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Jennas Hand fuhr über die tief eingekratzten Buchstaben. Immer und immer wieder. Wie konnte das sein? War es Kathy tatsächlich gelungen, in die nächste Welt zu kommen? Gab es etwa noch andere Wege oder weitere Portale?

Kathy war hier.

War das eine Botschaft an die Gruppe? Wollte sie ihnen Angst machen, ihnen drohen?

Das war nicht auszuschließen. Niemand wusste so genau, wie es Kathy ergangen war, nachdem sie aus der Gruppe ausgeschlossen worden war. Niemand wusste, ob Kathy noch lebte. Aber konnte das überhaupt sein? Kathy war zurück? Ohne Portal gab es keinen Weg hierher, das zumindest hatte ihnen Jebs geheimnisvolle Nachricht aus seinem Rucksack weismachen wollen. Was, wenn alles auf Anfang war? War Tian dann auch unter ihnen?

Aber warum sollte Jebs Botschaft eine Lüge gewesen sein?

Falls Kathy zurück war, so viel war Jenna schlagartig klar, hatten sie ein Problem. Was hatte sie vor?

Kathy war zu allem fähig.

Kathy war hier.

Sie war hier. Es klang so, als stünde die Botschaft schon länger dort, als könnte Kathy bereits vor ihnen in diesem Labyrinth gefangen gewesen sein. Aber … das konnte doch nicht sein?

Vielleicht hat jemand diese Botschaft in die Wand gekratzt, um mir Angst einzujagen.

Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig. Es sind nur Buchstaben, sagte sich Jenna immer wieder. Nur Buchstaben. Sie seufzte, warf einen letzten Blick auf die unheilvolle Botschaft und ging weiter. Scheinbar endlos wand sich der Gang vor ihr her. Ihre Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Der gleichmäßige Rhythmus ihrer Schritte und die Eintönigkeit der weißen Wände machten es ihr leicht, sich davon treiben zu lassen.

»Sie wollen es wirklich tun?«, fragte eine Stimme, die einem Mann gehörte, dessen Gesicht verschwommen blieb.

»Ja«, antwortete sie heiser.

»Man hat Sie über das Risiko aufgeklärt?«

»Ich habe ein Dokument unterschrieben, indem ich versichere, dass ich umfassend über mögliche Risiken aufgeklärt wurde und dass dieser Versuch auf meinen eigenen Wunsch hin ausgeführt wird.«

»Versuch? Der Begriff trifft es nicht einmal ansatzweise. Was Sie vorhaben, hat niemals zuvor ein Mensch gewagt, und ich bezweifele sehr, dass es ohne Folgen bleiben wird.«

Sie schwieg.

»Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie irreparable gesundheitliche Schäden davontragen werden. Das alles ist Neuland, müssen Sie wissen.«

»Ich weiß.«

»Gut, dann sind Sie also bereit«, sagte der Schemen. »Ich gebe Ihnen jetzt eine Beruhigungsspritze. Sie werden nur noch vage mitbekommen, wie wir Sie vorbereiten. Später werden wir Ihnen eine Infusion legen, die Sie mit allem versorgt. Und dann geht es los.«

»Werde ich bei Bewusstsein sein, wenn Sie die Apparate einschalten?«

»Nein. Sie werden tief und fest schlafen.«

»Also keine Schmerzen.«

»Voraussichtlich nicht, aber wie gesagt …« Er zuckte mit den Achseln. »Auch wir betreten Neuland.«

»Und wenn alles gut läuft …«

»… holen wir Sie zurück«, vollendete er den Satz. »Sind Sie bereit?«

»Ja.«

Dieses eine Wort war das Letzte, woran sich Jenna erinnerte. Obwohl die Szene deutlich vor ihr stand, konnte sich Jenna nicht erklären, was das Gespräch zu bedeuten hatte. Was habe ich getan?

Es war von einem Versuch die Rede gewesen, von Apparaten, von Risiken und davon, dass sie etwas wagte, was kein Mensch vor ihr getan hatte.

Aber was?

War sie krank? Oder war sie hypnotisiert worden? Hatte sie an einem Experiment teilgenommen? Freiwillig? Aber wozu? Was sollte erforscht werden? War sie ausgewählt worden und wenn ja, von wem?

Nein, das klang selbst in ihren Ohren zu absurd. Nein, das konnte nicht sein. Niemals hätte sie sich dieser Gefahr ausgesetzt, wenn sie darüber Bescheid gewusst hätte. Wozu das alles? Es wäre blanker Selbstmord, von den unabsehbaren Folgen ganz zu schweigen.

In der Botschaft, die Jeb gefunden hatte, war davon nicht die Rede gewesen. Und überhaupt, was hatte das mit Mischa, Jeb, Tian, León, Kathy und Mary zu tun? Wo lag die Erklärung für dieses sogenannte Labyrinth, wie es in Jebs Botschaft geheißen hatte?

Nein, nein, nein. Hinter der Sache steckte etwas anderes. Irgendjemand, etwas, hatte sie und die anderen in diese Lage gebracht und sah ihnen nun zu, wie sie um ihr Leben kämpften.

Jenna war so in Gedanken versunken, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße stolperte, als sie einen dunklen Gegenstand vor sich auf dem Boden entdeckte. Aus Angst draufzutreten, machte sie einen ungelenken Sprung zur Seite und stützte sich an der Wand ab. Dann erst konnte sie es in Ruhe betrachten.

Es war ein Stück Stoff.

Sie hob es auf und schaute es verdutzt an. Das Muster darauf kam ihr bekannt vor. Der Stoff war an beiden Enden zusammengeknotet. Kurze Zipfel ragten aus dem Knoten hervor.

Jenna starrte auf die losen Fäden, die überall herunterhingen. Dieser Stoff war nicht sauber mit einer Schere herausgetrennt worden, jemand hatte ihn irgendwo rausgerissen.

Und er war blutdurchtränkt. Deswegen erkannte sie auch erst jetzt, dass es das Muster von einem der Hemden war, die sie und die anderen trugen.

Ihr Atem stockte.

Das Stück Stoff, das sie in der Hand hielt, war ein selbst gebasteltes Stirnband. Kathy hatte es für Tian angefertigt, damit er die Schreie der Verfolger nicht mehr so laut hörte.

Wie kam es hierher?

Jenna richtete sich auf, blickte sich in beide Richtungen um, aber es war niemand zu sehen.

Kathy, bist du da?

Jeb taumelte durch die Gänge, die sich vor ihm öffneten, ohne ein Ziel zu verfolgen. Als die Wände verschwunden waren, war es ihm kurzfristig besser gegangen und er hatte wieder Luft bekommen. Trotzdem war er so schwach gewesen, dass er eine Weile auf allen vieren vorwärtsgekrochen war. Schnell hatte er erkannt, dass er so nicht vorankommen würde. Irgendwann hatten sich die Wände um ihn herum erhoben und einen Gang gebildet, dem er nun orientierungslos folgte.

Sein Kopf war leer. Jegliche Gedanken nur noch ein weit entferntes Echo in der Halle seiner Ängste. Die Beklemmung kam in Wellen und inzwischen war er darauf vorbereitet, aber er konnte ihr so gut wie nichts entgegensetzen. Seine Widerstandskraft war gebrochen. Jeb hatte sich kraftlos der Angst ergeben.

Die meiste Zeit hielt er die Augen geschlossen, tastete sich halb blind an den Wänden entlang. Er wusste noch, dass er dringend irgendwohin musste, aber er hatte nicht den blassesten Schimmer, was das war, und schon gar nicht, wo. Er versuchte, sich zu erinnern, was war, verspürte aber nur ein sehnsuchtsvolles Ziehen in seiner Brust. Er musste sich um irgendetwas kümmern, es gab jemanden, um den er sich Sorgen machte. Er gab es auf, darüber nachzudenken, als sich erneut alles in ihm zusammenzog und er einen erneuten, lähmenden Angstzustand erlebte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Hände waren klamm und zitterten. Jeb wartete keuchend ab, bis die Angst mit all ihrer zermürbenden Macht über ihn hinweggefegt war. Er hatte alle Hoffnungen fahren lassen. Aber etwas trieb ihn voran. Einfach nur weiter. Seine Beine trugen ihn vorwärts, ohne dass er es ihnen befohlen hatte.

Jeb wusste nicht, wie schnell die Zeit verging. Ob es überhaupt noch so etwas gab wie Zeit. Er fühlte, dass er noch ewig so weitergehen könnte, ohne überhaupt zu ahnen, was er da tat, als der Gang vor ihm plötzlich dunkler wurde. Er spürte die Veränderung hinter seinen geschlossenen Lidern und blieb auf zittrigen Beinen stehen. Er öffnete die Augen, doch alles blieb verschwommen. Kaum nahm er die Umgebung wahr, doch da merkte er, dass sich zu seiner Rechten etwas veränderte. Er drehte sich in diese Richtung. Ein Teil der Wand zog sich zurück, legte eine Glasfläche frei, die vom Licht des dahinterliegenden Raumes nur spärlich erleuchtet wurde.

Jeb taumelte dem Licht entgegen und stieß schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Scheibe. Der unerwartete Schmerz ließ ihn zurücktaumeln und weckte ihn gleichzeitig aus seinem Dämmerzustand. Zum ersten Mal seit Stunden nahm Jeb seine Umgebung wahr.

Zäh kam ihm die Erkenntnis, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war.

Jenna.

Ein Wort. Ein Name. Dann wurde ein Gesicht daraus. Ihr Gesicht. Ein Lächeln.

Wo bist du?

Nach und nach ordneten sich seine Gedanken und er erinnerte sich wieder an das, was seit seinem unerklärlichen Erwachen in der ersten Welt geschehen war.

Jenna, Mischa, León, Mary. Tian tot. Kathy tot.

Die Tore.

Er wusste es wieder. Erleichterung durchflutete ihn. Diesen Jeb, der die Gruppe durch die Abgründe der ersten Welten geführt hatte, den kannte und mochte er.

Eine Bewegung hinter der Glasscheibe erregte seine Aufmerksamkeit. Das Licht im Raum wurde heller und er erkannte etwas.

Mühsam setzte sein Geist das Bild vor ihm zusammen.

Ein Zimmer. Weiße Wände. Ein Tisch mit zwei Stühlen. Ein Nachttisch neben einem Bett auf Rollen. Alles weiß.

Das ist ein Krankenzimmer.

Ein Mann saß auf der Bettkante, hielt die Hand einer Frau, sprach Worte, die nicht durch die Scheibe drangen.

Das Gesicht der Frau. Ausgemergelt. Ausgezehrt von der Krankheit.

Schwarzes Haar, das strähnig auf dem Kopfkissen lag. Ehemals bronzefarbene Haut, die sich in ein blasses Gelb verwandelt hatte, und Augen voller Schmerz.

Mom?

Jeb brüllte das Wort heraus: »Mom!«

Seine Faust hämmerte gegen die Glasscheibe, aber die beiden Gestalten im Zimmer nahmen ihn nicht wahr.

Als Jeb innehielt, erkannte er, wer da am Bett seiner sterbenden Mutter saß. Sein Vater!

Es war der Teil seines früheren Lebens, an den er sich schon in der ersten Welt erinnert und von dem er Jenna erzählt hatte. Was er sah, war eindeutig. Es waren die letzten Augenblicke im Leben seiner Mutter, kurz nachdem er aus dem Raum gestürmt war, weil er ihr Sterben nicht hatte ertragen können.

Jeb legte beide Handflächen auf die Glasscheibe. Der Kopf sackte nach vorn, seine Stirn legte sich an das kühle Glas. Tränen liefen ihm über das Gesicht, er schmeckte Salz. Er war hier, endlich, aber seine Mutter bemerkte es nicht einmal.

Jeb sah, wie sich sein Vater vorbeugte, mit der Hand sanft über das Gesicht der Sterbenden strich. Er sagte etwas und Jeb konnte es von den Lippen lesen. Ich liebe dich. Hab keine Angst. Ich bin bei dir.

Seine Mutter erwiderte etwas. Ich liebe dich auch.

Dann ein Wort. Jeb.

Ich bin hier, wollte Jeb brüllen. Schau her, Mom. Ich bin bei dir. Aber sein Mund blieb stumm.

Sein Vater antwortete etwas, das Jeb nicht verstand, aber das Gesagte schien seine Mutter zu beruhigen.

Es ist so weit, las er von ihren Lippen. Ich muss gehen.

Sein Vater beugte sich noch einmal vor und nun sah Jeb, dass er hemmungslos weinte. Mit beiden Händen umfasste er das Gesicht seiner Frau und küsste sie ein letztes Mal. Ein Lächeln erschien auf den Lippen seiner Mutter, dann wurden ihre Züge weich und alle Anspannung wich aus ihrem Körper.

Jeb beobachtete, wie sein Vater ihre Augen schloss, ihre Hände faltete, dann legte er seinen Kopf auf die Brust der Toten. Sein Oberkörper bebte. Fast glaubte Jeb, das Schluchzen zu hören. Kraftlos ließ er sich zu Boden sinken.

Auch dich habe ich allein gelassen.

Bitte verzeih mir.

Er fühlt sich elend. Die einzige Erinnerung an sein früheres Leben, die ihm geblieben war, machte ihn traurig. Enttäuscht war er. Vor allem von sich selbst.

Es ist alles sinnlos.

Dieser Kampf ums Überleben.

Wofür?

Seine Mutter war tot. Seinem Vater hatte er in diesem Moment nicht beigestanden. Wenn er jemals in seine Welt zurückkehren sollte, gäbe es nichts. Niemanden, der auf ihn wartete. Vielleicht war er zu Recht hier. Vielleicht war das die Buße für sein Versagen. Wenn dem so war, dann wollte er die Bitterkeit bis zum letzten Tropfen auskosten.

Ich werde nicht mehr kämpfen.

Dieser Entschluss ließ ihn augenblicklich ruhig werden. Das Zittern im ganzen Körper ließ nach.

Ich werde nicht mehr kämpfen.

Irgendwie sorgte dieser Gedanke für so etwas wie Frieden in ihm. Seit einer gefühlten Ewigkeit war er endlich wieder Herrscher über seinen Körper und seine Gedanken.

Jenna?

Was wird aus dir?

Seine Augen schlossen sich. Die Antwort war wie ein Stein, den man in einen Teich warf. Immer weitere Kreise zogen sich über das Wasser.

Sie hat etwas Besseres verdient.

Doch bevor dieser Gedanke zur Gewissheit werden konnte, trieb Jebs Geist davon. Dorthin, wo es keine Schmerzen gab.