Epilog

Jeb fiel. Die Augen weit aufgerissen, mit den Armen rudernd jagte er auf das blaue Wasser zu und durchbrach die Oberfläche.

Die Geschwindigkeit des Falls trieb ihn tief unter die Wasseroberfläche, dann wurde er herumgewirbelt, ohne zu verstehen, was geschehen war.

Er wollte den Mund aufreißen, atmen, aber eine Stimme in ihm flüsterte ihm zu, dass er dann sterben würde. Ertrinken.

Plötzlich begriff er, wo er sich befand. Unter Wasser.

Ich muss an die Oberfläche.

Doch wo war oben?

Da, dort das Licht, schimmernd, leuchtend wies es ihm den Weg. Jeb machte kräftige Schwimmbewegungen, durchbrach die Oberfläche, riss den Mund weit auf und die Luft strömte in seine Lunge. Hustend, röchelnd schnappte er nach Luft.

Es war ein Gefühl wie neu geboren zu werden.

Nach wenigen Momenten der Orientierung begriff er, wo er war. Er schwamm in einem schier unendlichen Blau dahin. Über ihm der strahlend helle Himmel, unter ihm die unendliche Tiefe und Weite des Ozeans.

Da hörte er links von sich eine Stimme. Mary. Er ruderte mit den Armen, und tatsächlich. In wenigen Metern Entfernung kam sie auf ihn zugeschwommen, entspannt, wenn auch mit einem immer noch kalkweißen Gesicht.

Kein Wunder, wenn ich daran denke, was sie vor wenigen Minuten noch für uns getan hat.

Gerade wollte er auf sie zuschwimmen, als oberhalb von ihm, nicht weit entfernt, ein wilder Schrei ertönte. Jeb legte den Kopf in den Nacken und konnte gerade noch sehen, wie Jenna ins Wasser geschleudert wurde. Weiße Gischt schäumte an der Stelle auf, an der sie versunken war.

Erleichtert drehte er sich im Wasser zu ihr und wartete, dass sie wieder auftauchte.

Er wartete.

Er wartete darauf, dass Jenna auftauchte, aber sie tat es nicht. Ein Schreck durchzuckte ihn, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. Jetzt nicht die Nerven verlieren.

Er wartete noch ein paar Sekunden. Zu lange.

Los, Jenna, mach schon!

Jeb tauchte, ohne zu zögern, unter. Mit offenen Augen, in denen das Salz brannte, schwamm er in die dunkle Tiefe.

Nichts.

Keine Jenna!

Keine Fische oder Pflanzen, gar nichts. Kein Zeichen von Leben.

Nur Leere, die mit jedem Armzug dunkler wurde.

Plötzlich drängten von unten kleine Luftblasen zu ihm herauf, sie flirrten an ihm vorbei und stiegen hinter ihm empor.

Luft bedeutete Atem. Atem bedeutete Jenna.

Sie war da unten. Wahrscheinlich vollkommen verwirrt, schwamm sie in die falsche Richtung. Tiefer.

Bald würde ihr die Luft ausgehen.

Aber sie wurde auch für Jeb knapp. Seine Lungen zogen sich zusammen und der Wunsch zu atmen wurde übermächtig, aber jetzt aufzusteigen, würde Jennas Schicksal besiegeln. Nein! Bis er Luft geschnappt hätte und erneut zu ihr hinabtauchte, wäre sie ertrunken.

Ich muss es jetzt tun.

Jeb zog kräftig seine Arme durchs Wasser. Er ignorierte den Druck in seinem Oberkörper, der ihm das Gefühl gab, gleich zu explodieren, und schwamm tiefer.

Da! Ein goldenes Schimmern! Das muss Jenna sein. Ihr Haar.

Durch das Wasser war ihr Körper erst nur ein Schemen, wirkte wie etwas Flüssiges, das sich im Wasser aufzulösen schien. Doch je näher er kam, desto deutlicher konnte er sie erkennen. Jenna trieb reglos durch das Wasser. Ihre Augen waren offen, sie blickte Jeb an, aber er war sich sicher, dass sie ihn nicht erkannte, nicht wusste, was geschehen war. Aus ihrem Mund stiegen noch immer Luftblasen auf, mehr konnte Jeb im trüben, gebrochenen Licht nicht ausmachen. Er streckte seine Hand nach ihr aus, packte den Kragen ihres Hemdes und wandte sich um, der Oberfläche entgegen. Hastig strampelnd schwamm er los.

Das Blut kochte inzwischen in seinen Adern. Seine Lungen schrien nach Sauerstoff, doch Jenna zog ihn nach unten. Sie rührte sich nicht.

Als er schon glaubte, es nicht zu schaffen, war plötzlich Mary da. Fasste mit einer Hand nach Jennas leblosem Körper, mit der anderen nach Jeb und zog sie beide mit sich in die Höhe, dem Licht entgegen.

Zum zweiten Mal in kurzer Zeit war da dieses befreiende Gefühl, wieder atmen zu können. Zum zweiten Mal in kurzer Zeit hatte Mary ihnen das Leben gerettet. Jeb saugte die Luft in sich ein, stieß sie hart wieder hinaus. Neben ihm hielt Mary Jennas Kopf über Wasser.

Jenna bewegte sich noch immer nicht.

Marys Gedanken flogen wild durcheinander. Sinnlose Erinnerungen tauchten auf, aber dann war da ein Bild. Gekachelte Hallen, Chlorgeruch, kaltes Wasser auf erhitzter Haut. Das Bild eines Menschen, der einen Schwall Wasser erbrach.

Jenna hat Wasser in ihren Lungen. Es muss heraus, damit sie atmen kann.

Mary schwamm hinter Jenna, ließ ihren Kopf los und schlang beide Arme um das bewusstlose Mädchen. Als sich ihre Hände vor Jennas Körpermitte trafen, legte sie alle Kraft, die sie hatte, in die Umarmung und presste Jennas Brustkorb zusammen.

Ein merkwürdiges Geräusch entwich Jennas Lippen, fast so etwas wie ein Röcheln, dann riss Jenna den Mund weit auf und ein Strahl Wasser schoss aus ihr heraus. Hustend und keuchend folgte Schwall auf Schwall, bis Jenna endlich hastig atmen konnte.

»Oh Gott«, krächzte sie. »Was ist passiert? Wo sind wir?«

Mary hielt sie unter den Armen. »Ich weiß es nicht.«

Jeb, der alles wie in einer Starre von ein paar Metern Entfernung mit angesehen hatte, schwamm heran. »Jenna, alles okay?« In seinem Blick lag echte Sorge, es versetzte Mary einen Stich.

León. Dem ich nicht mehr helfen konnte.

Jenna in ihren Armen versuchte sich an einem Lächeln. »Meine Lunge brennt wie Feuer.«

»Weißt du, wo wir sind?«, fragte Mary an Jeb gerichtet.

»Ich sehe nur Wasser um uns herum. So weit das Auge reicht«, sagte er. »Wir müssen mitten in einem Ozean gelandet sein.«

»Dann sind wir verloren«, flüsterte Mary tonlos.

»Nein«, erwiderte Jeb fest. »Das kann nicht sein. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. So kann es nicht enden. Es gibt einen Ausweg, eine Chance, die gab es bisher immer.« Er schaute Mary und die sich noch erholende Jenna eindringlich und, wie er hoffte, ermutigend an.

Er sah, wie Jenna sich umblickte. »Dann zeig sie mir, diese Chance.«

»Der Stern«, sagte Jeb. »Um Mitternacht wird er aufgehen. Bis dahin müssen wir durchhalten. Er wird uns den Weg weisen.«

»Aber wohin, Jeb? Wohin soll er uns führen. Da ist nichts. Nur Wasser und Leere.«

Mary wandte sich an Jenna. »Kannst du schwimmen?«

Sie nickte.

»Dann lasse ich dich jetzt los.«

Sie tat es und Jenna begann, Wasser zu treten.

»León ist tot«, sagte Mary nun leise. »Ich hätte bei ihm bleiben sollen. Besser mit ihm sterben als das hier.«

Keiner sagte etwas darauf. Jeb fragte sich: War es besser, in einer ausweglosen Umgebung am Leben zu bleiben und ums Überleben zu kämpfen? Warum überhaupt kämpfte er noch, rationierte seine Kräfte – Mary hatte recht: wofür?

Weil der Überlebenswille in dir steckt. Du kannst ihn nicht abstellen, dein Körper hält sich von ganz allein aufrecht. Er lässt dich mit Adrenalin Schmerzen vergessen, damit du weitermachst. Er hält das Blut in deiner Körpermitte zusammen, damit deine Organe dich am Leben halten. Er drängt dich an die Oberfläche, damit du atmen kannst. Selbst wenn du nicht mehr leben willst, dein Körper wird dich so lange am Leben halten, wie er nur kann.

Ein leichter Wind war aufgekommen. Das Wasser begann, sich zu kräuseln, dann kamen leichte Wellen auf, die auf- und abstiegen. Ihre Körper schaukelten willenlos mit ihnen. Vom Himmel brannte die Sonne auf sie herab, das Wasser glitzerte, sodass Jeb die Augen zusammenkneifen musste, um etwas zu sehen. Immer wieder drehte er sich um die eigene Achse, hob den Oberkörper aus dem Wasser und starrte ins spiegelnde Nichts.

Nirgends war der vage Umriss von Land zu sehen.

Wenn es kein Land gibt, werden wir sterben. Mary hat nicht unrecht, in der letzten Welt hätten wir kämpfen können, aber hier? Irgendwann geht uns die Kraft aus und wir können uns nicht mehr an der Oberfläche halten, dann beginnt der letzte Kampf.

Jeb hörte, wie Jenna leise mit Mary sprach. Die beiden waren einige Meter von ihm fortgetrieben und er verstand die Worte nicht. Wahrscheinlich sprach Jenna Mary Trost zu.

Um sie herum war so viel Wasser und seine Kehle brannte vor Durst. Das Wasser schmeckte salzig und es wäre sicher nicht klug, es zu trinken. Jebs Schädel glühte in der Sonne, sein schwarzes Haar lud sich in der Hitze förmlich auf. Jeb tauchte ihn kurz unter, um sich abzukühlen.

Da.

Ein diffuser Schatten von vielleicht vier Metern Länge, der schwerelos unter ihm vorüberglitt.

Haie!, kreischte es in ihm auf. Er wollte schon panisch losstrampeln und davonschwimmen, als ihm bewusst wurde, wie sinnlos das war. Wohin sollte er fliehen?

Und würde er das Tier nicht so noch mehr auf ihn aufmerksam machen?

Jeb hielt die Luft an und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren.

Es musste kein Hai gewesen sein, versuchte er sich einzureden, es konnte auch irgendein anderer großer Fisch unter ihm in die Tiefe gezogen sein.

Behalt die Nerven. Dreh nicht durch.

Sollte er den Mädchen von seiner Beobachtung erzählen? Wenn das Tier ungefährlich war, würde er sie nur in Panik versetzen, und wenn nicht, änderte es auch nichts an ihrer Situation, wenn sie um die Gefahr wussten. Sie würden immerhin keine Angst haben. Sich ruhig verhalten und nicht panisch strampeln wie er. So oder so waren sie ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert.

Jeb steckte den Kopf erneut unter Wasser und blickte sich um.

Doch nichts war zu sehen. Nur Sonnenstrahlen, die das Wasser durchbrachen und alles in unwirklichem Blau zum Leuchten brachten, bis es von der undurchdringlichen Schwärze darunter verschluckt wurde.

Jenna sah, dass Jeb mehrmals untergetaucht war und sich immer wieder suchend im Kreis drehte. Sie wollte ihn gerade fragen, was los war, als sie etwas am Bein berührte.

Etwas Glattes, Festes.

Unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus. Sofort schaute Mary, die es mittlerweile vorgezogen hatte zu schweigen, zu ihr herüber. »Was ist?«

»Etwas … etwas hat mich am Bein berührt.«

Auch Jeb war nach ihrem Schrei zögerlich zu ihnen geschwommen. Jenna blickte fragend zu Mary. Vielleicht hatte sie sie versehentlich am Bein …

»Ich war es nicht, aber ich habe es auch gespürt – unter uns.« Jenna hörte, wie Marys Stimme zitterte, und sah, wie sie innehielt, sodass das blasse Mädchen für einen kurzen Moment fast ganz unter Wasser tauchte.

Jennas riss erschrocken ihre Augen auf, vor Angst, etwas könnte sie nach unten gezogen haben. Doch dann erkannte sie, dass Mary vor Schreck nur einen Moment die Schwimmbewegungen ausgesetzt hatte. Ihr Mund stand sprachlos offen, dann fragte sie: »Jeb, was war das?«

Sollte er lügen? Ihnen verheimlichen, was er gesehen hatte? Oder besser: glaubte, gesehen zu haben? Er war sich sicher, dass sie die Wahrheit in seinen Augen erkennen konnten. Es kam jetzt nur darauf an, dass niemand in Panik ausbrach und irgendetwas tat, was die Aufmerksamkeit des Hais auf sich zog.

»Es ist ein großer Fisch in der Nähe. Ich habe ihn schon vor einer ganzen Weile bemerkt.« Er versuchte, ruhig zu klingen, als sei das nichts Besonderes.

Jennas Augen wurden noch größer und Mary starrte ihn nun ebenfalls an.

»Es ist ein Hai«, sagte Jenna sofort. »Stimmt’s?«

Jeb versuchte, seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Tatsächlich wusste er es ja nicht genau. »Ich weiß es nicht. Mehr als einen Schatten konnte ich nicht ausmachen. Er schwamm unter mir vorbei. Seitdem habe ich den Fisch nicht mehr …«

»Sag nicht ›Fisch‹, Jeb!«, unterbrach ihn Jenna ungewohnt heftig. »Wir wissen beide, was das ist. Ein großer ›Fisch‹ bedeutet: Hai. Da er uns jetzt schon so nahe gekommen ist, da er uns sogar berührt hat, dürfte auch klar sein, dass wir seine Neugierde geweckt haben. Das ist nicht gut, gar nicht gut!«

»Dann lasst uns dichter zusammen schwimmen«, sagte Jeb. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Bisher hatte er Jenna als ruhig und besonnen kennengelernt. Aber hier, im Wasser, das so offensichtlich nicht ihre Welt war, überschlugen sich ihre Gedanken vor Angst.

»Wenn wir größer als er wirken, vielleicht schreckt ihn das ab.«

Selbst in seinen eigenen Ohren klang es kläglich. Wenn wirklich ein Hai von dieser Größe seine Kreise um sie zog, war klar, dass sie leichte Beute waren. Wehrlos und geschwächt würde das Raubtier mit ihnen kurzen Prozess machen.

»Ich sehe etwas«, rief Mary plötzlich.

Jeb wandte sich ruckartig im Wasser um, obwohl er sich vorgenommen hatte, hastige Bewegungen zu vermeiden. Er dachte, Mary habe den Hai entdeckt, der mit sichtbarer Rückenflosse auf sie zuschwamm – ein Bild, das aus unerfindlichen Gründen deutlich vor seinen Augen stand, als habe er es schon tausendmal gesehen -, aber ihre Hand war aus dem Wasser gestreckt und deutete zum völlig leeren Horizont.

»Seht ihr das?« In Marys Stimme lag Aufregung, aber keine Angst. Jeb kniff die Augen zusammen. Das verdammte Wasser spiegelte und die auf und nieder gehenden Wellen machten es schwer, etwas zu entdecken.

Aber Mary hatte recht. Der Horizont war nicht länger leer.

Dort war ein tanzender Punkt, der sich immer wieder hob und senkte.

»Was ist das?«, fragte Jeb atemlos.

Mary kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, es ist ein Boot.«

»Ein Boot?« Für ihn sah es nicht danach aus, vielleicht ein auf den Wellen treibender Baumstamm, aber keinesfalls ein Boot, die Form stimmte einfach nicht.

»Es liegt verkehrt herum im Wasser«, stellte Mary nun fest.

Noch einmal versuchte Jeb, etwas zu erkennen. Da sagte nun auch Jenna: »Mary hat recht. Es ist ein Boot.«

Ein Schauer durchströmte Jeb. Ja, jetzt konnte auch er es erkennen. Ein Boot, das mit dem Kiel nach oben auf dem endlosen Ozean vor sich hin trieb.

Ein Boot bedeutete, nicht mehr schwimmen zu müssen. Es bedeutete Sicherheit vor dem Hai.

In diesem Moment spürte Jeb eine Bewegung. Das Wasser unter ihm zog an seinen Füßen, als wäre es von etwas bewegt worden. Bevor er den Mund öffnen konnte, gellte Marys Schrei in seinen Ohren.

Jenna erschrak, als Mary neben ihr aufkreischte. »Er ist wieder da!«

»Ich habe es auch gespürt! Hast du ihn gesehen?«, fragte Jeb aufgeregt.

»Nein, aber ich spüre ihn. Immer noch. Das Wasser verschiebt sich unter meinem Körper. Es zieht an mir …« Mary fing an zu wimmern, da tauchte Jeb unter. Jennas Herz setzte einen Schlag aus, doch da erschien er wieder an der Wasseroberfläche. »Nichts! Da ist nichts zu sehen!«

»Ich habe ihn gespürt«, beharrte Mary.

Jenna schluckte. Die beiden mussten nun durchhalten, sie mussten ruhig auf das Boot zuschwimmen, ihre Kräfte einteilen. Die beiden anderen waren deutlich bessere Schwimmer als sie, das hatte Jenna sofort erkannt. Und genau deshalb durften die anderen beiden jetzt nicht durchdrehen, schlappmachen oder aufgeben. Sie legte Festigkeit in ihre Stimme und sagte: »Das Boot ist nicht mehr weit. Los, schwimmt.«

Langsam, mit gleichmäßigen Zügen, schwamm Jenna nun voraus. Bald darauf hörte sie hinter sich die anderen beiden regelmäßige Schwimmzüge machen. Stetig schoben sie sich durch das Wasser. Je länger sie schwammen, desto mehr schien das Boot sich von ihnen zu entfernen, aber Jenna spürte, dass sie sich trotzdem näherten.

Der Hai war nicht wieder aufgetaucht. Möglicherweise lauerte er in der Tiefe, bereit zum Angriff, aber noch hielt er Abstand und Jenna schöpfte neue Hoffnung. Erst das Wasser, dann der Hai. Beides hatte blankes Entsetzen in ihr wachgerufen. Sie wusste nicht, warum das so war, aber sie spürte, dass es nur wenig auf der Welt gab, vor dem sie sich mehr fürchtete.

Die nächsten Minuten vergingen quälend langsam. Mary erwartete jeden Moment, dass der Hai auftauchte, aber er blieb unsichtbar. Inzwischen klopfte ihr Herz so heftig, dass sie sich sicher war, auch der Raubfisch könne es wahrnehmen.

Keiner sprach. Stumm schwammen sie durch das Auf und Ab der sanften Wellen. Die Sonne brannte auf sie hinab, Mary spürte einen Anflug von Kopfschmerzen. Sie hatte Durst, und wenn sie an León dachte, der letzte Blick, den er ihr zugeworfen hatte … dann war Mary kurz davor, die Arme ruhen zu lassen, die Beine stillzuhalten und sich treiben und dann vom Wasser einnehmen zu lassen. Einfach ausruhen, eine Minute nicht mehr kämpfen, sich nicht mehr abstrampeln müssen.

Doch das kam nicht infrage. Sie hatte noch Kraft, sie sah das Boot deutlich vor sich, auch wenn es immer wieder von den Wellen verdeckt wurde.

Sie hatte ein Ziel und sie würde es erreichen. Leóns Tod wäre umsonst gewesen, wenn sie nun aufgab.

Das Wasser unter ihr war ruhig, kein Schatten zog seine Kreise unter ihnen. Marys Herz machte einen Sprung, denn langsam kamen sie dem Boot tatsächlich näher.

Einige schmerzhafte Armzüge und unzählige Wellen später, die immer wieder Wasser in ihren Mund schwappten, sodass sie husten musste, hatten sie es erreicht. Es trieb kieloben im Wasser, war ungefähr sechs Meter lang, anderthalb Meter hoch und aus braunem, hartem Kunststoff, dessen Rand weiß gefärbt war.

Mary legte ihre Hand an das Boot und das Gefühl, einen festen Gegenstand zu berühren, gab ihr Hoffnung.

»Wir sind da«, keuchte Jeb neben ihr.

Ja, dachte Mary. Doch wie schaffen wir es, an Bord zu kommen?

Neben ihr im Wasser strampelte Jenna. Sie sah so aus, als würde sie über demselben Problem grübeln. »Es ist größer, als ich dachte.«

»Helft mir.« Jeb schwamm zur Längsseite des Bootes. Dort legte er seine Hände unter den Bootsrand und versuchte, es anzuheben. Er schaffte es einen halben Meter weit, dann gewann die Schwerkraft und das Boot fiel wieder in seine alte Position.

»Alle zusammen«, sagte Mary.

Jenna bezog neben Jeb Stellung, Mary nahm den Bug des Bootes in Angriff. Auf ein Kommando hoben sie das Boot an, aber sie benötigten drei kraftraubende Versuche, bevor das Boot sich drehte. Marys Arme schmerzten, aber eine Welle der Erleichterung überrollte sie. Sie lächelte.

Dann begriff Mary, dass sie noch lange nicht im Boot saßen. Und der Rand lag nun knapp einen Meter über ihnen. Wie zum Teufel sollten sie da hineinkommen?

Jeb stemmte sich bereits am Bootsrand hoch, er nahm Schwung – und stürzte zurück ins Wasser. Jenna und sie waren zu schwach, als dass sie es hätten probieren können. Jeb war ihre einzige Chance, das wusste Mary.

Jebs Anstrengungen kosteten ihn immense Kraft, das sah Jenna. Bei jedem Versuch stemmte sich Jeb etwas weniger kräftig aus dem Wasser. Und bei jedem Versuch fluchte er leise. Doch auch das half nicht.

Jenna wollte ihn antreiben, aber sie war zu erschöpft, um etwas zu sagen.

Dann, unglaublicherweise, schaffte Jeb es schließlich, seinen Oberkörper über den Bootsrand zu legen und sich wenig elegant ins das Boot plumpsen zu lassen. Anschließend zog er Jenna und Mary hoch.

Sie hockten alle im schwankenden Boot und zitterten vor Erschöpfung. Keiner sprach, sie alle versuchten, wieder Luft zu bekommen. Jenna sah sich um.

Das Boot hatte drei Querverstrebungen, die als Ruderbänke gedacht waren. Die Befestigungen für die Ruder waren ebenfalls vorhanden, die Ruder selbst allerdings fehlten. Am Heck des Bootes gab es eine Sitzbank, daneben Vertiefungen, an denen man einen Außenbordmotor aufhängen konnte. Jenna war mit diesen Dingen vertraut, aber sie spürte, dass sie noch nie zuvor in einem solchen Boot gesessen hatte. Sie fühlte sich unwohl in dem schaukelnden Gefährt, obwohl es wahrscheinlich ihre Rettung war. Vorerst zumindest.

Eine Klappe an der hinteren Sitzbank erweckte Jennas Aufmerksamkeit. Sie erhob sich und stieg über die anderen hinweg. Da war kein Schloss, nur ein Hebel, sie bewegte ihn und die Klappe sprang auf.

Jenna stieß einen überraschten Schrei aus.

»Was ist?«, fragte Jeb erschrocken.

»Hier ist … Essen. Wasserflaschen. Plastikbeutel.« Sie wühlte die Sachen hervor. »Eine große Plastikplane, und ich … ich habe …« Sie zögerte. »… das ist ein Medizinbeutel mit Medikamenten und Salben. Ein … Dings.« Ihr fiel das Wort nicht ein. Mary stand auf und kletterte über die Ruderbänke hinweg zu ihr.

»Kompass«, vervollständigte sie den Satz. »Damit kann man die Himmelsrichtung bestimmen.«

Sie entdeckten noch Taschenlampen, Verbandszeug und eine Leuchtpistole, deren Zweck sie erst nach einigen Momenten entschlüsselten.

Es war ein Schatz. All das war ein Schatz, denn er bedeutete Leben. Überleben.

Doch plötzlich hielt Jenna inne. Sie hatte das Verbandpäckchen umgedreht und starrte auf den Schriftzug, der darauf prangte.

Mary.

Stumm hielt sie Mary und Jeb, der nun ebenfalls neben ihr stand, das Päckchen hin und beobachtete, wie sich die Augen der beiden weiteten.

Ihr Blick wanderte zu Mary, die ebenso verblüfft aussah und dann mit der Hand nach hinten, zur Bugwand, deutete. »Hier steht etwas«, sagte sie leise. »Hier steht auch Mary. Mein Name. Was hat das zu bedeuten?«

Jenna dachte nach, das Wasser plätscherte leise gegen die Bordwand, und doch war es dieses Geräusch, das etwas in Mary zu wecken schien.

Jenna sah Marys Augen aufleuchten. »Ich … da ist ein Bild in meinem Kopf. Der Schriftzug, ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen.«

Jeb starrte zu Mary hinüber, die sich in den Bug des Bootes gelegt hatte. Seit einer Stunde war sie dort und blickte ins Nichts. Sie hatte gesagt, dass sie noch nicht wisse, warum sie das Boot zu kennen glaube. Sie müsse nachdenken, hatte sie noch nachgeschoben und sich seitdem geweigert, von den gefundenen Rationen zu essen, sondern nur eine kleine Flasche Wasser leer getrunken.

Jenna und er hatten sich erst noch bemüht, mit ihr zu reden, immerhin bestand die Möglichkeit, dass die Namensgleichheit ein Zufall war, aber Mary blieb stumm. Mit ausdruckslosem Gesicht und leerem Blick starrte sie schweigend vor sich hin.

Jeb kaute nachdenklich auf einem Hartkeks herum. Neben ihm saß Jenna und schmierte sich das Gesicht mit der gefundenen Sonnenschutzcreme ein. Eine dicke weiße Schicht bedeckte ihre Haut.

Es ist, als hätte jemand dieses Boot für uns bereitgestellt und an alles gedacht, was wir brauchen.

Das Ruderboot schaukelte im Wasser. Ob sie vorantrieben, konnte Jeb nicht sagen. Um sie herum gab es keine Orientierungspunkte und so ließ sich schwer feststellen, ob sie sich überhaupt bewegten. Jeb schluckte das letzte Stück Keks herunter, dann wandte er sich an Jenna. »Was machen wir mit ihr?«

Jenna hielt inne. »Sie braucht Zeit, dann wird sie sich erinnern – vielleicht wissen wir dann mehr über diese Welt.«

»Sie hat nichts gegessen.«

Jeb erntete einen kalten Blick von Jenna. »Verstehst du das nicht?«

Der harte Ton in ihrer Stimme verwunderte ihn. Natürlich verstand er. León war tot und der Schock über die Entdeckung ihres Namens auf dem Boot hatte sie verstummen lassen, aber es gab doch Hoffnung. Oder? Sie hatten Vorräte, Wasser, Medizin, sie konnten eine Weile durchhalten. Vielleicht würde ein Schiff am Horizont auftauchen und sie retten.

Die anderen sind gestorben, aber wir sind noch da. Wir haben es verdient zu leben.

Und dennoch war da der harte Klang in Jennas Stimme. Auch sie hatte sich verändert. Das Labyrinth hatte sie verändert. Jeb sah den bitteren Zug um ihre Mundwinkel, aber wie konnte es auch anders sein. Das Labyrinth hatte niemanden verschont und all die Strapazen, die Ängste gruben sich in ihr Innerstes ein und brachten alles Extreme in ihnen zum Vorschein.

Bald würde sich der glühende Tag dem Ende neigen und die Sonne langsam am Horizont im Meer versinken. Jeb hoffte, dass die Nacht ihnen wieder den Stern zeigen würde, dann würde ihre Reise weitergehen. Immer dem Stern entgegen.

Jeb schloss einen Pakt mit sich. Niemals dürften sie aufgeben, denn dann hätte das Labyrinth gesiegt. Einer von ihnen würde das letzte Tor durchschreiten und in sein wahres Leben zurückkehren. Und wenn er dieser Letzte von ihnen war, würde er herausfinden, wer ihnen allen das angetan hatte.

Und dann werde ich Rache nehmen.

Lies weiter in: Das Labyrinth ist ohne Gnade. Erscheinungstermin: Sommer 2014