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Die Köpfe eingezogen, versuchten sie, so schnell wie möglich vorwärtszukommen. Schweiß rann ihnen über die Gesichter, brannte in den Augen und erschwerte das Sehen zusätzlich.

Nach nur wenigen Minuten trafen sie auf die erste Abzweigung. Ihr Tunnel mündete in einen größeren Gang, der sich nach links und rechts gabelte. Hier konnten sie sich endlich wieder aufrichten. Jeb blieb stehen.

»Wohin?«, fragte er.

»Nach links«, keuchte Jenna.

»Nein, eigentlich müssten wir geradeaus«, sagte León. »Wenn wir jetzt nach links gehen, führt uns der Tunnel wahrscheinlich in einem weiten Bogen zurück zur Halle von den Mole People.«

»Okay, dann nach rechts«, befahl Jeb und rannte vorneweg. Er keuchte, er rannte, aber er bewegte sich. Er hatte ein Ziel und er hatte seine Atemnot hinter sich gelassen. Jetzt mussten sie weg von hier, eine anderen Ausweg hatten sie nicht. Er musste Jenna von hier wegbringen. Er rannte weiter. Hinter ihm versuchten Jenna, Mary und León, nicht zu stolpern. Es war finster hier unten, aber das Licht der Taschenlampen reichte gerade so aus, dass niemand hinfiel.

Sie waren noch nicht weit gegangen, da erwartete sie die nächste Abzweigung. Jeb leuchtete über die Wände und den Boden, ob es irgendwelche Hinweise darüber gab, welcher Gang wohin führte, aber da war nichts. Jeb wandte sich erneut nach rechts. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. León.

»Halt an«, zischte León.

Jeb blieb stehen. »Was ist?«, zischte er.

»Leise!«

Alle lauschten. Ja, es war eindeutig. Schritte waren zu hören. Ein unterdrückter Fluch. Jemand folgte ihnen. Die Echos rasten die Wand entlang, erreichten sie und pflanzten sich in den Tunneln fort. Plötzlich schienen die Schritte von allen Seiten zu kommen. Sie mussten weg, sofort. »Was jetzt?«, fragte Jeb.

»Weiter …«

»Nein, warte«, unterbrach ihn Jenna. »Hört ihr das nicht? Da ist noch etwas anderes.«

Sie schwiegen. Jeb schaltete die Taschenlampe aus.

Da hörten sie es.

Es war wie ein Flüstern, ein Raunen.

Stimmen aus der Vergangenheit.

Eine kalte Hand fasste nach Jebs Herz.

Sie waren zurück.

Die Seelentrinker waren wieder da.

León fluchte. Er hörte das Wispern ihrer Verfolger aus der Steppe. Dieses Geräusch, das einem den Nacken hochkroch und sich direkt in die Seele fraß. Sie waren hier. Nun wurden sie nicht nur von den Muerte negra gejagt. Nein, dieser Feind war noch erbarmungsloser, denn er war nicht menschlich, so weit war sich León sicher. Der Gedanke, dass die Seelentrinker sie wieder aufgespürt hatten, erschütterte ihn.

Wie kann das sein? Wir haben sie in der ersten Welt zurückgelassen. Es gab keine Tore, die sie hätten benutzen können.

Und dennoch waren sie hier. Wie Geister an einem Ort aufgetaucht, an dem es schwer war, vor ihnen zu fliehen. Das alles war viel schlimmer, als von einer Kugel niedergestreckt zu werden. Denn die Seelentrinker, so hatte Mary sie genannt, konnten bis tief in ihr Innerstes blicken. Die Seelentrinker kannten sie. Ihre Ängste.

Und nun waren sie endgültig zu ihnen zurückgekehrt.

Was tun wir jetzt?

Sie standen im Dunklen und León spürte das Entsetzen der anderen. Mit der Hand tastete er nach Mary, sie stolperte regelrecht in seine Arme. Ihr schreckverzerrtes Gesicht wirkte wie eine bleiche Maske im Schein der Taschenlampe.

»Er ist hier«, raunte sie in sein Ohr. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Wer ist hier, Mary? Von wem sprichst du?« León war vollkommen verwirrt.

»ER. Mein Vater. Er ist da. Um mich zu holen. Er wird mir wehtun. Ich weiß es. Mich mit sich nehmen. Von dir fort. León, lass das nicht zu.«

Die Panik in ihrer Stimme sprach von unvorstellbarer Verzweiflung.

»Dein Vater ist nicht hier, Mary. Schau mich an, beruhige dich. Er kann gar nicht da sein. Hinter uns in den Gängen flüstern die Seelentrinker, spielen mit unseren Ängsten, wie sie es schon einmal getan haben.«

Dann begriff er. Mary hatte Angst vor ihrem Vater. Er schaute in ihre großen dunklen Augen und hielt sie noch fester und sagte ihr nicht, dass auch er sich fürchtete. Das Auftauchen seiner alten Feinde verunsicherte ihn und zum ersten Mal in seinem Leben fehlten ihm die Kraft und der Wille zum Kampf.

Wie kann es sein, dass diese Bestien hier sind?

Der Gedanke hämmerte in seinem Kopf.

Warum? Und wie sollen wir uns wehren?Es gibt kein Licht, kein Feuer weit und breit. Nur diese dämlichen, schäbigen Taschenlampen.

Am liebsten hätte er die Stablampe, die er in der Hand hielt, gegen die Wand geschmettert.

Flieh, wisperte eine Stimme in seinem Ohr. Flieh, lass die anderen zurück. Du bist schnell, sie sind langsam. Starke leben, Schwache sterben.

León versuchte, die Stimme zu ignorieren. Niemals, schwor er sich stumm und biss sich fest auf die Lippen, bis er sein eigenes Blut schmeckte.

»Ich kann ihn aber hören. Das sind seine Schritte«, raunte Mary heiser.

Er legte seinen Arm um Mary, drückte sie fest an sich. »Ich bin hier. Bei dir. Ich beschütze dich.«

Neben ihm hörte er nun Jennas Keuchen. Er verstand nicht, was sie zu Jeb sagte, aber dieser antwortete nicht. Flüsterte etwas von seiner toten Mutter. Irgendetwas klapperte in der Dunkelheit. Der Kegel von Jebs Taschenlampe leuchtete wahllos kalte Kanalwände an und erlosch dann.

Was war hier los?

Warum hatten die Rufe so unterschiedliche Auswirkungen auf sie? Warum schien jeder etwas anderes darin zu hören?

Ich verstehe das nicht.

Schon in der Ebene waren ihre Verfolger wie Schemen gewesen. Nicht greifbar. Sie hatten Gestalten, die sich ständig zu verändern schienen. Fließend wie Schatten. Und dennoch so bedrohlich, dass León die Gefahr, die von ihnen ausging, bis in den letzten Winkel seiner Seele gespürt hatte.

Er suchte fieberhaft nach einer Erklärung. Dies war die vierte Welt, die sie durchquerten. An so vieles hatte er sich wieder erinnert, wie sehr hatte er gehofft, nach Hause gekommen zu sein, aber nun waren alle Hoffnungen zunichte. Er hatte nun nur noch ein Ziel, wie er es sich geschworen hatte.

Ich muss Mary hier wegschaffen. Was auch immer sie über ihren Vater sagt, da draußen in der Finsternis lauert etwas, das unsere Vorstellung übersteigt. Etwas, das uns alle von einem Moment auf den anderen in seiner Hand hat. Weil wir Angst haben. Uns bleibt nur zu fliehen. Hier unten scheint keine Sonne und wir haben kein Feuer, um sie aufzuhalten.

Er fühlte die Waffe, die hinten in seinem Hosenbund steckte.

Vielleicht hält sie eine Kugel auf.

Aber worauf sollte man zielen, wenn das Gegenüber keine Konturen hatte. Trotzdem, es war die einzige Hoffnung. »Jeb?«, zischte er in die Dunkelheit.

Ein Röcheln.

»Verdammt, Jeb. Scheiße, wir haben keine Zeit. Schalt deine Taschenlampe ein.«

Der andere zögerte. »Sie ist mir aus der Hand gefallen.«

»Dios mio!«, schimpfte León.

Jeb hatte endlich seine Lampe wieder aufgehoben, aber sie funktionierte nicht mehr.

León leuchtete in die Gesichter der anderen und erschrak: Drei geisterhaft verzogene Fratzen schienen vor ihm zu stehen. Mary, Jenna und Jeb, denen das pure Entsetzen anzusehen war.

»Ihr habt sie alle gehört?«

Die anderen nickten. Stumm und verzweifelt.

»Wir müssen raus. Sofort. Hier unten kriegen sie uns früher oder später. An der Oberfläche haben wir eine bessere Chance.«

»Ich habe schon lange keinen Aufstieg mehr gesehen. Der letzte war in der Halle«, sagte Mary. Ihre Lippen bebten, während sie sprach.

»Wir folgen dem Gang weiter.« Jeb räusperte sich. Er schien sich wieder etwas gefasst zu haben. »Es hieß, wir würden früher oder später auf das alte Wasserwerk stoßen, das außerhalb des Gebietes der Muerte negra liegt.«

»Wenn wir uns nicht verlaufen«, warf Jenna ein.

»Ich gehe voran«, sagte León.

Er machte den ersten Schritt, als ein grauenhafter Schrei ertönte. Schüsse fielen.

Dann wieder das Wispern.

Dann Stille.

Sie hasteten durch die Gänge, so schnell es ging. León beleuchtete den Weg. Hinter ihnen erklangen furchtbare Schreie, von denen er nicht wusste, ob sie von den Seelentrinkern ausgestoßen wurden oder ob es das Kreischen sterbender Gangmitglieder war. Was sich da hinter ihnen auch abspielte, es musste grauenerregend sein. León beschleunigte sein Tempo.

Immer wieder trafen sie auf weitere Tunnel und Abzweigungen, bis sie schließlich einen entdeckten, durch den Wasser floss.

Das Wasser strömte durch eine tiefe Rinne, die links und rechts von schmalen Pfaden eingefasst war. Es war sauberes Wasser, also, so vermutete León triumphierend, kam es vom Wasserwerk. Wenn sie der Rinne folgten, würden sie früher oder später dorthin kommen.

Die Stege an den Seiten der Rinne waren zu schmal, um darauf laufen zu können. León versuchte es mehrfach, rutschte aber immer wieder ab. Schließlich stieg er in die Rinne. Das Wasser war eiskalt und er stöhnte kurz auf, es reichte ihm bis zu den Knien. Ab jetzt würden sie nur noch langsam vorankommen, denn die recht starke Strömung erschwerte das Gehen zusätzlich.

León verspürte bei all dem Wassergeplätscher wieder seinen brennenden Durst. Er bückte sich und schöpfte mit der hohlen Hand Wasser, das er hastig trank. Eiskalt rann es ihm die Kehle runter und machte aus seinem Magen einen Eisklotz. Aber es half. Auch wenn es nicht besonders sauber schmeckte, es löschte seinen Durst. Dann bespritzte er Gesicht und Nacken mit dem kühlenden Nass. Sofort fühlte er sich besser. Wacher. Bereit.

Er leuchtete den anderen, alle tranken und wuschen sich.

In diesem Wasserkanal war es still. Weder Schüsse ihrer Verfolger noch die Stimmen der Seelentrinker waren zu vernehmen. Lediglich das leise Gluckern des Wassers war zu hören. Die ganze Szene hatte etwas Friedliches, auch wenn sie hier tief unter der Erde waren. Abgeschlossen von dicken Mauern und tiefen Röhren … bald wären sie in Sicherheit, das spürte León.

Er wackelte zweimal mit der Taschenlampe, als Signal, dass sie weitergehen sollten, dann schritt er voran.

Von nun an ging es geradeaus. Der Boden hatte eine leichte Steigung, sodass das Wasser abfloss. Unermüdlich strömte es gegen seine Beine. Wenn das Licht der Lampe nur leicht darüberstrich, war es dunkel wie Tinte in der Nacht.

Während sie so voranstapften, forderte die Kälte des Wassers ihren Tribut. War es zunächst noch erträglich gewesen, so begann jetzt ein Kribbeln, sich in Leóns Füßen auszubreiten. Es schien so, als würde eine eisige Schicht seine Beine überziehen. Zehn Minuten später spürte er seine Füße nicht mehr. Taub, wie ein Fremdkörper bewegten sie sich mechanisch vorwärts, aber es war, als würde er durch zähen Schlamm waten. Hinter ihm klapperte Jenna mit den Zähnen. Mary und Jeb gaben keinen Laut von sich.

Wie lange können wir so weitermarschieren?, fragte sich León im Stillen. Wann stolpert der Erste, weil er seine Füße nicht mehr spürt, und fällt ins eiskalte Wasser?

Noch während er darüber nachdachte, erklangen Schüsse hinter ihnen. Weit entfernt brüllte jemand voller Wut. Dann wurde daraus ein schmerzerfülltes Kreischen, das durch Mark und Bein ging. Schließlich ertönte ein Triumphgeschrei. Über allem lag das Flüstern, Geraune, Geschimpfe und bedrohliche Gellen, das die Seelentrinker von sich gaben und das sich im Kopf festzusetzen schien. León fröstelte. Doch das hatte nichts mit dem kalten Wasser zu tun, durch das er stapfte.

Die Verfolger waren ihnen wieder näher gekommen, in der Ferne hörten sie Schüsse rattern. Mary zitterte am ganzen Körper, doch sie kämpfte sich vorwärts. Immer hinter Leóns breitem Rücken her watete sie durch das Wasser, das ihre Beine gefühllos machte. Doch sie ließ nicht locker. Sie musste daran glauben, dass León sie hier rausbrachte – oder sie wäre verloren.

Die Schüsse, die in Marys Ohren hallten, machten ihr dabei nicht halb so viel Angst wie das Keuchen ihres Vaters, das sie deutlich hörte. Entfernt zwar, doch sie wusste: Er war da. Die Schüsse und wem sie galten – das war Mary egal, dieser Bandenkrieg war nicht ihr Kampf. Ihr Vater, der jedoch lauerte … auf sie, Mary. Sie hatte ihm David genommen und ihr Vater würde Rache nehmen. Und selbst wenn León ihr einredete, dass diese Gefahr nicht echt sei, sie spürte sie realer am eigenen Leib als die Schüsse, die in den Ohren gellten. Das helle Pling, wenn die Kugeln auf die Steinwände trafen, vervielfachte sich in den Gängen, bis es bei ihnen angekommen war. Immer wieder schrie der Mann, der Rojo Rabán sein musste, seine Befehle heraus. Eine Waffe ging los. Es klang wie Donner, der durch die Tunnel auf sie zuraste.

Eine Minute lang erfüllten Schüsse und heisere Schreie die Luft. Darunter mischte sich immer wieder das Rufen ihres Vaters, der wütend nach ihr rief.

León versuchte, dem Gehör nach abzuschätzen, wie viele der Schüsse in der Finsternis die Reihen der Muerte negra lichteten, aber es war unmöglich. Ein unnatürliches Kreischen erklang und wurde von einem anderen Geschrei abgelöst, also waren mindestens zwei der Seelentrinker hier unten in den Tunneln. León aber glaubte, dass es mehr waren.

Einen Vorteil hat die Sache mit den Muerte negra, sie halten vielleicht unsere wahren Feinde auf. Vielleicht gelingt es ihnen ja, wie auch immer, ein paar von den Biestern zu erledigen.

Aber irgendwie konnte er nicht so recht daran glauben.

Okay, im Augenblick sind beide Verfolger miteinander beschäftigt. Was machen wir jetzt? Wir müssen aus dem kalten Wasser raus, sonst geht es bald nicht mehr weiter.

Unerwartet kehrte wieder Stille ein. Was hatte das zu bedeuten? León traf eine Entscheidung und blieb unvermittelt stehen. Mary prallte gegen seinen Rücken.

»Was ist los?«, fragte sie leise.

León leuchtete an die Decke, um niemanden zu blenden, und wartete, bis auch Jeb und Jenna herangekommen waren. »Wie geht es euch?«, fragte er.

»Ich spüre meine Füße seit einer Weile nicht mehr«, stöhnte Jenna.

»Ich habe das Gefühl einzufrieren«, sagte Jeb.

»Es ist alles taub.« Mary schaute zu ihren Füßen hinab, die unter Wasser waren, als würden sie schon nicht mehr zu ihrem Körper gehören.

»Bei mir auch«, erklärte León. »Ich befürchte, dass demnächst die Beine schlappmachen. Wir müssen irgendwie aus dem Wasser raus. Und wir brauchen eine Pause.«

Jenna, Jeb und Mary widersprachen nicht. Wahrscheinlich sind sie genauso erschöpft wie ich.

Obwohl Gefahr hinter ihnen herrschte, es gab keinen anderen Weg, als jetzt die Beine aus dem Wasser zu nehmen und langsam wieder aufzuwärmen. Momentan waren ihre Vefolger ruhig und León wusste, dass dies nicht lange so bleiben würde.

Während die anderen sich abwechselnd auf einem Bein stehend die Füße und Waden massierten, stützte León Mary, die gerade ihren linken Fuß knetete. Ihre Zehen waren weiß vor Kälte, fast bläulich. León selbst lehnte sich gegen die Tunnelwand zu seiner Rechten und hob seine Beine nacheinander aus dem Wasser. Er ließ dabei den Strahl der Taschenlampe in den Gang fallen, obwohl er sich sicher war, jeden hören zu können, der durch das Wasser auf sie zuwatete.

»Dahinten ist ganz schön was los«, sagte Jeb.

»Ja.« León spuckte ins Wasser.

»Gut für uns.«

»Habe ich auch schon gedacht.«

»Bis zu dem Wasserwerk kann es aber nicht mehr weit sein, oder?«, mischte sich nun Jenna ein.

»Kann man hier unten schwer abschätzen«, sagte León.

»Und wie sollen wir von dort die Tore finden?«

»Wir werden sie finden. Der gottverdammte Stern ist dort, also werden wir auch die Tore finden.«

Er sprach nicht aus, dass es nur drei Tore sein würden, aber er wusste, dass alle in diesem Moment das Gleiche dachten.

Bitteres Schweigen füllte die nächsten Minuten.

Wie auf ein geheimes Kommando wandten sich die vier wieder Richtung Wasserwerk und gingen weiter.

Ungefähr eine Viertelstunde später trafen sie auf eine Kreuzung im unterirdischen System. Der Haupttunnel verlief weiterhin geradeaus, aber hier zweigten nach beiden Seiten trockene Nebengänge ab. León blieb stehen, stieg aus dem Wasser und leuchtete die Umgebung aus. Die anderen folgten ihm und Jenna war froh über trockenen und sichtbaren Boden unter ihren Füßen.

»Was denkt ihr?«, ließ sich nun León hören.

»Was meinst du?«, antwortete Jenna.

»Wir könnten einem dieser Gänge folgen. Sie sind wenigstens trocken, das kalte Wasser zieht ehrlich gesagt all meine Kraft aus den Beinen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich noch weitermarschieren kann.«

Jenna konnte León nur zu gut verstehen. Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie auf dem direkten Weg Richtung Wasserwerk bleiben müssten, um ihr Ziel zu erreichen.

»Jetzt den Haupttunnel zu verlassen, wäre Unsinn«, warf Jeb ein. »Das ist der direkte Weg. Wer weiß, wohin uns diese Gänge führen. Mit etwas Pech sogar direkt in die Arme unserer Feinde.«

»Jeb hat recht«, stimmte Mary ihm zu. Jenna sah, wie sich León überrascht zu ihr umwandte. »Der sicherste Weg ist dieser Tunnel. Außerdem hat es den Vorteil, dass man hört, wenn sich einem jemand nähert. In den anderen Gängen könnten wir überrascht werden.«

»Das weiß ich doch alles«, knirschte León. »Aber wir sind zu langsam und werden immer noch langsamer. Wer weiß schon, wie lange wir noch durch das Wasser waten müssen. Ich weiß nicht, ob das gut geht.«

Jenna ging zu León hinüber und hielt die Karte unter die Taschenlampe. »Der Karte nach müsste … dieser Gang etwa zwei Kilometer lang sein. Wo wir sind, keine Ahnung, aber er ist unsere einzige Chance.« Sie zeigte auf den breiten Gang mit dem Wellenliniensymbol, von dem sie glaubte, dass er der Gang aus dem Wasserwerk war, den sie die ganze Zeit entlanggelaufen waren. »León, schau uns an. Wir sind alle bereit, das Letzte zu geben. Lass es uns versuchen«, schloss Jenna.

»Meinetwegen, aber dann lasst uns wenigstens eine falsche Spur legen.«

Die anderen sahen ihn im Licht der Taschenlampe neugierig an.

»Jeb, du weißt, was ich meine. Ich glaube, so hast du uns in der ersten Welt ausgetrickst. Ich könnte wetten, dass du uns damals ein Stück weit gefolgt bist und eine Spur gelegt hast.«

Jeb nickte und sah etwas beschämt aus, fand Jenna. »Ich wollte, dass wir wenigstens eine kleine Chance haben.« Wenn Jenna daran dachte, wurde ihr fast übel. Sie war nur heilfroh, dass es ihr nicht mehr so dreckig ging wie damals.

»Okay, versuchen wir das Gleiche noch einmal. Wenn es klappt, gut, wenn nicht, haben wir nichts verloren.«

»Außer Zeit«, warf Jenna ein.

»Das müssen wir riskieren. Ich gehe in den linken Gang hinein. Vielleicht fünfhundert Schritte. Meine Fußabdrücke und das Wasser, das aus meinen Schuhen herausläuft, werden deutlich zu sehen sein. Mit etwas Glück folgen sowohl die Muerte negra als auch die Seelentrinker dieser Spur. Etwas Besseres fällt mir nicht ein.«

»Sobald die Spuren enden, werden sie erkennen, dass sie einer falschen Fährte gefolgt sind. Dann sind sie sofort wieder bei uns.«

»Nein.« León schüttelte den Kopf. »Mit der Zeit wird weniger Wasser aus meinen Schuhen austreten, die Spuren werden ohnehin undeutlich, sie werden also gar nicht merken, wenn die Spur nicht mehr weitergeht. Und außerdem …« Er zog seine Waffe heraus, entfernte fachmännisch das Magazin und ließ eine Patrone in seine Hand fallen. »… werde ich die hier weit in den Gang hineinwerfen. Sodass sie denken, wir sind dort langmarschiert.«

»Klingt besser als gar kein Plan«, sagte Jenna. »Einen Versuch ist es wert. Wir warten solange hier.«

»Ihr geht weiter durch den Tunnel. Ich komme euch nach.«

Mary sah ihn eindringlich an. »Ich will dich hier nicht allein lassen.«

León grinste. »Es dauert höchstens zehn Minuten, die Spur zu legen, wenn ich den Weg zurück renne, noch mal weniger, und um euch dann einzuholen, brauche ich knapp zwanzig Minuten. Wenn ich mich beeile, bin ich bald wieder bei euch.«

»Wir haben kein Licht. Du hast die einzig funktionierende Lampe und brauchst sie auch, sonst bist du zu langsam«, meinte Mary. Jeb und Mary schauten skeptisch, während León den Plan vervollständigte.

»Dann nehmt ihr das Feuerzeug.« León reichte es Jenna. »Wenn ihr vorsichtig seid, reicht euch das Licht.«

»Dann mal los, wir sollten keine Zeit verlieren«, sagte Jeb. Er ging zu León und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Bis gleich.«

»Ja, bis gleich.«

Jenna nickte ihm zu und wandte sich dann ab, sie wollte León und Mary sich allein verabschieden lassen. Mary trat vor ihn und umarmte ihn fest. Jenna hörte Leóns Worte: »Mach dir keine Sorgen.« Dann vernahm sie seine Schritte im Gang und Jenna und Mary sprangen Jeb hinterher in das eiskalte Wasser.

Er fröstelte. Noch mehr als im Wasser. Verdammt, war ihm kalt.

Das sind nur die Nerven, sagte er sich. Du bist angespannt. Die Dunkelheit und der Gedanke, allein zu sein, machen dir Angst. León biss die Zähne aufeinander und mahlte mit den Kiefern.

Vor ihm tanzte der Lichtstrahl der Taschenlampe über den Boden. Hin und wieder raschelte es und einmal hörte er ein leises Fiepen. Er wusste, das waren nur die Ratten, die vor ihm flohen, dennoch kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Er hatte vorgehabt zu rennen, um Zeit zu sparen, aber dafür waren seine Muskeln zu steif. So schnell es ging, tappte er mit den beinahe erfrorenen Füßen durch den Tunnel. Er dachte an Mary, an ihren Blick, als sie sich verabschiedet hatten, und ihre Lippen an seinem Ohr. Es waren Minischritte, die er und Mary machten, und so viel blieb ungesagt zwischen ihnen. Er wusste nicht, wie er Mary begegnen sollte, nach allem, was noch ungesagt zwischen ihnen stand, aber je länger er an sie dachte, desto wärmer wurde ihm. Es war eine Wärme, die tief aus seinem Innersten zu kommen schien und ihn mit Hoffnung erfüllte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er wieder ein Ziel, einen Zweck, eine Bestimmung.

Für einen Moment blieb er stehen und leuchtete den Weg zurück. Deutlich sichtbar im Staub zeichneten sich seine Fußabdrücke ab, die aber mit jedem Schritt blasser wurden.

Zufrieden ging er weiter.

Die Bilder der Vergangenheit drängten herauf. Er sah sich selbst im Barrio. Als Kind, als junger Mann. Antónia, das Mädchen mit den wippenden Zöpfen, die ihm mit zwölf den ersten Kuss geschenkt hatte.

Aber da waren auch Bilder von Hass und Gewalt. Der Tod ging um im Barrio, er gehörte zum Leben wie das Atmen und es traf Gangmitglieder, Drogensüchtige oder Prostituierte gleichermaßen, Freund und Feind.

Wer das Pech hatte, in dieses Viertel hineingeboren zu werden, lernte den Tod unweigerlich kennen. Vom ersten Atemzug an war er da, bei dir, blickte über deine Schulter und lenkte die Hand, in der man die Waffe hält. Und gleichzeitig war er ein Verräter, der heute den einen begünstigte, nur um ihn morgen zu verraten und die Hoffnung auf ein besseres Leben zu rauben.

Plötzlich zuckte León zusammen und fuhr sich mit den Händen über die Arme, um die Gänsehaut glatt zu streichen. Hatte ihn da etwas berührt? Er blieb kurz stehen und lauschte. Nichts. Mischas Bericht von der Begegnung mit den Seelentrinkern fiel ihm ein, er hatte Lähmungserscheinungen gehabt. León hatte ihm nicht geglaubt, nun schlenkerte er instinktiv seine Arme, bewegte den Kopf zur Seite, schüttelte seine Beine aus. Trotzdem meinte er immer noch, eine eiskalte Berührung an den Armen zu verspüren. Er blickte sich um und leuchtete mit der Taschenlampe hinter sich. Nichts zu sehen, nichts zu hören.

Er lächelte bitter. Wurde er jetzt doch noch verrückt? Dann dachte er an seine Ankunft im Labyrinth, um sich abzulenken. Die erste Welt. Ihre Flucht. Er versuchte zum wiederholten Mal vergeblich herauszufinden, was ihn dorthin gebracht hatte.

Und dann war da Mary.

Immer wieder Mary.

Ihre Schwäche, die gleichzeitig ihre Stärke war. Ihr Lächeln, als sie nachts am Feuer saßen. Das vor Anstrengung gerötete Gesicht beim Marsch durch die glühende Ebene. Mary, auf die Schneeflocken herabtanzten. Mary vor dem letzten Tor und Marys Blick, als sie ihn zum ersten Mal wirklich angesehen hatte.

Irgendetwas war mit ihm geschehen, sodass er sein Einzelgängertum nicht mehr länger aufrechterhalten konnte. Er war niemandem etwas schuldig, er musste sich nichts beweisen und doch, wenn es nun zu einer Entscheidung käme, wüsste er, wie er handeln würde.

Mary.

Überall und immer.

Mary.

Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken aufschrecken. Das war keine weitere Ratte, die durch die Gänge huschte, nein, vor ihm in der Dunkelheit war ein Mensch.

León riss die Lampe hoch, die andere Hand fuhr an den Hosenbund und zog die Waffe. Im gleichen Augenblick blendete ihn der starke Strahl einer Taschenlampe. León sah nichts mehr, er musste die Augen zusammenkneifen.

Wer ist da? Ein Muerte negra? Einer von den Mole People?

Da war nur ein schattenhafter Umriss hinter dem Licht. Mehr eine Ahnung als ein tatsächliches Bild. León rührte sich nicht. Der andere auch nicht. Starr blieb das Licht auf ihn gerichtet.

»Bist du das, Bene?«, fragte eine Stimme.

Gut, das Licht meiner Lampe blendet ihn ebenso wie mich seines.

Er versuchte es mit einem Trick und sagte: »Ja!«

Das Wort war noch nicht ausgesprochen, da wusste er schon, dass es nicht funktionieren würde. León riss seinen Arm hoch und feuerte auf den Schatten hinter dem Licht. Gleichzeitig blitzte auf der anderen Seite Mündungsfeuer auf. Etwas traf León, warf ihn nach hinten. Noch während er fiel, schoss er erneut, dann knallte er hart mit dem Rücken auf den Steinboden. Die Luft wurde mit einem Pfeifen aus seinen Lungen gepresst. Gleißende Sterne tanzten hinter seinen geschlossenen Augen.

Die Lampe war ihm aus der Hand gefallen. Ein paar Meter von ihm weggerollt. León öffnete die Lider und drehte den Kopf. Der Schein leuchtete zufälligerweise in die Richtung seines Gegenübers und dann sah er ihn. Wie eine zerbrochene Puppe lag er verkrümmt auf der Seite. Die Augen geöffnet, starrte er ihn leblos an und sah ihn doch nicht.

Er war jung. Kaum älter als er selbst. Von hagerer, sehniger Gestalt. Ein buntes Stirntuch war um seinen Schädel gebunden, er trug Shorts, die bis über die Knie reichten, und ein Shirt mit Aufdruck. Ein ganz normaler Jugendlicher wie er. Und er blutete nicht.

León stöhnte vor Schmerz. Sein ganzer Leib begann zu zittern. Das Adrenalin jagte durch seinen Körper und schüttelte ihn, wie der Sturm an einem Zweig rütteln mochte. León versuchte, die Zähne zusammenzubeißen, das Zittern zu unterdrücken, aber sein Kiefer klapperte unkontrolliert in der Dunkelheit.

Was habe ich getan? Ist das mein Schicksal?

Wieder war es geschehen. Ein Junge hatte ihm gegenübergestanden und war nicht schnell genug gewesen. Die Strafe der Tod. Waffen verziehen nicht, tolerierten kein Versagen.

Ich habe erneut einen Jungen erschossen. Alles wiederholt sich. Wohin ich auch gehe, wie weit ich auch fliehe, mein Schicksal holt mich immer wieder ein, lauert an der nächsten Ecke auf mich.

León verlor sämtliche Kontrolle über seinen Körper, das Zittern übermannte ihn und er begann zu weinen. Die verrinnende Zeit spielte plötzlich keine Rolle mehr.

Stumm liefen die Tränen seine Wangen hinab, tropften auf die verfluchte Waffe, die er noch immer in den Händen hielt. Am liebsten hätte er sie fortgeworfen. Weit von sich geschleudert, aber das durfte er nicht tun. Vielleicht brauchten sie sie noch. Keuchend stand er da, dann würgte er und übergab sich an Ort und Stelle. Bis nichts mehr kam. Bis sein Mund nach Galle schmeckte.

Danach ging er gekrümmt zu dem toten Jungen hinüber. Bückte sich. Schloss ihm die starren Augen. Leise flüsterte León ein Gebet, an das er sich erinnerte. Es war ein Gutenachtgebet, seine Mutter hatte es mit ihm gesprochen, als er noch klein, als er noch ein Kind gewesen war.

Minuten vergingen, dann nahm er dem Toten die Waffe ab. Er selbst hatte nicht mehr viel Munition. Auch die Taschenlampe nahm er an sich. Er erhob sich und humpelte zu seiner eigenen Lampe, die unablässig auf den blutlosen Toten strahlte. In ihrem Lichtschein untersuchte er seinen eigenen Körper.

Die Kugel war etwas oberhalb seiner Hüfte eingeschlagen. Er schob das schwarze T-Shirt hoch und blickte auf ein dunkles Loch in seinem Leib.

Fast war er überrascht, so viel Blut zu sehen. Überhaupt Blut zu sehen – warum bluteten die anderen Menschen in dieser Welt nicht, nur er? Er stöhnte vor Schmerz auf. Bisher hatte León der Schock über sein eigenes Tun so abgelenkt, dass kein Schmerz in seinem Kopf ankam. Doch nun, beim Anblick seines Blutes, das unablässig mehr wurde und seine Kleidung durchtränkte, schmerzte sein ganzer Körper.

Mit einem Mal war er unendlich müde. Dieser ständige Kampf laugte ihn aus, er wollte nicht mehr weitermachen. Die äußerliche Härte, die er die anderen hatte spüren lassen, hatte ihn für eine gewisse Zeit stark und unbesiegbar gemacht. Jetzt war diese rettende Hülle angeknackst und durch den Riss kamen Verletzlichkeit, Erschöpfung und unaufhaltsam das Sterben. León war sich bewusst, dass ihn diese Wunde töten würde, sollte sie nicht bald medizinisch behandelt werden. Wahrscheinlich würde er verbluten, er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb.

Mary! Er musste zu ihr. Wenigstens sie beschützen. Er sah den dunklen Tunnel auf und ab. Sein Plan, die Muerte negra auf eine falsche Fährte zu locken, war grandios gescheitert, und wo einer von ihnen war, da waren sicherlich auch andere und sie alle hatten die Schüsse gehört.

Ein Gutes hat die Sache, es lenkt die Muerte negra von den anderen ab.

Aber er, ja, er selbst würde sie wieder auf die richtige Spur führen. Die Gang müsste nur den Blutspuren folgen, die er zweifellos hinterlassen würde. Sobald er die Wasserrinne erreichte, würden diese Spuren verwischt werden, aber dann konnten sich die Verfolger mühelos zusammenreimen, in welche Richtung er gegangen war.

Fieberhaft überlegte León, was er tun konnte. Es galt, Mary zu beschützen und Jeb die Chance zu geben, die beiden Mädchen in Sicherheit zu bringen, aber irgendetwas musste er doch tun können, um die Feinde abzulenken. Dann fiel es ihm ein.

Er blickte zu dem toten Jungen.

Ich brauche sein Shirt, um die Blutung zu stillen.

Er hatte jetzt zwei Pistolen. Allerdings gab es hier keine Deckungsmöglichkeiten und keinen Schutz. Wenn es so weit war, musste er wie ein Verrückter um sich schießen und das Beste hoffen. Vor allem aber durfte er jetzt nicht noch mehr Zeit verlieren.

Mit wenigen Schritten ging er zu dem Toten hinüber.

»Lo siento«, entschuldigte er sich leise, dann streifte er das Shirt über den Kopf des anderen und stopfte es sich hinten in die Hosentasche, dorthin, wo kein Blut es erreichte.

Noch einmal holte er tief Luft.

Dann ging er los.

In den Tunnel hinein.

Weg von dem Jungen, den er getötet hatte.

Weg von Mary, Jenna und Jeb.