Jeb erwachte durch den Tumult um ihn herum und Leóns wütendes Gebrüll. Er brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen.
León kam herübergestürmt und packte ihn grob an der Schulter. »Er ist weg! Der verdammte Hurensohn ist abgehauen!«
Was?«, stammelte Jeb. »Was ist los?«
»Loco, das Schwein. Er hat sich davongemacht!«
Jeb rieb sich die Augen, schüttelte die Müdigkeit ab. »Bist du sicher? Vielleicht musste er noch mal oder sucht die Räume ab.«
»Ich habe schon überall nachgesehen. Nein, er ist definitiv abgehauen.«
»Beruhig dich«, sagte Jenna neben ihm. »Das ist doch egal.«
»Ach nein?«, widersprach León. »Dieser blöde Hund kommt keine Meile weit, bevor sie ihn schnappen, und dann wird er uns verraten. Versuchen, seine Haut zu retten, indem er Rojo die Mörder seines Bruders liefert. Wir müssen sofort aufbrechen!«
»León hat recht«, meinte Mary. »Wir müssen von hier verschwinden.«
Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, bis nach Mitternacht zu warten, sich über den Schulhof zu schleichen und dann zu versuchen, ungesehen ins Schwimmbad zu gelangen. Jeder von ihnen hatte gewusst, dass es riskant werden würde, aber nun wurde die ganze Sache mehr als das. Denn draußen ging gerade erst die Sonne unter.
Jeb, Jenna, León und Mary bewegten sich vorsichtig über den Hof. Nach wenigen Metern erreichten sie die Eingangstür zum Schwimmbad, die durch eine massive Eisenkette und ein Schloss gesichert war.
León gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen, und verschwand um die nächste Ecke. Dort machte er vor einem Fenster halt. Es war nicht zugenagelt. Entweder hatte die Zeit nicht mehr dafür gereicht oder die Behörde ging einfach davon aus, dass es in einem Schwimmbad nichts zu stehlen gab und somit auch keine Einbrecher angelockt würden.
León grinste. Da hätten sie sich die Mühe mit der gesicherten Tür sparen können.
Ohne zu zögern, zog er sein Hemd aus und wickelte es sich um die Faust. Jeb wollte etwas sagen, aber León hob den Finger, um ihm anzuzeigen, dass er besser still sein sollte. Dann schlug er zu.
Das Klirren war in der Dämmerung lauter, als er erwartet hatte, und die Knöchel seiner Hand schmerzten. Die Glassscheibe war massiver, als sie aussah. León fluchte stumm und lauschte.
Nichts.
Alles blieb still. Mit der linken Hand begann er, die noch im Fensterrahmen steckenden Glassplitter herauszuziehen. Als alles sauber war, winkte er den anderen zu. Nacheinander kletterten sie nach innen.
Hier war es stockfinster und die abgestandene Luft, die noch immer nach Chlor roch, wehte ihnen entgegen. León schaltete die Taschenlampe ein.
Sie befanden sich in einem der Umkleideräume. Hier und da hingen vergessene Kleidungsstücke über den Haken und in einer Ecke lag ein altes Handtuch, ansonsten war der Raum leer. León ging zur gegenüberliegenden Tür und trat in einen Gang hinaus, der auf der einen Seite laut Hinweistafel zu den Duschen führte. Zur Schwimmhalle ging es in die andere Richtung.
Jenna schloss mit ihm auf. Sie hielt den aufgeschlagenen Plan in den Händen. »Leuchte mal darauf«, sagte sie.
León richtete den Strahl der Taschenlampe aus.
»Laut Plan befindet sich der Zugang am oberen Ende des Schwimmbads und führt von dort aus in die Kanalisation.«
»Wie sieht der Zugang aus?«, fragte León.
»Ich bin mir sicher, dass es ein in den Boden eingelassener Gitterdeckel ist, damit im Überflutungsfall das Wasser abfließen kann.«
León biss sich auf die Lippe. »Hoffentlich kriegen wir das Scheißding auch auf.«
Der Schachtdeckel war zum Glück nicht schwer zu finden. Unscheinbar, aber deutlich sichtbar, war er in den Boden eingelassen und ungefähr zwei mal zwei Meter groß. Sie hatten Glück, das schwere Gitter, welches den Schacht sicherte, war weder angeschweißt noch sonst irgendwie gesichert, wahrscheinlich damit man es zu Wartungsarbeiten oder zum Saubermachen anheben konnte. Gemeinsam nahmen sie es hoch und schoben es zur Seite. Es machte einen Höllenkrach, als das Metall über die Keramikkacheln des Bodens schrammte, und als es wieder still wurde, lauschten sie in die Dunkelheit.
Nichts zu hören.
León leuchtete nach unten und entdeckte an der Seitenwand des Schachts eine Metallleiter, deren Sprossen in die Tiefe führten. Direkt über dem Abfluss stank es bestialisch. Er ließ die Taschenlampe kreisen, aber das Licht war zu schwach, um den Boden zu erreichen. Das bedeutete, es ging ziemlich tief runter. Weiter unten raschelte etwas.
Er sah auf und blickte den anderen ins Gesicht, dann nickte er Jenna, Jeb und Mary zu, trat an den Rand des Abstiegs und kletterte nach unten. Mary holte tief Luft und folgte ihm, ohne zu zögern.
Jeb leuchtete den beiden den Weg, so gut es ging. Schon bei der Vorstellung, bald wieder in engen Gängen gefangen zu sein, schnürte es ihm die Kehle zu. Aber er musste stark sein, für Jenna. Immerhin war er diesmal nicht allein und das beruhigte ihn ein wenig. Entschlossen gab er Jenna ein Zeichen, die wegen des Gestanks aus dem Loch vor ihnen angewidert das Gesicht verzog. Schließlich kletterte auch sie in die Tiefe hinab dem Moder entgegen.
Das Schachtgitter war zu schwer, um es allein wieder über den Schacht zu ziehen. Jeb blickte es stirnrunzelnd an. Wenn ihre Verfolger bis ins Schwimmbad vordrangen, würden sie wissen, wohin sie geflohen waren, aber das ließ sich nicht ändern. Noch einmal lauschte Jeb in die Dunkelheit, er zwang sich, ruhig zu atmen, dann stieg auch er hinab.