image

Der lange Gang vor ihm ließ ihn aufatmen. Wenigstens war er nicht mehr gefangen und konnte sich fortbewegen. Irgendwohin würde ihn dieser Gang führen. Vielleicht zu Mary.

Er gab sich Mühe, leise zu sein, nicht weil er glaubte, dadurch Mischa überraschen zu können. Es war vielmehr so, dass er selbst nicht von ihm überrascht werden wollte.

Die Zeit verstrich, während er dem Gang folgte. León fühlte seine Schmerzen bei jedem Schritt, aber das war gut so, denn sie hielten ihn wach. Sie verhinderten, dass er seinem Drang nachgab, sich einfach hinzusetzen und einzuschlafen.

Irgendwie war es schon merkwürdig, dass er hier in diesem Labyrinth immer müde war. Seit er im ersten Raum angekommen war, fühlte er diese bleierne Müdigkeit, die ihn unablässig verlockte, die Augen zuzumachen und einzudösen.

Da stimmt etwas nicht mit mir. Nur mit Erschöpfung ist diese ewige Müdigkeit nicht zu erklären. In den anderen Welten war ich auch Strapazen ausgesetzt, habe mich aber niemals so schlapp gefühlt.

León vermutete, dass er womöglich jetzt den Preis für die Energie zahlte, die er in den letzten Tagen für das bloße Überleben aufgebracht hatte.

Seine Gedanken wanderten zu den anderen. Ob Jeb, Jenna und Mary schon die Tore entdeckt und durchschritten hatten? Oder vielleicht sogar Mischa? Letztendlich war es egal, ob Mischa ihm vielleicht sogar hier in dem Gang auflauerte, denn wenn er die Portale nicht bald fand, war alles egal. Er fühlte, dass er langsam zu müde wurde, um sich darüber noch Gedanken zu machen.

Nur einen Schritt machen und noch einen.

León taumelte inzwischen mehr, als dass er ging. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und so entdeckte er den Gegenstand erst, als er fast darauftrat. León blieb stehen und starrte auf das Stück Stoff, das am Ende zusammengebunden war.

Tians Stirnband, oder besser gesagt Kathys Stirnband lag vor ihm. Er bückte sich, hob es auf und führte es an seine Nase. Ja, das war es. Der Stoff roch sogar noch nach Kathy.

Als er wieder aufschaute, erschrak er. Sie stand vor ihm. Kathy stand tatsächlich vor ihm.

Keine zwei Meter entfernt. Sie sah so aus, wie er sie zuletzt gesehen hatte, nur dass sie ihre Jacke ausgezogen hatte und vor den Bauch hielt. Noch immer zogen sich Schmutzspuren über ihr Gesicht und er entdeckte bräunliche Blutflecke auf ihrem Hemd. Kathys Haar war zerzaust und sie sah immer noch genauso wild aus, wie er sie zuletzt in der Eiswelt gesehen hatte. Aber der Blick ihrer Augen war klar und weich. Tränen standen darin.

»Weißt du, wo ich bin?«, fragte sie so leise, dass León einen Moment brauchte, um ihre Worte zu verstehen. Er machte eine hilflose Geste.

»So genau kann ich das nicht sagen, Kathy. Immer noch im Labyrinth und immer noch müssen wir die Tore finden. Und du müsstest eigentlich tot sein.« Er versuchte ein vorsichtiges Lächeln.

»Wer ist Kathy?« Sie schaute ihn verwirrt an.

»Was?« León verstand gar nichts mehr. »Du bist Kathy.«

»Ich bin Kathy«, flüsterte sie.

»Kathy, wie kommst du hierher? Wieso weißt nicht mal mehr, wer du bist?«

»Ich bin Kathy«, wiederholte sie diesmal lauter.

»Chica, hör auf mit dem Quatsch. Sag mir lieber, wie du hierhergekommen bist.« León fixierte sie. »Du müsstest tot sein.«

Sie sah ihn aus großen Augen an. »Ich weiß es nicht.«

León erkannte mit einem Blick, dass sie sich an nichts erinnern konnte. Vor ihm stand ein verzweifeltes Mädchen, das vergessen hatte, wer sie war und was sie hier zu suchen hatte.

»Hast du die anderen gesehen?«, fragte León, auch wenn er ahnte, dass sie ihm wahrscheinlich nicht weiterhelfen konnte.

Kathy runzelte die Stirn. »Die anderen?«

»Jeb, Jenna, Mischa.«

Sie schüttelte wild den Kopf. »Sind sie nett?«

»Du kannst dich nicht an sie erinnern, stimmt’s?«

Aus Kathys Augen liefen Tränen über ihr verschmutztes Gesicht, hinterließen helle Spuren, während sie die Wangen hinabrannen.

»Nein.« Sie ließ die Arme sinken und die Jacke, die sie bis dahin in den Händen gehalten hatte, fiel zu Boden. León zuckte zusammen, als er ihren Unterleib sah.

»Oh mein Gott, Kathy, du bist verletzt!«

Er starrte auf das blutgetränkte Hemd, auf das Blut, das aus einer tiefen Bauchwunde quoll. »Was ist das? Wer hat das getan, Kathy?«

Kathy schaute an sich herab. Sie war ganz ruhig, als sie wieder aufsah. »Bist du mein Freund?«

»Warte, ich helfe dir.« Er machte einen Schritt vorwärts. Kathy hob eine blutige Hand.

»Bitte komm nicht näher.«

»Aber du brauchst Hilfe. Ich muss deine Wunde irgendwie verbinden … ich …«

»Etwas stimmt nicht mit mir. Ich bin an einem Ort, den ich nicht kenne, weiß meinen Namen nicht und erinnere mich an gar nichts.«

»Kathy, du könntest verbluten!«, rief León verzweifelt.

»Ach«, seufzte sie.

León machte einen Schritt auf sie zu, aber Kathy wich zurück, sie hielt nun beide Hände ausgestreckt, so als wolle sie ihn abwehren.

»Sagst du mir deinen Namen?«, fragte sie.

»Lass mich dir helfen.«

»Wie heißt du?«

»Kathy, bitte!«

»Sag mir deinen Namen.«

»Mein Name ist León, verflucht noch mal. Und jetzt lass mich dir helfen.« Er war entsetzt über das, was sich da vor seinen Augen abspielte. Kathy war hier, wie auch immer sie es aus der letzten Welt hierher geschafft hatte. Sie blutete unablässig, aber es schien sie nicht zu kümmern.

Kathy ging ein weiteres Stück zurück. »Das ist ein schöner Name. Der schönste, den ich jemals gehört habe.« Sie kicherte, dann begann sie, leise zu singen, wurde aber immer lauter.

Three blind mice,

Three blind mice.

See how they run,

See how they run!

They all ran after the farmer’s wife

Who cut a cheese with a carving knife.

Did you ever see such a thing in your life

As three blind mice?

Three blind mice,

Three blind mice.

See how they run,

See how they run!

They all ran after the farmer’s wife

Who cut off their tails with a carving knife.

Did you ever see such a thing in your life

As three blind mice?

León streckte Kathy seine Hände entgegen.

Schau doch, ich bin unbewaffnet, ich werde dir bestimmt nichts tun.

»Ich werde dir jetzt helfen, ob du willst oder nicht.«

»Zeit zu gehen, León.« Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, doch ihre Augen wirkten plötzlich kalt. »Denk an die kleinen Mäuse, wir sind blind wie sie.«

Bevor León reagieren konnte, wandte sich Kathy um und rannte den Gang hinunter. León lief ihr, ohne zu zögern, hinterher. Obwohl Kathy schwer verletzt war, entstand rasch ein Abstand zwischen ihnen. León legte all seine Kraft in die Beine, aber es half nicht. Er hatte das Gefühl, als würde er sich überhaupt nicht fortbewegen, so als halte ihn eine unsichtbare Kraft zurück. Seine Füße trafen den Boden, aber er kam nicht voran, während Kathy singend vor ihm davonlief.

Three blind mice,

Three blind mice.

See how they run,

See how they run!

Dann verschwand sie in der Ferne des Ganges und León war allein. Schwer keuchend blieb er stehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich und in seinem Körper loderten die Schmerzen. Für einen Moment hielt er die Luft an und lauschte. Kathys Gesang hallte durch den Gang zu ihm.

Three blind mice mice mice mice.

Three blind blind blind blind mice mice mice.

See how they run run run run run

See see see see seeeeeeeeeeeee

Jenna und Jeb gingen mittlerweile voran. Mary und Mischa waren zurückgefallen. Jenna schaute kurz zurück und sah, dass Mischa die Hand in die rechte Seite gepresst hielt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber in seinen Augen brannte ein kaltes Feuer, als er ihren Blick erwiderte.

»Er macht mir Angst«, sagte Jenna leise, als sie sich wieder Jeb zuwandte.

»Ich passe auf dich auf.«

Anscheinend ging es Jeb einigermaßen gut. Zwar atmete er flach, aber er hatte ihr erklärt, dass es ihm so leichter fiel.

»Wie geht es dir?«, fragte Jenna.

»Etwas schwach, aber besser. Mir ist immer noch schwindelig, ich hoffe, das vergeht auch bald.«

»Du musst, Jeb. Wir beide …« Sie zögerte. »Ich habe das Gefühl, uns verbindet etwas ganz Besonderes und wir müssen jetzt noch mehr zusammenhalten. Mir lässt die Sache mit Leóns Tod keine Ruhe. Wenn Mischa etwas damit zu tun hat, ist er echt gefährlich.«

»Du sprichst von ihm wie von einem Verbrecher«, setzte Jeb energisch dagegen. »Seit wir hier sind, war er immer ein guter Kamerad, stets hilfsbereit und freundlich. Es ist nicht erwiesen, dass er Schuld hat an Leóns Tod.«

»Den Mischa, von dem du sprichst, den gibt es nicht mehr. Schau in seine Augen. Ich traue ihm nicht. Und das heißt umso mehr, dass wir durchhalten müssen. Du musst kämpfen. Du darfst niemals aufgeben.«

Jeb runzelte die Stirn. »Wieso sagst du das?«

Jenna blickte ihm in die Augen. »Weil ich Marys Ausbruch vorhin nachempfinden kann. Wenn dir etwas geschehen würde … ich weiß nicht, ob ich allein weiterleben wollte. Dann würde mein Weg enden.«

»Jenna, nein. Du musst kämpfen, du auch. Bis zum letzten Atemzug.«

»Solange du lebst, werde ich das tun. Geschieht dir etwas, setze ich mich hin und stehe nie wieder auf.«

»Jenna …«

Aber sie hatte sich umgewandt und wartete auf Mary.

Jeb sah ihr nach und sein Herz wurde schwer. Er liebte Jenna und ihm war klar, dass sie es sein musste, die das letzte Tor durchschritt. Er hatte vorgehabt, sie bis dahin zu begleiten und zu beschützen, aber nun erkannte er, dass dieses Vorhaben sinnlos war. Sein Opfer, mochte es auch aus Liebe gebracht werden, würde Jenna zerbrechen. Nichts wäre gewonnen.

Jenna, wie soll ich dich dazu bringen zu überleben? Denn ich möchte ohne dich doch auch nicht leben. Aber wenn wir es beide nicht einmal versuchen, dann haben wir gar keine Chance.

Er schüttelte den Kopf. Nein, das kam nicht infrage. Solange sie noch lebten, gab es Hoffnung. Sie würden einen Weg aus dem Labyrinth der Welten herausfinden. Es konnte, es durfte nicht anders sein. Mischa tauchte neben ihm auf.

»Wie geht es dir?«, fragte Mischa, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem Jungen von vor ein paar Tagen hatte. Die strahlend blauen Augen waren stumpf geworden, die winzige weiße Narbe, die Mischas rechte Augenbraue teilte, fiel neben all den Blessuren und Wunden kaum mehr auf.

»Ganz okay. Und dir?«

»Mir tut jeder Knochen weh und meine Rippen bringen mich noch um. Aber Hauptsache, wir schaffen es rechtzeitig zu den Toren. Die Show muss ja weitergehen, oder?«

»Du glaubst also auch, dass jemand hinter alldem steckt? Uns beobachtet und …«

»Sich daran aufgeilt«, führte Mischa den Satz fort. »Ja, und hoffentlich kriegen wir das Schwein eines Tages in die Finger und dann töten wir ihn, wer auch immer hierfür verantwortlich ist.«

Jeb kroch ein Schauer über den Rücken. Mischa sprach mit einer Intensität und einer Härte, die er bisher nicht an ihm gekannt hatte. »Was ist mit León?«

Mischa starrte ihn misstrauisch an. »Das habe ich euch schon erzählt.«

»Ich dachte nur, vielleicht erinnerst du dich noch an etwas. Hast du uns wirklich alles gesagt?«

»Du glaubst mir nicht!«, zischte Mischa. »Was willst du mir unterstellen? Glaubst du, ich habe etwas mit Leóns Tod zu schaffen?«

»Nein, ich weiß nur nicht …« Jeb versuchte, Mischa beschwichtigend die Hand auf die Schulter zu legen.

Doch der schüttelte sie unwillig ab. »Was?«

»Zugegeben, ich war nicht dabei. Aber du hast so merkwürdige Verletzungen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass das alles von einem Sturz verursacht wurde. Man könnte glauben, du wärst von einem Bus überrollt worden.« Jeb lächelte schief. »Nur dass es hier keine Busse gibt.«

»Soll das jetzt witzig sein?«

Jeb hob die Hände. »Nein, sorry, wenn es etwas flapsig rüberkam, aber nimm zum Beispiel deine Hände …«

»Was ist mit ihnen?«

»Die Knöchel sind aufgeplatzt. So etwas passiert einem normalerweise nicht bei einem Sturz.«

»Wegen meiner Knöchel?«, fragte Mischa ungläubig. »Deswegen misstraust du mir? Und Jenna auch?«

»Ich …«

»Nein, lüg jetzt nicht. Ich sehe doch die schiefen Blicke von dir und Jenna, ich kann das langsam nicht mehr ertragen.«

Jeb schaute ihn abwartend an.

»Da du es ja offenbar so genau wissen willst: Ich habe vor Wut auf die Wand eingedroschen. Als ich versuchte, eines der schweren mathematischen Rätsel zu lösen, um die Türen zu öffnen. Als es mir zunächst nicht gelang, da habe ich … ich bin halt kurz durchgedreht.«

»Mischa …«

»Warum hast du mich nicht einfach gefragt? Einfach nur fragen, Mischa, was ist mit deinen Händen passiert? Und es wäre in Ordnung gewesen. Aber gut, dann weiß ich auch, woran ich jetzt bin bei dir und Jenna.« Mischa atmete tief aus. »Scheiß auf euch, Jeb. Ich scheiß auf euch.«