León betrachtete wütend die Zahlen, die unermüdlich über die Wände glitten und ihn zu verhöhnen schienen. Er verfluchte Mischa und malte sich aus, was er ihn spüren lassen würde, wenn er ihn wiedertreffen würde. Doch dann erkannte er, dass ihn sein Zorn auf Mischa hier nicht herausbringen würde.
Unter Schmerzen ging er die Wände ab, starrte auf die vorbeihuschenden Zahlen, aber sie sagten ihm nichts.
Was konnte er tun?
Nichts. Allein würde er es niemals hier heraus schaffen. Er musste warten, bis die Wände wieder im Boden verschwanden.
Mierda! Und dann kann ich mich gerade mal ein paar Meter weiterschleppen, bevor ich wieder eingeschlossen sein werde.
Alles wegen Mischa. Was war nur in ihn gefahren?
In beiden Welten hast du dich kameradschaftlich verhalten, hast dein Leben riskiert an der Schlucht, um uns zu retten. Und nun das?
Mischa hatte wirres Zeug gesprochen, das Eingesperrtsein zwischen den Wänden musste ihn vollkommen durcheinandergebracht haben. Noch in der Erinnerung an Mischas Gestammel und sein seltsames Verhalten geriet León erneut in Rage. Das ging einfach nicht, das ging einfach gar nicht.
Wie kann ein Mann so weiche Lippen haben?
Wütend spuckte er auf den Boden.
Verdammt, wie es hier aussieht. Fast könnte man meinen, hier wäre ein Schwein geschlachtet worden.
Aber hier war kein Tier verendet, eine Kameradschaft, die weit über das übliche Maß hinausging, war zerbrochen. Für immer.
León begann, so etwas wie Reue zu verspüren. Ein Gefühl, das er nicht kannte.
Was hätte ich denn tun sollen? Man weiß doch einfach, wo man hingehört! Scheiße, nein!
Die Stimme in seinem Inneren verklang und León musste erkennen, dass er einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. Das Leben war ein Kampf und Herausforderungen begegnete man mit Gewalt, aber Mischas Geste war keine Herausforderung gewesen, er hatte es aus – beinahe würgte León – Zuneigung getan. Und Hilflosigkeit.
Wenn ich könnte, würde ich dich um Verzeihung bitten.
Aber León spürte, dass er das niemals über die Lippen bringen würde und ihm Mischa nicht verzeihen würde.
Sie waren bloß noch Feinde und er musste sich darauf einstellen, dass Mischa alles tun würde, um ihm zu schaden. Doch damit konnte León umgehen. Außerdem war der erste Schritt in diese Richtung schon getan, Mischa hatte ihn zurückgelassen. León wollte sich gar nicht vorstellen, zu was der blonde Junge noch fähig war. Dass in ihm ein skrupelloser Kämpfer steckte, hatte er bereits bewiesen. Was würde ihn erwarten, wenn er Mischa noch einmal begegnete, sie um ein Tor kämpfen müssten?
Er durfte von Mischa kein Mitleid und keine Gnade mehr erwarten.
Und er kann die Räume durchqueren, wie er will, während ich hier tatenlos herumsitze.
León fluchte erneut.
Wann gehen endlich diese verdammten Wände runter?
Jeb lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Es war ihm, als sei er aus einem tiefen Traum erwacht. Er hatte mit einem Mädchen im Bett gelegen und jetzt beim Aufwachen hatten ihn ihre langen Haare gekitzelt. Warm und geborgen fühlte er sich, bereit, alles zu tun, um dieses Mädchen zu schützen. Die ganze Nacht hatte er sie sicher im Arm gehalten, nie würde er zulassen, dass ihr etwas zustieß. Er liebte sie über alles und sie war seit Langem das Beste, was in seinem kläglichen Leben passiert war. Wieder kitzelte ihn etwas an der Nase, seine Hand zuckte. Speichel lief ihm aus dem Mund. Er hielt die Augen geschlossen, er war noch zu müde, um aufzustehen, und er wollte diesen Moment nicht stören, aber er schlief jetzt nicht mehr. Er dachte nichts und sein Geist trieb davon, verloren in den Bildern seiner Erinnerung.
Das Licht im Gang war schwächer geworden und hatte begonnen zu flackern. Ein Knistern erfüllte die Luft, so als sei sie statisch geladen.
Und dann plötzlich begannen sich die Wände zu bewegen. Sie versanken nicht im Boden, sondern schienen an- und abzuschwellen, in einem gleichmäßigen Rhythmus zu pulsieren, als wären es keine Mauern, die einen Gang bildeten, sondern Blutadern, die sich zusammenzogen und wieder öffneten.
Von alldem bekam Jeb nichts mit.
Und dann war es genauso schnell wieder vorbei. Öde und leer erstreckte sich der Gang in beide Richtungen. Das Licht flackerte nicht mehr, sondern strahlte stumpf auf Jeb herab.
So lag er da, eingehüllt in bleierne Finsternis.
Nach einer Weile änderte sich eine Winzigkeit in seiner Umgebung. Ohne dass er sich dessen bewusst war, schlug Jeb die Lider auf. Zunächst war sein Blick verschwommen, aber dann fokussierten sich seine Augen auf etwas Kleines, das sich vor seinem Gesicht bewegte.
Jeb brauchte minutenlang, um zu erkennen, was es war.
Eine Ameise!
Das winzige Insekt lief unruhig kreuz und quer, so als suche es etwas, vielleicht eine Duftspur. Immer wieder blieb es stehen, hob den gepanzerten Kopf an. Dann bewegten sich eifrig die Fühler, aber es fand nicht, was es suchte, und setzte seinen ziellosen Marsch fort.
Eine Ameise!
Jeb beobachtete das Tier in seinem vergeblichen Bemühen. Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Er war im Labyrinth und die Ameise war es auch.
Wie kommst du hierher?
Die Ameise kümmerte sich nicht um ihn und ihm selbst fiel das Denken viel zu schwer, als dass er eine Lösung gefunden hätte. Er wollte in seinen weichen müden Kokon der Ahnungslosigkeit zurück, aber das Tun der Ameise hielt ihn gefangen.
Du bist wie ich. Suchst einen Weg aus diesem Labyrinth. Nur dass du noch eine Chance hast, ich habe aufgegeben. Gib du nicht auf, kleine Ameise.
Der letzte Satz erinnerte ihn an ein Kinderlied, aber weder kam er auf den Text noch auf die Melodie.
Plötzlich ertönte ein leiser Pfiff. Jeb versuchte, das Geräusch zu ignorieren. Er hatte das Interesse an der Ameise verloren und alles andere war ihm sowieso egal, er wollte nur eines – schlafen.
Wieder pfiff jemand. Jeb drehte mühsam seinen Kopf und entdeckte in wenigen Metern Entfernung einen menschlichen Schemen. Es war ein Mann, nicht besonders groß. Jeb blinzelte gegen das Licht, aber die Einzelheiten blieben ihm verborgen. Alles, was er sah, war ein schwarzer Umriss vor einem diffusen Hintergrund.
»Warum liegst du da?«, fragte eine Stimme.
»Großvater?«, fragte Jeb.
»Warum liegst du da?«
»Ich weiß nicht, Großvater.«
»Warum stehst du nicht auf?«
»Ich habe keine Kraft. Bin so schwach, möchte schlafen.«
»Warum fallen wir?«
Jeb ächzte. Er verstand den Sinn dieser Frage nicht. Sein Geist war dabei abzudriften und seine Augen fielen zu.
»Sieh mich an«, befahl die Stimme ärgerlich.
Jeb riss die Augen auf.
»Warum fallen wir?«
»Ich habe keine Ahnung«, krächzte Jeb.
»Wenn du nicht aufstehst, wirst du sterben.«
»Ist mir egal.« Jeb ließ sich zu Boden sinken. Der Schemen verschwand aus seinem Blick.
»Warum fallen wir?«
Damit wir lernen können, wieder aufzustehen.
Mühsam und mit zitternden Gliedern richtete sich Jeb auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief ein. Es war nur ein Gedanke, nein, viel mehr, es war eine Erinnerung und das war mehr, als er in den letzten Stunden hatte. Und sie gab ihm Trost. Und Hoffnung. Die Frage, warum man fällt, hatte ihm sein Großvater gestellt, als er noch ein kleiner Junge gewesen und gestürzt war. Weinend, am Boden liegend, hatte er sich dem Schmerz hingegeben. Dann war sein Großvater neben ihm erschienen. Eine schwielige Hand streckte sich ihm entgegen und zog ihn auf die Füße.
Warum fallen wir, Jeb?
Jeb hatte ihn nur mit großen Augen angesehen.
Damit wir lernen können, wieder aufzustehen.
Nach der Wahrheit dieser wenigen Worte hatte er fortan sein Leben ausgerichtet. Wenn ihm etwas misslang, versuchte er es erneut. Unerbittlich gegen sich selbst, hatte er stets die Zähne zusammengebissen und weitergekämpft.
Aber nun sitze ich auf dem Boden, jammere und lass mich gehen.
Er betrachtete seine Hände, die zitterten. Nun, da er wieder bei Bewusstsein war, schlichen sich auch die klaustrophobischen Gedanken wieder an ihn heran und lähmten ihn. Du wirst gleich sterben. Du bekommst einen Herzinfarkt, dann ist es vorbei.
Jeb schaute den Gang entlang und die Wände verschwammen vor seinen Augen. Aber diesmal gab er nicht nach, sondern zwang sich, die Augen offen zu halten. Die Wände tanzten und ihm wurde schwindelig.
Ich darf jetzt nicht nachgeben! Ich muss aufstehen, Großvater.
Wider alle Vernunft stützte er die Hände ab und schob sich hoch, bis er keuchend auf seinen Füßen stand. Der Boden schien sich inzwischen in ein gigantisches Trampolin verwandelt zu haben.
Jeb machte den ersten vorsichtigen Schritt. Mit der rechten Hand an der Wand tastete er sich langsam vorwärts. Noch immer flutete die Angst in Wellen über ihn hinweg. Seine Hände zitterten, als er sie vor seine Augen hob. Sein Atem kam stoßweise, so als presse jemand seinen Brustkorb zusammen und hindere ihn daran, frei zu atmen. Und dann war da dieses Schwindelgefühl, das alles um ihn herum verschwimmen ließ. Jeb blickte den Gang entlang. Die Wände waren so dicht aneinandergerückt, dass nicht einmal ein Kind mehr hindurchgepasst hätte.
Das ist nicht real. Du bildest dir das nur ein.
Er konnte nicht mehr unterscheiden, was richtig war: Das, was seine Augen ihm zeigten, oder das, was er sich selbst einredete. Wenn die Wände noch weiter zusammenrückten, würde er zwischen ihnen zerquetscht werden.
Das ist nicht real.
Jeb biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten.
Es kann nicht real sein. So etwas gibt es nicht. Dein Gehirn spielt dir etwas vor, schließ die Augen, blende alles aus und konzentriere dich nur auf dich selbst. Du bist stark, hast Jenna durch die Ebene getragen und mit ihr die Eiswelt durchquert. Irgendwo, vielleicht gar nicht weit von dir entfernt, wartet sie darauf, dass du zu ihr kommst.
Der Gedanke gab ihm Kraft und half ihm, Atem zu schöpfen. Eine Weile konzentrierte er sich darauf, seinen Körper wieder wahrzunehmen, den Boden unter seinen Füßen zu spüren, und als er schließlich die Augen öffnete, konnte Jeb wieder klar sehen. Er schnaufte, fühlte sich schwach, aber auch unheimlich befreit, so als habe jemand ihm eine schwere Last abgenommen.
Siehst du, alter Junge, es geht doch.
Jeb spürte, wie ein Lächeln über sein Gesicht glitt. Er war noch immer schwach, hatte wenig Kraft und keine Ahnung, wie er aus dem Labyrinth herauskommen konnte.
Langsam kehrten seine Instinkte wieder zurück. Während er sich mühsam fortbewegte, versuchte er sich zu sammeln. Von den anderen fehlte jede Spur und auch die Tore waren nicht zu sehen. Nichts war geschafft und womöglich nahmen die Schwierigkeiten noch zu, aber jetzt und hier war er fast so etwas wie glücklich. Er stand auf seinen Füßen und konnte sich dem Labyrinth stellen. Schluss mit dem Jammern und dem Kriechen. Er legte seine Hände trichterförmig um den Mund.
»Jenna?«, rief er, so laut er konnte. Immer und immer wieder.