Sie fanden das Gästezimmer am Anfang des Flures, gleich neben der Eingangstür. Es war ein kleiner schmuckloser Raum, in dem lediglich ein Bett, ein großer Holzschrank und ein Stuhl standen. An der Wand über dem Bett hing ein Ölbild, das Jesus Christus zeigte, der zu Fischern sprach. Mary ging zum Bett hinüber und setzte sich auf die Kante. Hinter ihr schloss León leise die Tür. Er trat zwei Schritte in den Raum hinein, dann blieb er unentschlossen stehen. Schüchtern fast. Mary musste lächeln. Sie hob den Kopf und blickte ihn an, schaute in diese tiefen dunklen Augen, die so viel Schmerz kannten. Hier stand León vor ihr, der immer so unnahbar gewirkt hatte. Doch jetzt war da eine nie gekannte Nähe zwischen ihnen.
Mary erhob sich und trat zu ihm. Als sie eine Hand auf seinen Brustkorb legte, spürte sie den aufgeregten Schlag seines Herzens. Wie ein Vogel flatterte es in seiner Brust und Mary liebte ihn dafür. Sie spürte es mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie sich bei León geborgen fühlte wie nie zuvor in ihrem Leben. Trotz aller Widrigkeiten hatte sie durch ihn gelernt, was es heißt, beschützt zu sein. Seine Augen wanderten über ihr Gesicht und auch Mary konnte ihre Augen nicht von seinem lösen, bis ihre Blicke sich trafen. Langsam hob sie ihre rechte Hand, fuhr mit dem Finger über sein Gesicht und all die schrecklichen Tätowierungen verschwanden vor ihren Augen. Zurück blieben die Züge eines Jungen, bei dessen Anblick ihr Herz höher schlug.
Mary nahm all ihren Mut zusammen. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und zog ihn zu sich herab. Ihre Lippen fanden sich zu einem ersten zaghaften Kuss, dann zu weiteren.
Leóns Lippen bebten, als er sich von Mary löste. Er wollte sie weiter küssen, aber er wusste, jetzt und hier war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit dafür. Er fühlte, dass sich Mary ihm auch hingeben wollte, aber das war der Situation geschuldet, der Verzweiflung, in der sie lebten. Nein, wenn es geschah, wenn Mary mit ihm schlief, dann sollten sie es beide bewusst tun und an einem friedlichen Ort.
»Was ist mir dir?«, fragte sie.
Er zögerte. »Ich kann nicht.«
»Es ist wegen mir. Stimmt’s?«
»Nein, mit dir hat das nichts zu tun. Es ist …«
Wie sollte er ihr sagen, dass er Angst davor hatte, sie wieder zu verlieren, kaum dass sie sich gefunden hatten. Mary war für ihn das Licht geworden in all diesen fremden Welten, die nur aus Kampf bestanden.
Besonders diese Welt, Los Angeles, erschütterte ihn bis ins Innerste.
Es war seine Welt.
Und war es doch nicht.
»Ich erinnere mich an so vieles. Alles ist mir so vertraut, der Geruch, die Hitze, die Gangs auf den Straßen, verdammt, selbst der beschissene Staub, der auf den Straßen klebt, hat früher zu meinem Leben gehört.« Er atmete tief aus. »Und dann bist da du, Mary!«
Er verstummte.
All diese Bilder, die jetzt wieder auf ihn einstürzten, ergaben kein Ganzes, fügten sich nicht zusammen. Alles blieb vertraut und fremd. Hinzu kam die Tatsache, dass Jeb, Jenna und Mary ganz offensichtlich nicht in diese Welt gehörten. Sie waren nie zuvor in Los Angeles gewesen und das meiste war ihnen fremd. Jennas merkwürdiges Telefongespräch mit ihrer Großmutter, ein Mann, der angeschossen wurde, aber nicht blutete, und das tiefe Gefühl in ihm, dass die Jagd noch nicht zu Ende war.
Und nun Mary.
In seinen Armen. Sie raubte ihm den Atem, er wollte sie küssen und konnte es nicht. Er sah, dass er sie verunsicherte, vielleicht sogar unglücklich machte, aber auch das konnte er nicht ändern.
Er schloss sie noch fester in die Arme, aber sie schaute ihm direkt in die Augen und richtete sich auf.
»Ich muss dir von mir erzählen«, sagte sie mit leiser und zitternder Stimme, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Als Mary endete, schwieg er. Tränen liefen über sein Gesicht und zum ersten Mal in seinem Leben schämte er sich nicht dafür. Er blickte auf seine Hand hinab, die mit Marys Fingern verschränkt war.
Es dauerte, bis er die Worte fand.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber ich weiß, dass das nichts zwischen uns ändert.«
»Ich … ich fühle mich so beschmutzt«, sagte Mary leise.
»Oh nein, mi corazón, an alldem trägst du keine Schuld. Dir wurde schreckliches Leid zugefügt.«
Marys Kopf sank gegen seine Brust und endlich weinte auch sie. Ihr leises Schluchzen zerriss ihn fast, aber er versuchte nicht, sie mit Worten zu trösten. Eine Weile blieben sie so, eng umschlungen, und jeder vernahm den Herzschlag des anderen.
Schließlich blickte Mary auf. »Warum hast du dich in mich verliebt?«
»Ach Mary«, seufzte er gespielt. »Wo soll ich anfangen? Aber in der Steppe hast du zu mir gesagt: ›Vielleicht bist ja du derjenige, der mir hilft.‹ Hier bin ich.«
Jenna blickte im Dämmerlicht des abgedunkelten Wohnzimmers in Jebs Augen und fand ihr Spiegelbild darin. Ihr Atem war noch schwer von der Liebe, die sie sich geschenkt hatten. Nun fuhr sie mit ihren Fingern über seine nackte Brust, während sie in seine Augen blickte. Seine Haut duftete nach der Seife, mit der er sich zuvor beim Duschen eingeschäumt hatte, aber auch sie selbst fühlte sich zum ersten Mal seit Langem wieder wohl in ihrer eigenen Haut.
»Jeb?«
»Ja.«
»Ich glaube, ich liebe dich.«
»Und ich glaube, ich liebe dich.«
Sie lächelte. »Weißt du, dass es mir vorkommt, als würden wir uns schon immer kennen, schon immer lieben?«
»Mir geht es genauso. Dabei sind gerade mal ein paar Tage vergangen. Es ist …«
»… als würden wir uns schon aus unserem vorherigen Leben kennen«, vollendete sie den Satz. »Alles an dir ist mir vertraut. Einfach alles. Die Art wie du aussiehst, wenn du schläfst, wie du lachst und dabei den Kopf schief legst. Deine Hände auf meiner Haut, selbst die Art, wie du mich festhältst, jede Geste kenne ich. Aber woher? Wieso bin ich so sicher, dich schon zu kennen?«
»Ich weiß nicht, Jenna. Vielleicht ist das so, wenn man verliebt ist? Oder vielleicht ist das so, wenn wir verliebt sind?« Er lächelte sie an.
Jenna war nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte, aber sie musste diese Frage stellen. »Warst du schon mal verliebt, so richtig?«
Er sah aus, als würde er nachdenken, in seiner Erinnerung forschen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Und du?«
»Ja, in dich.« Es war einfach so herausgekommen. Sie wusste nicht, warum sie es gesagt hatte. Nein, doch, sie wusste es: Weil es genau so war.
»Das ist schön«, meinte Jeb. Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. Als er zurückwich, strich sein Atem über ihr Gesicht.
»Jeb, ich bin so froh, dass du bei mir bist, hier in diesen Welten. Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde verrückt«, seufzte Jenna. »Und diese neue Welt kostet mich viel Kraft. Gerade weil alles so ähnlich ist wie zu Hause, gerade das macht mich wahnsinnig: dass mir alles so vertraut und doch gleichzeitig fremd ist. Heute ist mir so viel über meine Großmutter eingefallen. Es ist, als müsste ich nur hingehen und an ihrer Tür klingeln und alles würde wieder sein wie immer. Und doch kennt sie mich nicht, sagt, sie habe keine Enkelin. Was … was soll das bedeuten?«
Seine Hand streckte sich nach ihr aus, fuhr die Linien ihres Gesichtes nach. »Vielleicht sollen wir es nicht verstehen, vielleicht soll es keinen Sinn ergeben. Sondern uns nacheinander wahnsinnig machen.«
»Aber wozu? Es ist so sinnlos.«
»Ich weiß, dass du stark bist und dass noch einiges passieren muss, bevor du wahnsinnig wirst. Und so lange musst du weitermachen. Um dein Leben zu kämpfen, ist niemals sinnlos«, widersprach er. »Mögen die Umstände auch noch so verrückt sein.« Jenna seufzte.
Er schaute sie eindringlich an. »Jenna, bitte glaub daran, dass du es schaffst. Glaub daran. Lass jetzt nicht nach, sondern kämpfe noch härter. Ich bin bei dir und ich brauche dich.«
»Und ich brauche dich, weißt du das? Ohne dich, Jeb, hätte ich schon längst aufgegeben.«
»Das darfst du nicht einmal denken«, sagte er bestimmt und es klang fast zornig.
Eine Weile schwiegen sie und Jenna genoss es, Jebs Geruch nach Gras und Erde einzuatmen, der ihr schon im allerersten Moment an ihm aufgefallen war. Könnten sie doch für immer hier liegen …
Da merkte sie, wie sein Blick auf die Innenseite ihres Handgelenks fiel, auf die sternförmige Tätowierung.
»Was ist das?«, fragte er verblüfft. »Du bist tätowiert? Das ist mir bisher nicht aufgefallen. Wow, seit wann hast du sie?«
Jenna versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, weder, dass sie eine leise Ahnung hatte, wann und warum sie sie bekommen hatte. Noch, dass sie wusste, dass sie mit jemandem zu tun hatte, den sie liebte oder geliebt hatte. »Wahrscheinlich war die Tätowierung von meinem Hemd verdeckt. Ist nichts Besonderes.« Sie verschwieg ihm, dass das Tattoo immer wieder auftauchte und verschwand, ohne dass sie es sich erklären konnte. Sie wollte ihn nicht zusätzlich belasten.
Er fuhr mit den Fingern die dunklen Linien nach. »Schlicht, aber schön«, meinte er. »Weißt du, woher du es hast und warum du es hast machen lassen?«
Sie hatte seine Frage befürchtet und sich innerlich für ihre Antwort gewappnet. Entschlossen schüttelte Jenna den Kopf und ihr Haar strich über sein Gesicht. »Nein«, log sie. »Ich habe keine Ahnung, was es damit auf sich hat.«
Sie würde ihm gern sagen, dass diese Tätowierung sie mit jemandem verband, aber sie hatte keine Erklärung dafür, wusste nicht genau, was das Tattoo zu bedeuten hatte, aber sie spürte hinter dem Schleier des Vergessens ein Band, das von dieser Welt in ihr altes Leben reichte.
Um ihn von der Tätowierung abzulenken, beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Lippen. Seine Hände fuhren sanft ihren Rücken hoch, dann presste er sie eng an sich. Schließlich gab es keine Welt mehr, über die sie nachgrübeln mussten, nur noch diesen einzigartigen Augenblick.
Mary lag auf der Seite, den Kopf auf Leóns Brust ruhend. Ihre Finger strichen sanft darüber. León war eingeschlafen, mitten im Gespräch. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten es ihr.
In seinen Armen war es, als wäre sie heimgekehrt. Heimgekehrt zu einem Menschen, den sie vor wenigen Tagen noch nicht einmal gekannt hatte. Da war sich Mary sicher.
Und nun stellte sie fest, dass sie trotz ihrer Vergangenheit so etwas wie Liebe empfinden konnte. Immer hatte sie gedacht, dass in ihrem Leben für so etwas kein Platz mehr sein dürfte. Es konnte einfach nicht sein. Aber bei León war es anders.
All das Grauen und die Angst hatten sie in diesem Moment, als er sie einfach nur festgehalten hatte, verlassen. Mary war nicht dumm, sie würden wiederkehren, aber nicht jetzt. Der Augenblick gehörte León und ihr. Als sie sich vorbeugte, um ihn zu küssen, erwachte León.
»Tut mir leid«, flüsterte Mary. »Ich wollte dich nicht wecken.«
Er beugte sich über sie und küsste sie. Seine Lippen schmeckten nach Salz und sie wollte mehr davon, aber León entzog sich ihr. Auf einen Ellenbogen abgestützt, lag er neben ihr und sah sie an. Sein Blick wanderte über sie und es war, als streichele er sie, ohne sie zu berühren. Zum ersten Mal konnte sie es ertragen, dass jemand anderes ihren Körper betrachtete. Leóns Finger strich eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Er tat es unendlich sanft.
Sie sah ihn an, blickte tief in seine Augen. »Du bist so schön. Weißt du das?«
Er stieß ein leises Lachen aus. »Ich bin ein lebendes Bilderbuch des Schreckens und du findest mich schön.«
»Ja«, hauchte sie. »Die Bilder sind furchtbar, keine Frage.« Sie musste grinsen. »Aber dich finde ich schön.«
León wich ihrem Blick zunächst aus, doch schließlich wandte er sich wieder zu ihr. Mary hielt die Luft an und plötzlich nahm sie wieder die Umgebung mit all ihren Unvollkommenheiten wahr. Das Zimmer war nur ein schäbiges Zimmer und nicht mehr der Himmel auf Erden. Stattdessen blieb Marys Blick nun an dem abgewetzten Bettlaken hängen und sie roch den Geruch der alten Möbel. Sie schwiegen, bis die Stille in Marys Ohren dröhnte, aber schließlich räusperte sich León.
»Ich bin nicht schön, Mary. Und erst recht nicht die Bilder, die meinen Körper bedecken. Du nennst sie furchtbar. Aber sie erzählen mein Leben.«
»Ist dein Leben außerhalb von dem hier denn wirklich so trostlos?« Mary versuchte zu begreifen, was León da sagte.
»Ich … ich kenne diese Welt hier, ich kenne sie, weil ich genau dieses Leben der Gangs und der Gewalt schon mal erlebt habe. Tatsächlich besteht all das, an das ich mich erinnere, aus nichts anderem als Gangs und Gewalt und Tod. Rache und Blut …« Er stockte. Mary bemühte sich, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.
»Mary. Ich … ich habe einen Menschen getötet. Vorher, in meinem früheren Leben. Ich musste es tun, seine Gang hat meinen Vater getötet, es war wichtig, sie nicht davonkommen zu lassen. Aber … er war doch nur ein Junge, so alt wie ich, jünger sogar.« León wich ihren Blicken aus. Aber sie ließ ihn weitersprechen und sagte nichts. »Meine hombres haben mich aufgenommen, als meine Mutter mit mir und meinen Geschwistern allein zurückblieb. Sie waren meine Familie, verstehst du. Ich habe meine Brüder aus der Gang geliebt und … für ihren Schutz musste ich mich ihren Regeln unterwerfen.« Er atmete tief ein. »Und ich tat es mit Freuden. Mit Freuden, Mary.« Seine Stimme bebte. »Erst jetzt fällt mir das ein und ich begreife, wie schrecklich mein früheres Leben gewesen ist. Das hier«, er lachte leise auf, »das hier ist ein Klacks dagegen. Und außerdem …« Mary wandte ihren Blick von dem Tattoo auf seiner Stirn ab, den vier Zeichen, die am rätselhaftesten von allen waren. Ihre Blicke fanden sich. »… und außerdem habe ich jetzt dich, Mary. Endlich kann ich kämpfen, für etwas Gutes. Denn ich habe jemanden gefunden, den ich beschützen kann – dich.«
Mary spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. Sie räusperte sich, doch ehe sie etwas erwidern konnte, legte León ihr einen Finger auf die Lippen. »Sag nichts, bitte sag einfach, dass ich das für dich tun darf, ja? So lange wie nötig, verspreche ich, dass ich dich beschützen werde.«
Mary brachte kein Wort heraus, so sehr musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie nickte stumm. Wie um sein Versprechen einzulösen, legte León seinen Arm um sie und zog sie näher zu sich heran.