollten der See Tribut«. Dank seinem robusten Magen blieb Pingré zwar die Seekrankheit erspart, er schlief aber schlecht wegen der Gichtschmerzen im rechten Fuß. Überdies musste er im Dunkeln liegen, denn um keine Feinde anzulocken, durften sie während der Nacht weder Lampen noch Kerzen anzünden. Seine kleine Kabine war nur durch provisorische Trennwände vom Kanonendeck abgeteilt  – die Kanonen hinter der dünnen Wand waren ein greifbarer Beweis, dass die See ein heiß umkämpftes Gebiet war. Aber Pingré war vorbereitet. Er hatte einen Pass, den die Royal Society in London von der britischen Admiralität für ihn hatte ausstellen lassen: einen Generalbefehl an alle britischen Schiffskommandanten, »unter keinen Umständen ihn selbst oder seine Habe anzutasten«. Er reise im Namen der Wissenschaft, und die britischen Kapitäne, so der Befehl, seien gehalten, den Franzosen »ohne Verzug oder Störung gewähren zu lassen«.

An seinem ersten Morgen auf See hörte Pingré die Rufe der Seeleute, während sie in der Takelage arbeiteten. Der Wind blähte die weißen Segel. Die schwer beladene Comte d’Argenson durchschnitt mit ihrem Bug die grauen Wogen und zog einen ephemeren Schweif aus weißem Schaum hinter sich her. Als der Kapitän plötzlich einige Befehle brüllte, lief eine Kakophonie von lauten Stimmen, trappelnden Füßen und klirrendem Metall durch das Schiff. Nur zwei oder drei Meilen entfernt war eine Flotte von fünf britischen Kriegsschiffen gesichtet worden, die einen Angriff vorbereiteten. Als der Kapitän seine Leute an die Kanonen schickte, rissen sie die neuen Trennwände nieder. Gepäck, Holz, Seile und Kanonenkugeln fielen chaotisch durcheinander. Die Passagiere mussten mitansehen, dass dort, wo eben noch ihre Kabinen gewesen waren, schwere Geschütze in Stellung geschoben wurden. In einem letzten Versuch, ein Gefecht zu vermeiden, ließ der Kapitän kreuzen. Stundenlang fuhren sie im Zickzackkurs über die See  – die Briten dicht hinter ihnen. Immer wenn sie glaubten, sich etwas vom Feind abgesetzt zu haben, tauchten weitere britische Schiffe auf. Zwischen Mittag und frühem Abend zählte Pingré acht neue Schiffe. Dann wurde es Nacht, und plötzlich schlug der Wind um, sodass es ihnen schließlich gelang, sich in der Dunkelheit davonzumachen. »Die Vorsehung«, schrieb er in dieser Nacht in sein Tagebuch, hatte sie entkommen lassen, »ohne dass ein Schuss fiel«. Ref 34

Nach diesem glücklichen Rückzug verlief die Reise relativ ereignislos. Gelegentlich erblickten sie feindliche Schiffe in der Ferne, aber es gelang ihnen stets, einen Kampf zu vermeiden. In den ersten Wochen, als seine Begeisterung für die Reise noch nicht durch die Untätigkeit gedämpft wurde, erfreute Pingré sich an der Musik und dem Tanz der Seeleute, die das ganze Schiff in »einen großen Ballsaal« verwandelten. Als aber ein Tag wie der andere verstrich, ohne dass das Geringste passierte, wurde Pingré von grenzenloser Langeweile ergriffen. Er aß, beobachtete den Nachthimmel und angelte. Der sonst so freundliche und gesellige Astronom fühlte sich gelangweilt von den anderen Passagieren, überwiegend Angestellte der Compagnie des Indes. Es wäre besser, meinte er, »allein zu sein als in Gesellschaft von Leuten, die man nicht mag«. Es gab nicht genug Bücher, dafür zu viel Lärm und keinen Platz zum Spazierengehen. Das Leben an Bord war so öde, dass ein anderer Passagier meinte, er wäre lieber Gefangener in der Bastille.

Nur gelegentlich wurden diese sich scheinbar endlos hinziehenden Tage durch Neues unterbrochen. Eines Morgens entdeckte Pingré beispielsweise, dass sie ihren Karten nach über das feste Land der Kapverdischen Inseln gesegelt waren, und meinte scherzend zur Besatzung, die Comte d’Argenson »sei ein ausgezeichnetes Schiff und könne Land und Felsen so mühelos wie die Wogen des Meeres zerteilen«. Sie sahen fliegende Fische, und manchmal war das Meeresleuchten so stark, dass das Wasser »in Flammen« zu stehen schien, und einmal musste ein Matrose aus dem Meer geborgen werden, weil er vom Besanmast gestürzt war. Der denkwürdigste Tag war ihre Äquatorquerung. Tagelang bereiteten die alten Seebären die »Äquatortaufe« vor, zogen das Kostüm des sogenannten »Père de la Ligne«  – »Vater des Äquators«  – an und probten die Streiche, die sie den Äquator-Neulingen spielen wollten. Ref 35

Obwohl die »Feier« und die Scherze töricht waren, hatte dieser Augenblick doch etwas Majestätisches, vor allem für einen Astronomen. Sobald sie den Äquator überquert hatten, offenbarte ihnen die südliche Hemisphäre ein schimmerndes Himmelsgewölbe mit Sternen, die Pingré noch nie gesehen hatte. Der Astronom, der einmal geäußert hatte »der Schnaps verleiht uns die erforderliche Kraft, um die Entfernung zwischen Sonne und Mond zu messen«, begann, seine Beobachtungen ernster zu nehmen, und erledigte seine Messungen nun »nicht mehr mit der Flasche, sondern mit dem Oktanten«.

Alles verlief planmäßig bis zum 8. April 1761, kurz nach der Umsegelung des Kap der Guten Hoffnung. Am Morgen sichteten sie in der Ferne einen Segler, von dem sie zunächst befürchteten, es sei ein feindliches Schiff  – das sich dann aber als die Le Lys entpuppte, ein französisches Versorgungsschiff, das von den Briten angegriffen worden war. Der vom Kap kommende Segler war bis zum Rand beladen mit Vorräten für die Speicher der Compagnie des Indes auf Mauritius. Allerdings war er so schwer beschädigt, dass der Kapitän anordnete, Pingrés Schiff sollte ihn begleiten und schützen. Ref 36

 

Als sie langsam in Richtung Mauritius fuhren  – auf der Comte d’Argenson hatte man die Segel gerefft, um sich der Geschwindigkeit der Le Lys anzupassen  –, wurde Pingré immer aufgebrachter. Niemals würden sie rechtzeitig nach Rodriguez gelangen, wenn sie zuerst Mauritius anlaufen müssten. Seine Reise, so Pingré, würde »vollkommen nutzlos sein«.11 Er argumentierte, bat und flehte, ja, er drohte den Kapitänen sogar mit gerichtlichen Schritten. Eines Abends schrieb er einen offiziellen Beschwerdebrief, in dem er die beiden Männer daran erinnerte, dass er im Auftrag des französischen Königs, der Académie des Sciences und der Compagnie des Indes unterwegs sei und eindeutige Befehle habe, sich nach Rodriguez zu begeben. Das sei »seine heiligste Pflicht«, schrieb Pingré, »ganz Europa« schaue auf ihn, weil seine Beobachtungen nicht nur für Frankreich, sondern auch für die Wissenschaft von größter Bedeutung seien. Als sein hochtrabender Ausbruch nicht die erhoffte Wirkung zeitigte, versuchte Pingré die beiden Männer mit Vernunft und logischem Denken zu überzeugen, indem er immer und immer wieder die exakte Position der Schiffe bestimmte und den beiden Kapitänen erklärte, dass sie sich eigentlich auf dem Kurs nach Rodriguez befanden. Zunächst hatte der Kapitän der Le Lys versucht, Pingré mit frischem Obst und Fleisch vom Kap zu besänftigen, doch schließlich war er so genervt von dem pausenlosen Gemecker des Astronomen, dass er drohte, »ihn über Bord zu schmeißen«.

Pingrés Kursberechnungen erwiesen sich als richtig. Am 3. Mai 1761 sah er Rodriguez am Horizont. Obwohl sie so nahe waren, blieb die Insel unerreichbar für ihn. Einer der Offiziere der Comte d’Argenson machte einen letzten Versuch, den Kapitän zu einem kurzen Halt zu bewegen, damit Pingré an Land gehen konnte. Doch es hatte keinen Sinn, weiter zu flehen, der Kapitän hatte seine Entscheidung gefällt. Mit Kurs auf Mauritius segelte Pingré an Rodriguez vorbei. Nach viermonatiger Seereise verfehlte er seinen Bestimmungsort nur um wenige Meilen. Ref 37

 

Hätte Le Gentil Erfolg mit seinem Plan gehabt, Mauritius zu verlassen, um den Transit auf Rodriguez zu beobachten, hätten sich die Wege der beiden französischen Astronomen möglicherweise auf See gekreuzt. Doch überraschenderweise war es Le Gentil gelungen, eine Überfahrt nach Indien zu finden. Ende Februar war aus Frankreich ein Schiff auf Mauritius eingetroffen, mit der Order, Verstärkungskräfte nach Pondichéry zu schicken. Nach einigem Hin und Her beschloss der Gouverneur und Kommandant der Insel, die Le Sylphide, eines der wenigen Schiffe, die noch in der dezimierten Flotte von Mauritius verblieben waren, für diese Aufgabe abzustellen. Sofort erkannte Le Gentil seine Chance. Die Zeit war knapp, aber die Seeleute versicherten ihm, dass sie die Überfahrt in zwei Monaten schaffen könnten  – gerade noch rechtzeitig für den Transit. Mehr war nicht nötig, um Le Gentil zu überzeugen. Pondichéry war laut Delisle und Halley einer der wichtigsten Beobachtungsorte auf der Erde, und Le Gentils Berechnungen für die Transit-Beobachtung von Rodriguez und Mauritius waren nicht sehr verheißungsvoll. Für den Fall, dass die Stadt noch immer in britischer Hand war, rechnete Le Gentil zuversichtlich damit, dass er an der indischen Südostküste eine andere Beobachtungsstation finden würde.

Am 11. März 1761 verließ Le Gentil Mauritius und befand sich nach einem kurzen Zwischenhalt auf der Nachbarinsel Réunion (die damalige Île Bourbon) auf dem Weg nach Pondichéry. Zunächst berichtete der überglückliche Le Gentil, alles verlaufe reibungslos. Jeden Tag legte das Schiff zwischen 30 und 45 Seemeilen zurück. Sie kamen zügig voran, bis sie nördlich von Madagaskar auf den Nordostmonsun trafen. Statt in gerader Linie quer über den Indischen Ozean nach Indien zu segeln, trieben die Winde sie in Richtung Afrika. Sie kamen kaum noch voran. Da die Übergangszeit des Monsuns in den April und Mai fällt  – dann drehen die Winde langsam und werden zum Südwestmonsun der Sommermonate  –, betete Le Gentil jeden Morgen, dass sie ihre Richtung verändert hätten. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Statt vor kräftigen westlichen Winden zu laufen, die sie rasch nach Pondichéry getragen hätten, lag das Schiff bewegungslos in einer Flaute, als hätte jemand plötzlich die Bremsen gezogen. Ref 38

Ende April konnte Le Gentil zu seinem Entsetzen die Küstenlinie der Insel Sokotra, unmittelbar östlich des Horns von Afrika, sehen. Es blieb nur noch ein Monat bis zum Transit, aber er war noch mehr als 2000 Seemeilen von Pondichéry entfernt. Reglos hingen die Segel von den Rahen, und das Schiff schien unbeweglich auf der spiegelglatten See zu liegen. Bei Tag wurde die Luft von der Hitze mit unruhigem Flimmern erfüllt, und am Abend blickte Le Gentil über das Meer und stellte sich vor, dass »goldene Pailletten« über die endlose Wasserfläche gestreut worden wären. Das Schauspiel regte seine Sinne an. Nie zuvor hatte er dergleichen gesehen und gewann den Eindruck, dass die Sonnenstrahlen »goldenen Säulen« glichen, die vom Horizont bis zu ihrem Schiff reichten. Es gab keine Wolke, die das blaue Himmelsgewölbe über ihnen fleckte, aber auch keinen Windhauch, der ihre Segel blähte. So selten schön dieser Anblick auch war, das Schiff kam nicht voran. Obwohl sie Mauritius sieben Wochen zuvor verlassen hatten, waren sie noch immer näher an Afrika als an Indien.

Mitte Mai dann, als nicht mal ein Monat bis zum Transit blieb, stießen sie endlich auf den Südwestmonsun. Als ihr Segler nun durchs Meer rauschte, gestattete sich Le Gentil wieder ein wenig Hoffnung. Ende des Monats konnte er in der Ferne eine Lichterkette erkennen. Sie waren schnell gewesen, aber nicht schnell genug  – die Lichter waren nicht die von Pondichéry an der indischen Südostküste, sondern von Mahé an der Südwestküste  – auch ein französischer Handelshafen. Jetzt mussten sie es in weniger als zwei Wochen bis Pondichéry schaffen.

Am nächsten Morgen, als sie sich der Küste näherten, sah Le Gentil die englische Fahne im Wind flattern. Zwei kleine Boote stoppten ihr Schiff und übergaben Briefe des Gouverneurs von Mahé. Er schrieb, dass der Hafen von den Briten erobert worden sei. Die Nachricht erwies sich beim Weiterlesen als noch schlimmer: Auch Pondichéry hatte sich den Belagerern ergeben. Es bestand keine Aussicht, den Transit von dort aus zu beobachten. Ref 39

»Zu meinem großen Verdrusse«, schrieb Le Gentil am 24. Mai in sein Tagebuch, wurde trotz seiner flehentlichen Bitten beschlossen, nach Mauritius zurückzukehren. Da keine Zeit zu verlieren war und die Gewässer von britischen Schiffen wimmelten, gab der Kapitän Befehl zur Kursänderung. Als hätten sich Himmel und Meer ebenfalls gegen sie verschworen, gerieten sie in einen Sturm, der so heftig war, dass ihr Schiff von den Wogen in schwindelnde Höhe getragen wurde. Le Gentil wusste nicht, wie ihm geschah. Er war der erste Astronom gewesen, der Europa verlassen hatte, und nun, mehr als ein Jahr später, war ihm die Möglichkeit, das wunderbare Planetentreffen zu beobachten, von der britischen Armee entrissen worden.

Nachdem sich Le Gentils Hoffnungen durch die Neugestaltung der imperialen Landkarte zerschlagen hatten und Pingré an Rodriguez vorbeigesegelt war, schienen zwei der wichtigsten Transit-Expeditionen gescheitert zu sein, bevor noch die Venus der Sonne nahe gekommen war.