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Hast du das gehört?«, fragte Jenna und blieb abrupt stehen.

»Was gehört?«, meinte Mary.

»Na, den Ruf. Als riefe jemand meinen Namen.«

Jenna drehte sich langsam im Kreis und sie dachte mit einem Schauern zurück an die Ebene. Auch dort hatte jemand nach ihr gerufen – jemand, der ihre Stimme hatte, der aussah wie sie.

Doch diesmal klang die Stimme anders, sie klang wie … Mit einem Mal durchflutete Jenna eine ungeheure Erleichterung. »Das ist Jeb. Jeb! Leise und weit entfernt. Aber das muss er sein. Er ruft nach mir!« Jenna lachte befreit auf.

»Ich höre gar nichts.« Mary hielt inne und lauschte.

»Doch, doch, doch. Das ist er, ich bin mir ganz sicher.« Jenna rief, so laut sie konnte, Jebs Namen, doch als sie wieder innehielt, waren die Rufe verstummt. »Ob er mich gehört hat?«

Noch einmal rief sie nach Jeb.

»Okay, und was machen wir nun?«, fragte Mary

Jenna sah sie erstaunt an. »Was wohl? Wir folgen natürlich den Rufen! Sie kamen irgendwo aus dem Gang vor uns.«

»Und wenn das wieder eine Täuschung ist? So wie bei den Schritten und Davids Hilferufen.« Mary sah Jenna unsicher an. »Sonst müsste ich es doch auch gehört haben.«

Jenna wandte sich in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatte. Sie runzelte die Stirn. Da war was dran, musste sich Jenna eingestehen. Eigentlich müsste Mary Jebs Rufe ebenfalls hören, denn so leise waren sie nun auch wieder nicht. Konnte es wirklich sein, dass sie sich täuschte? Dass ihr etwas vorgespielt wurde?

Plötzlich tauchten wieder Bilder in ihrem Kopf auf. Merkwürdige Bilder, so ganz anders als alles andere, an das sie sich erinnerte. Alles war wie im Nebel, zäh hinter Schleiern verborgen. Da war eine weiße Decke über ihr, an der in regelmäßigen Abständen Leuchtstoffröhren befestigt waren, die ein kaltes, nüchternes Licht auf sie warfen. Offensichtlich lag sie auf dem Rücken und konnte sich nicht bewegen. Sie hörte leises Stimmengemurmel, verstand die Worte aber nicht und sah auch niemanden, der sie sprach. Obwohl sie sich nicht regen konnte, bewegte sie sich dennoch vorwärts, denn die Lampen an der Decke zogen an ihr vorbei. Dann war da eine große Tür, deren beide Flügel aufschwangen und sie verschluckten.

Jenna schüttelte sich, um die Bilder zu vertreiben. Sie wusste nicht, wie sie die Erinnerung einordnen sollte. Sie lauschte nochmals, aber Jeb rief nicht mehr nach ihr. Jenna sah Mary an und traf eine einfache Entscheidung.

»Eigentlich ist es egal, ob da etwas ist oder nicht, wir können sowieso nur dem Gang folgen. Früher oder später werden wir Jeb finden.«

»Was, wenn wir vorher auf die Tore stoßen?«, wollte Mary wissen. »Wir wissen nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Möglicherweise müssen wir uns rasch entscheiden.«

»Ich gehe nicht ohne Jeb.«

Mary blickte sie an. »Du liebst ihn so sehr?«

»Mehr als mein Leben.«

»Und wenn das bedeutet …?« Mary sprach es nicht aus.

»Dass ich hierbleiben muss?«, beendete Jenna den Satz. »Dann werde ich es tun. Hauptsache, wir zwei sind zusammen.«

»Ich beneide dich um deine Gewissheit«, sagte Mary leise. Sie schwieg einen Moment, dann fragte sie zaghaft: »Jenna, kann ich dich etwas fragen?«

»Klar, immer.«

»Glaubst du, jeder darf lieben?« Mary knotete ihre Finger ineinander und schaute Jenna nun mit großen Augen an.

»Mmh … ich meine, kann man sich das Recht verwirken auf seine große Liebe?«

Jenna sah sie lange an. »Was für ein großes Gewicht lastet bloß auf deinen Schultern? Wer hat dich so klein gemacht? Weißt du, ich würde diese Leute am liebsten …«

»Beantworte meine Frage!« Mary klang fast wütend, sodass Jenna überrascht innehielt.

»Ich glaube, jeder hat es selbst in der Hand, ob er es zulässt, dass man liebt oder nicht.«

Mary blickte sie traurig an. »Das kannst du nicht wissen.«

»Was denn? Was ist denn passiert?«

»Ich habe ihm eine runtergehauen.«

»León?«, fragte Jenna verblüfft nach.

»Er hat mich geküsst.«

»Und deswegen verpasst du ihm eine?« Jenna musste lachen, sie konnte einfach nicht anders. Es steckte eben doch so viel mehr in Mary, als sie selbst sich eingestehen wollte.

»Es ist einfach so geschehen. Ich war so wütend und so erschöpft.«

»Kein guter Start für eine Beziehung«, meinte Jenna und zwinkerte Mary zu.

»Ich weiß«, gab Mary kleinlaut zu. »Wenn er doch nur jetzt da wäre, dann könnte ich ihm sagen …« Sie brach ab.

Jenna sah sie eindringlich an. »Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Niemals. Ich muss an die Liebe glauben, denn sonst drehe ich durch.«

»Aber das Labyrinth … die Tore … es wird nur einer von uns überleben. Was ist danach?«

Jenna nickte. »Darum muss ich hoffen. Hoffen, dass wir einen Weg finden, wir alle und Jeb und ich. Dass wir nicht alle sterben, aber vor allem, dass nicht die sterben, für die wir leben.«

Mary schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ich glaube, ich könnte es. Mich für jemanden opfern, meine ich. León das Tor überlassen und selbst zurückbleiben. Ohne ihn wäre ich schon lange tot.«

»Vielleicht hättest du ihm keine scheuern sollen«, sagte Jenna und musste grinsen.

Über Marys Gesicht zog ein zartes Lächeln.

Mischa erwachte aus seiner Ohnmacht und rappelte sich auf. Zu schnell, denn sofort meldeten sich die Schmerzen. Er stöhnte. Instinktiv ging seine Hand zur Nase, aber mit einem Aufschrei ließ er sie sofort wieder los. Zurück blieb ein dumpfes, betäubendes Pochen, das alle Winkel seines Schädels ausfüllte.

»Mir geht’s beschissen«, krächzte er und lachte über seine raue Stimme, die so gar nicht nach ihm, sondern nach einem alten Mann klang. Aber wahrscheinlich war das sogar richtig, denn so fühlte er sich, wie ein alter Sack.

Gerade wollte sich Mischa dem nächsten Rätsel zuwenden, da verschwanden die tanzenden Zahlen plötzlich von den Wänden, machten Platz für bewegte Bilder.

Überlebensgroß erschien ein Mann, trat selbstbewusst hinter ein aufgestelltes Mikrofon und begann zu sprechen. Da es keinen Ton zu den Bildern gab, wusste Mischa nicht, was der Mann sagte, aber es wirkte so, als hielte er eine Rede, denn seine Hände gestikulierten und hin und wieder hämmerte er mit seiner Faust auf das Pult, hinter dem er stand.

Mischa betrachtete ihn genauer. Irgendetwas an diesem Mann kam ihm bekannt vor.

Und dann wusste er es.

Das ist mein Vater!

Der dunkle Anzug, das weiße offene Hemd, die schlanke Figur, das ausdrucksstarke Gesicht mit den harten Wangenknochen, millimeterkurz geschnittene Haare, die in eine Halbglatze übergingen. Alles war ihm vertraut.

Er ist es!

Für einen Moment vergaß Mischa sogar seine Schmerzen. Dann verschwand das Bild plötzlich und machte Platz für neue Aufnahmen.

Die Kamera richtete sich auf ein brennendes Autowrack. Daneben standen andere Fahrzeuge, von Kugeln durchsiebt. Qualm lag über der Szenerie, trotzdem konnte man die Toten auf der Straße sehen. Ein halbes Dutzend Männer lag dort – erschossen.

Eine Nachricht wurde unterhalb des Bildes eingeblendet:

Der Präsident ist tot!

Die Worte brannten sich in sein Gehirn, aber es dauerte, bis er begriff. Der Mann, der zuvor eine Rede gehalten hatte, war tot. Sein Vater war tot.

Und er war der Sohn des russischen Präsidenten.

Mein Name ist Mischa Olegejow. Ich bin siebzehn Jahre alt und wurde im Kaukasus geboren. Meine Mutter ist seit vielen Jahren tot. Von einem russischen Gefreiten erschossen bei einem Attentat auf meinen Vater. Er hat überlebt, aber diesmal haben sie ihn gekriegt.

Mischa blieb bei diesen Gedanken ganz ruhig. Denn mit der Erinnerung war auch sein Hass auf seinen Vater zurückgekommen.

Du bist schuld an Mamas Tod. Sie wollte nicht zur Einweihung der Militärbasis mitkommen, aber du hast sie gezwungen, gesagt, es wäre ein öffentlicher Auftritt und diene zur Beruhigung des Volkes, das unter dem seit Jahren anhaltenden Krieg in Tschetschenien litt. Ölpreise und die Kosten für Nahrungsmittel waren auf einem Rekordhoch, die Menschen froren und hungerten und du hast sie mit wunderbar klingenden Reden satt machen wollen. Statt Essen gab es von dir Durchhalteparolen.

Bis es einem von ihnen reichte.

Andrejew Gregori Anaschenko.

Er stand in der Parade, zog seinen versteckten Armeerevolver hervor und zielte auf dich, traf aber Mutter. Der Lauf war verzogen und so tötete er die Sonne Russlands, wie Mama vom Volk genannt wurde. Du hast überlebt. Dafür hasse ich dich.

Doch nun, Jahre später, bist auch du tot und ich allein.

Mischa legte den Kopf in den Nacken und vergaß beinahe zu atmen. Er hatte ein Leben, er hatte eine Vergangenheit. Er war nicht nur irgendein Junge in einem leeren Labyrinth voller Wände mit Zahlen.

Ich war dabei. Bin mit einer Limousine hinter dir und dem Verteidigungsminister hergefahren. Ihr habt im Auto eine Besprechung zur Lage abgehalten. Auf einer Straße zum Flughafen haben sie uns gestoppt.

Ein quer gestellter Lieferwagen blockierte unser Weiterkommen und zwei schwarze Kleinbusse mit getönten Scheiben schoben sich hinter uns.

Männer sprangen heraus, eröffneten sofort das Feuer. Handgranaten wurden geworfen. Dann kam der Tschetschene auf mich zu. Ein Lächeln im Gesicht, eine Granate in der Hand. Danach nichts mehr. Bin ich an diesem Tag gestorben? Ist das hier das Jenseits?

Mischa schüttelte heftig den Kopf, was ihm sofort neue Schmerzen einbrachte. Das konnte nicht sein. Er war nicht tot. Wäre er tot, hätte er keinen Körper mehr und folglich auch keine Schmerzen. Nein, nein, nein, das hier war etwas ganz anderes. Er hatte überlebt. Doch wie lange noch?

Vielleicht haben mich die Attentäter entführt und unter Drogen gesetzt?

Nein, das erklärte nicht, woher Jeb, Jenna und die anderen kamen. Mischa war sich inzwischen sicher, die Jugendlichen niemals zuvor gesehen zu haben. Die anderen waren keine Russen und wie Diplomatenkinder sahen sie auch nicht aus. León schon gar nicht.

Bei dem Gedanken an den tätowierten Jungen spuckte er wütend auf den Boden. León schien der Hölle selbst zu entstammen. Nicht einmal richtig lesen konnte er. An Jeb würde er sich erinnern, wenn er ihm schon mal begegnet wäre. Das Gleiche galt für Kathy. Bei den anderen Jugendlichen konnte er es nicht beschwören, war sich aber relativ sicher.

Ich habe überlebt, bin aber an einem Ort, der nicht meinem bisherigen Leben entstammt. Nur die Mathematik ist Teil meiner Vergangenheit und jetzt bin ich in einem Labyrinth gefangen. Das Labyrinth. So hatte es Jeb vorgelesen.

Auf der Wand war inzwischen ein Bild erschienen, das seinen Vater in jungen Jahren zeigte. In tadellos sitzender Uniform hatte er die flache Hand zum militärischen Gruß an die Stirn gelegt. Orden prangten auf seiner Brust. Dann erlosch das Bild und machte Platz für den Countdown.

11:26
11:25
11:24

Die Zeit lief ihm davon. Mischa drehte sich um seine eigene Achse. Wo waren die Zahlen? Sie waren verschwunden.

Und dann erklang ein Alarmton.

Mischa fluchte. Inzwischen wusste er, was das bedeutete. Gleich würden die Wände herunterfahren. Dann musste er wieder mit León rechnen. Er müsste mit allem rechnen.

Ich werde es ihm so schwer wie möglich machen.