Die Dämmerung war längst hereingebrochen, als Mary und León an die Wohnzimmertür am anderen Ende des Flurs klopften und eintraten. Sie fanden Jeb und Jenna, beide saßen auf dem verschlissenen Sofa und blickten auf, als sie das Zimmer betraten. León konnte nicht erkennen, ob sie geschlafen hatten, denn beide waren komplett angezogen, sie trugen T-Shirts, die León noch nicht kannte, und hatten sogar die Stiefel schon an.
Noch immer schmeckte er den letzten Kuss auf seinen Lippen. Die letzten Stunden waren unglaublich gewesen. Marys Gefühle für ihn waren echt und auch er durfte zum ersten Mal so etwas wie Liebe empfinden. Aber etwas hatte sich am Schluss zwischen ihnen verändert. Wer weiß, wie viele Stunden wie diese ihnen noch geschenkt werden würden. León nahm Marys Hand und drückte sie sanft. Ihm wurde schwer zumute, wenn er daran dachte, dass ihre Zeit begrenzt war, dass es wahrscheinlich keine Zukunft für sie gab.
»Alles klar?«, fragte Jeb und sah ihn eindringlich an. León war es gewohnt, seine Gefühle nicht zu zeigen. Das würde nur zu Fragen führen und dann zu neuen Problemen, also zwang er sich zu einem Grinsen.
»Uns geht es gut«, antwortete er.
»Ja«, bestätigte Mary tapfer. Er hatte vorhin bemerkt, dass sie mit den Tränen kämpfte. León spürte Jennas Blick über sich und Mary gleiten und für einen Moment entstand eine unbehagliche Stille. Keiner wusste, wie es jetzt mit ihnen weitergehen sollte.
»Wie spät ist es?«, fragte León in die Stille hinein.
Jeb deutete mit einem Nicken zu einer alten Wanduhr, die einer Sonne nachempfunden an der Wand hing und leise tickte.
»Gleich Mitternacht.« Jeb seufzte. »Wir sollten los.«
»Seid ihr bereit?«, fragte Jenna.
»Ja«, sagten Mary und er fast wie aus einem Mund.
Jenna erhob sich. Sie fasste nach einem Stoffbeutel. »Ach ja, Carmelita war zwischendurch bei uns und hat uns Proviant gegeben. Brot und Schinken und eine Flasche Wasser für jeden. Und: neue Klamotten. Sie hat ein paar Sachen rausgesucht, für jeden ein T-Shirt. Ich glaube, sie ahnt etwas, spürt, dass etwas mit uns nicht stimmt, aber sie hat nicht nachgefragt, sondern uns Gottes Segen auf unserem Weg gewünscht.«
»Wie geht es Fernando?«, fragte Mary.
»Anscheinend gut, er schläft immer noch.«
»Können wir uns noch von Carmelita verabschieden?«
Jenna schüttelte den Kopf. »Sie hat sich zurückgezogen. Ich glaube, sie möchte nur so viel wie nötig von uns wissen. Kein Wunder.« Sie lächelte verhalten.
Niemand antwortete etwas darauf, stattdessen zog sich Mary das blassblaue T-Shirt, das Jenna ihr gegeben hatte, an und band sich ihr Flanellhemd um die Hüfte, wie Jeb und Jenna es getan hatten. León streifte sich ebenfalls das schwarze, ausgewaschene T-Shirt über. Es hatte einen Kragen und war etwas eng, aber León war froh, endlich etwas Leichteres tragen zu können.
Jenna warf sich den Beutel über die Schulter und verließ als Erste das Wohnzimmer. Die anderen folgten ihr.
Als sie vorsichtig vor das Haus traten, sahen sie, dass der Himmel brannte.
Über der Stadt lag dichter schwarzer Rauch. Wohin sie auch sahen, flackerten Flammen auf. Die ganze Stadt schien zu brennen. Orangefarbene Feuerzungen leckten nach dem Himmel, während sie am Boden Häuser und Autos fraßen.
Die Luft schmeckte nach Metall und Gummi. Jenna schob ihren Jackenärmel vor den Mund, als der beißende Geruch ihre Lunge erreichte und sie keuchen ließ. Es war merkwürdig still hier draußen. Nur ein Murmeln lag in der Luft und das trockene Knistern des Feuers. Da die Rollläden im Haus unten gewesen waren, hatten sie nichts davon mitbekommen, was sich auf der Straße abspielte.
Offensichtlich war die Nacht die Zeit der Gangs, die aus ihren Verstecken herauskamen, um die Stadt zu terrorisieren.
Wieso muss es immer nur schlimmer werden?, dachte Jenna, während sie die Straße entlangblickte und sah, wie sich das Feuer durch das Viertel fraß.
Neben ihr keuchte Mary. »Scheiße.«
León schwieg und Jeb hatte die Stirn in Falten gelegt. Die Gesichter ihrer Freunde glänzten im Flammenschein.
Jenna blickte zum Himmel. Sie musste sich im Kreis drehen und es dauerte eine ganze Weile, bis der Qualm ein Stück vom Himmel freigab, auch wenn es nur für einen Wimpernschlag war.
Und dann sah sie ihn und deutete aufgeregt nach oben.
Den Stern.
Weit entfernt. Dort, wo noch mehr Feuer wüteten.
»Sieht aus, als müssten wir durch die halbe Stadt hindurch«, sagte Jeb.
»Ich glaube nicht, dass das unser Problem ist«, meinte Jenna. »Es scheint, als würden die Tore außerhalb dieses Viertels liegen. So, wie es aussieht, müssen wir erst mal einen Weg finden, durch die Blockade zu kommen.«
»Und wenn wir hingehen und mit den Polizisten an den Straßensperren reden?«, meinte Mary.
»Nein, das geht auf keinen Fall. Wir werden gesucht, schon vergessen? Und selbst, wenn sie keinen Haftbefehl gegen uns hätte, gibt es ja offenbar genug Menschen, die aus dem Viertel herauswollen, und wie wir an Fernando gesehen haben, zögern die Männer nicht, auf Unbewaffnete zu schießen, selbst wenn sie keine Bedrohung darstellen.« León schüttelte vehement den Kopf, als er das sagte. Er wirkte weniger überrascht von der neuen Situation, die sich hier draußen ergeben hatte, als vielmehr entschlossen, hier herauszukommen.
»Okay«, warf Jenna ein. »Wir versuchen es erst mal durch das Chaos und das wird schlimm genug. Wie es später weitergeht, werden wir sehen.«
»Wollt ihr den direkten Weg nehmen?«, fragte León.
»Ich denke, ja«, sagte Jeb.
Jenna blickte die Straße entlang. Hier und da sah man Schatten, die zwischen den Häusern flitzten. Es war nicht zu erkennen, ob es Menschen waren, die versuchten, ihr Hab und Gut vor den Flammen zu retten, oder Gangmitglieder, die neue Feuer legten.
Sie hielten sich im Schutz der Gebäude, vermieden die offene Straße. Dadurch kamen sie nur langsam voran, aber bald hatten sie sich im Gewirr der flammenden Gassen und engen dunklen Straßen verloren. Auch so schon war es eine heiße Nacht, aber die brennenden Gebäude heizten die Luft zusätzlich auf. Jeb spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunterlief, das frische olivfarbene T-Shirt feucht werden ließ und über das Gesicht rann.
Als er die anderen im Licht der Feuer betrachtete, erkannte er, dass es Mary, Jenna und León ähnlich erging. Der Gestank nach verbranntem Plastik war inzwischen unerträglich und der schwarze Qualm der Feuer brannte in seiner Lunge.
Niemand war mehr auf der Straße zu sehen. Die umherhuschenden Schatten waren verschwunden, aber es lag ein Geräusch in der Luft, so als flüsterten unzählige Menschen gleichzeitig. Je näher sie kamen, desto lauter wurde es und schließlich konnten sie sogar einzelne Stimmen wahrnehmen.
Als die Hauptstraße auf eine große Kreuzung traf, öffnete sich links von den Häusern ein weitläufiger Park vor ihnen. Und hier waren sie. Menschen über Menschen verteilten sich auf den ehemals grünen Grasflächen, die jetzt niedergetrampelt waren. Hohe Bäume säumten die Kieswege des Parks, aber durch die Hitze der umliegenden, in Flammen stehenden Gebäude hatten sie ihre Blätter verloren.
Der Lärm war nun ohrenbetäubend. Menschen hoben an Holzstöcken geklebte Plakate in die Luft und brüllten ihren Zorn gegen die Regierung hinaus.
Die Menschen seien hungrig und durstig, stand auf den Schildern. Auf den Straßen herrsche die Gewalt und die Behörden hätten sie im Stich gelassen – davon erzählten die Plakate und die Rufe der Viertelbewohner, auch wenn Jeb nur wenig von dem chaotischen Geschrei ausmachen konnte. Aber er erkannte, hier schrien Menschen ihren Zorn zum Himmel, die keine Hoffnung mehr hatten. Aber Jeb wusste nicht, ob ihnen jemand zuhörte.
»Was machen wir jetzt?«, fragte León neben ihm. Alle vier standen wie angewurzelt da und starrten auf das Chaos vor ihnen.
»Da kommen wir nicht durch. Die Menge würde uns zertrampeln, wir müssen den Park umgehen.«
»Was meinst du, uns droht Gefahr?«
Jeb zuckte die Schultern. »Im Augenblick nicht. Die Leute sind viel zu viel mit sich selbst beschäftigt, aber du solltest dir das Hemd überziehen und deinen Kopf gesenkt halten, damit dir niemand ins Gesicht sehen kann.«
»Welche Richtung sollen wir nehmen?«, fragte Jenna. »Nach links dem Weg folgen oder rechts die Hauptstraße nehmen?«
»Wir gehen den Weg weiter.« León deutete in Richtung der Hauptstraße, die sich nun ebenfalls mit Menschen füllte. Wie Gespenster tauchten sie aus der Dunkelheit auf und schlossen sich der nächtlichen Demonstration an. Im Lichtschein der Feuer schätzte Jeb die Anzahl der Protestierenden auf Tausende und immer mehr strömten in den Park.
Plötzlich lag ein merkwürdiges Surren in der Luft. Die Menschen um sie herum wurden still. Niemand bewegte sich mehr, alle schwiegen und lauschten. Die feinen Härchen an Jebs Armen richteten sich auf und sein Nacken kribbelte. Das war keine natürliche Ruhe. Es war die Abwesenheit aller Geräusche, bevor ein Sturm losbrach. Plötzlich zersprang die Stille in ein Flappen, das er bis in den Bauch spüren konnte und das rasend schnell näher kam. Die Luft schien sich zu verdichten. Jebs Ohren schmerzten und er presste beide Hände darauf. Jenna neben ihm ebenso.
»Was ist das?«, schrie sie gegen den Krach an.
»Ich glaube, ein Hubschrauber.« Er blickte nach oben, wo nun ein Schatten in der Luft stand und den Himmel zerpflügte. Suchscheinwerfer tanzten über die Köpfe der Menge, sorgten für Unruhe. Die Masse wankte hin und her.
Eine dröhnende Metallstimme erwachte zum Leben. Unnatürlich laut drang sie zu ihnen herab, ließ die Erde erzittern.
»Hier spricht die Polizei. Gehen Sie in ihre Häuser. Verschließen Sie Fenster und Türen. Verhalten Sie sich ruhig. Oberbürgermeister Mendez hat den Notstand ausgerufen. Bis auf Weiteres gelten Sonderregelungen. Es herrscht Ausgangssperre. Dies ist die letzte Warnung.«
Als die Durchsage endete, stieg der Hubschrauber weiter auf. Anscheinend wollte der Pilot sich einen besseren Überblick verschaffen, aber dann erklangen Schüsse, die klackernde Geräusche auf der metallenen Außenhaut hervorriefen. Der Helikopter drehte sofort ab und verschwand in der Nachtschwärze des Himmels.
Weitere Schüsse fielen. Irgendjemand kreischte auf. Die ersten Menschen drängten vom Platz. Dann noch mehr Schüsse. Noch mehr Schreie. Die Menge geriet in Panik und niemand wusste, von welcher Seite eigentlich Gefahr drohte.
Die Menschen versuchten, sich zu retten, aber nirgends war freier Raum, alle Wege durch die Menschenmassen versperrt. Schmerzensschreie lagen in der Luft, heizten die Situation unter den Protestierenden noch an, schürten Panik und Angst.
»Wir müssen hier weg«, brüllte León gegen den Lärm an. »Los jetzt, in diesem Getümmel fallen wir nicht weiter auf. Niemand wird sich um uns kümmern.« Mal wieder rannten sie um ihr Leben, weg von der Menge, dem Chaos, auf dem schnellsten Weg, den ihnen der Stern wies.
Und dann sahen sie es. Wie eine schwarze, sich bewegende Welle kam die Menschenmasse auf sie zugerannt, alle versuchten gleichzeitig, aus dem Park zu fliehen. Die Leute waren in Panik, trampelten sich gegenseitig nieder und stießen einander beiseite. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, die Menge kopflos geworden. Über allem lagen das Gebrüll der fassungslosen Angst und die Schreie der Verletzten.
León zog Mary mit sich und er sah, dass auch Jenna Jeb am Arm packte. Gemeinsam jagten sie auf das nächste Gebäude zu, das nicht in Flammen stand.
Dann erklangen plötzlich Schüsse in unmittelbarer Nähe. Reifen quietschten. Während die Menschen im Park versuchten, ihr Leben zu retten, rasten offene Autos mit Gangmitgliedern auf den Platz heran und schossen in die Menge.
León erkannte sofort die Situation. Nicht weit von ihnen entfernt jagte ein Wagen vorbei und er blickte auf tätowierte Gesichter, die wie scheußliche Masken wirkten. Diese Gesichter waren komplett tätowiert und ihre Bilder ähnelten den Bildern auf seinem Gesicht und Körper. Die Männer in den Autos feuerten ohne Unterlass und es dauerte einen Moment, bis León begriff, dass sie es nicht willkürlich taten, sondern gezielt auf junge Männer einer anderen Gang schossen, die sich zwischen den Fliehenden befanden.
Die Jungs in der Menge, es sind die gleichen Typen wie heute Nachmittag, als ich das Haus verlassen habe. Ihre Schädel sind nur auf einer Seite tätowiert.
Hier fand ein Krieg statt und eine Gang versuchte, die Massendemonstration zu nutzen, um alte Rechnungen zu begleichen. Die Angreifer – ihre Tattoos … wieder einmal drängten sich Bilder in Leóns Erinnerung hoch, aber dafür war jetzt keine Zeit, sie mussten hier so schnell wie möglich weg.
Die angreifende Gang kannte kein Erbarmen. Ihre Fahrzeuge schlugen rücksichtslos Gassen in die Menge. Wo Menschen nicht rasch genug ausweichen konnten, wurden sie von den Autos gerammt.
León blickte zu Mary, die sich verkrampft an seinem Arm festhielt. Jeb schien immer noch etwas wacklig auf den Beinen zu sein, denn er wankte hin und her. Jenna hatte die Lippen zusammengepresst.
»Wir müssen sofort von hier verschwinden«, brüllte León gegen den Lärm an. Er deutete die Straße hinunter. »Folgt mir einfach.«
Er packte Marys Hand und zog sie mit sich. Jenna folgte mit Jeb. So schnell es ging, rannten sie am Häuserblock entlang. Um sie herum waren unzählige Menschen. Die Gesichter in Panik verzerrt, mit aufgerissenen Augen und Mündern versuchten sie ebenfalls zu fliehen. Doch der Feind war hinter ihnen. Reifen quietschten auf und weitere Schüsse fielen. León schrie die anderen an, nicht nachzulassen, weiterzulaufen.
Durch immer neue Seitengassen versuchten sie, dem nächtlichen Aufruhr zu entkommen, die Richtung war egal. Hauptsache sie wurden nicht in einen Kampf hineingezogen, der nicht ihrer war und den sie nicht verstanden.
Neben sich hörte er Mary keuchen und er ahnte, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Jeb schien es sogar noch schlechter zu gehen. Als León nach ihm schaute, musste er feststellen, dass Jeb nur noch taumelte und ohne Jennas Hilfe wahrscheinlich längst zu Boden gefallen wäre.
Sie brauchten ein Versteck. Jetzt! Und dann sah er es.
Das Haus, auf das sie zuhielten, schien verlassen zu sein. Die Fenster waren ohne Glas, der Eingang war notdürftig mit Brettern vernagelt. León warf sich mit voller Wucht dagegen. Das Holz gab sofort nach und Bruchstücke wurden gegen die Wand geschleudert. Er hatte so viel Schwung, dass er nicht mehr abbremsen konnte, über etwas auf dem Boden stolperte und der Länge nach hinschlug. Er rutschte ein Stück über den nackten Steinboden, dann krachte er gegen die gegenüberliegende Wand. Die anderen waren alle bereits im Haus, bis er wieder auf den Beinen stand. Er sah sich rasch um. Vor ihm lag ein leerer Flur im Halbdunkel. Nur wenig Mondlicht fiel von draußen herein, aber es genügte, um sich zu orientieren. Er gab den anderen ein Zeichen und sie betraten eine verlassene Wohnung, deren Tür offen stand.
León schlug die Tür zu und sah sich rasch um. Sein Blick raste zu den offenen Fenstern. Draußen tobten die Menschen an den Fenstern vorbei. Schüsse hallten durch die Straße, Männer und Frauen kreischten und heulten.
»Die Rollläden«, rief er Jenna und Mary zu. Beide reagierten sofort und ließen die Jalousien herunter. Es wurde dunkel im Zimmer, nur noch wenig Licht drang durch die Schlitze. Erneut standen sie in einem abgeriegelten Haus und konnten sich nicht frei bewegen. Unterdessen lief die Zeit ab und sie waren dem Stern noch nicht einmal ansatzweise näher gekommen. León schaute das kleine Häufchen an, zu dem sie geschrumpft waren, und ihnen allen stand die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.
Als sie sich wieder ein wenig gesammelt hatten, riskierte León, die Rollläden ein wenig hochzuziehen und aus dem Fenster zu schauen.
Noch immer jagten Gangfahrzeuge durch die Straßen und unermüdliches Gewehrfeuer war zu hören. Immerhin liefen nicht mehr solche Menschenmassen durch die Gegend und auch schien dieser Straßenzug von dem Flammenmeer verschont geblieben zu sein. Dafür lagen nun reglose Körper derjenigen, die erschossen oder niedergetrampelt worden waren, auf dem Boden. León zählte mindestens zwanzig Leichen in ihrer unmittelbaren Umgebung, dann gab er es auf. In seinem Rücken raschelte es. Mary erhob sich vom Boden und kam zu ihm ans Fenster. Er winkte ihr, sich zu ducken und sich langsam zu bewegen.
Mary spähte auf die Straße, dann seufzte sie. »Da können wir nicht raus.«
»Nein.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Jeb aus dem Hintergrund.
León sah ihn an. »Wie geht es dir?«
»Noch etwas schwach, aber du kannst auf mich zählen.«
»Okay«, sagte León. »Wir sollten wieder aus dem Zimmer raus, weiter nach oben gehen.«
»Warum?«, wollte Jenna wissen. »Hier sind wir sicher. Hier können wir warten, bis es etwas ruhiger auf der Straße wird.«
»Nein, können wir nicht«, erwiderte León. »Die Fenster haben keine Scheiben und es ist kein Problem, die Jalousien zu zerschlagen oder hochzuschieben. Hier unten sind wir vor einem Angriff nicht sicher und damit müssen wir rechnen. Die Gang, die das Feuer auf die Menschen eröffnet hat, stammt aus einem anderen Viertel, das genau neben diesem liegt. Im Süden, wenn ich mich richtig erinnere. Ich ahne, was hier los ist. Das Barrio hier wird von der Gang Muerte Negra, dem schwarzen Tod, regiert. Die Angreifer hingegen nennen sich Hijos, Söhne.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Jeb und sah León misstrauisch an.
»Als die Schüsse fielen, war vieles wieder da. Die Gesichter, die Tätowierungen und ihre Bedeutung, wer zu wem gehört und wer auf wen schießt.«
»Was lässt dich so sicher sein?«
León schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Es ist mein Zuhause. Ich bin ein Hijo.«
Stille breitete sich aus, ließ den Raum noch düsterer wirken.
»Aber du hast gesagt, dir komme alles bekannt vor, aber trotzdem sei es dir fremd«, wandte Mary ein.
»Das stimmt auch irgendwie. Mir ist alles hier vertraut und dennoch … etwas stimmt nicht und ich habe noch keine Ahnung, was es ist, aber ich werde es schon noch herausfinden. Später. Jetzt müssen wir uns erst mal in Sicherheit bringen.«
Er nahm Marys Hand, winkte den anderen beiden zu, dann wandte er sich wortlos um und verließ die Wohnung.
»Wir brauchen Licht«, sagte Jenna, als sie vor der Treppe standen.
»Nein, bloß nicht«, erwiderte León. »Wenn wir eine Fackel anzünden, würde uns das nur verraten. Wir steigen im Dunklen hoch.«
Er ging als Erster, die anderen folgten ihm leise. Im dritten Stock, dem letzten vor dem Dach, fanden sie eine weitere offen stehende Wohnung, die ebenso verlassen war wie der Rest des Hauses. Offensichtlich hatten die Bewohner ihr Zuhause in Panik verlassen, denn alle Möbel standen noch darin, auch wenn totales Chaos herrschte. Stühle waren umgeworfen, Schubladen durchsucht und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, jedes Bild an den Wänden zu zerschlitzen. In der Küche und in den Kinderzimmern sah es ähnlich aus. Blanke Zerstörungswut hatte hier alles vernichtet, was nicht gestohlen worden war. Aber sie fanden keine Leichen und das war gut. León hatte schon das Schlimmste befürchtet, als sie die Kinderzimmer entdeckt hatten, aber offensichtlich war es den ehemaligen Bewohner gelungen, rechtzeitig zu fliehen.
Als sie alle Zimmer durchsucht hatten und wussten, dass sie allein und für den Moment sicher waren, wagten sie es, zum Fenster hinauszuschauen.
Der Anblick war ähnlich frustrierend wie aus dem Erdgeschoss, nur dass sie nun das ganze Ausmaß der Katastrophe erkennen konnten.
Am Ende des Parks zuckten noch immer helle Flammen zum Himmel. Büsche und Gras waren niedergetrampelt. Überall lagen zerfetzte Plakate herum, ihre Papierschnipsel wirkten wie frisch gefallener Schnee. Der Park wirkte inzwischen wie ausgestorben. Leóns Blick wanderte zum Nachthimmel. Fast höhnisch stand dort der funkelnde Stern, der ihnen den Weg weisen sollte. Einen Weg mitten durch die Hölle.
»Wir warten besser noch ein wenig«, sagte Jeb neben ihm. Er ging zu Jenna hinüber, fasste sie an der Hand. Gemeinsam setzten sie sich in eine Ecke und redeten leise miteinander. Mary stand stumm neben ihm. Ihre Hand lag in seiner und er wünschte, ihre Nähe wäre ein Trost. Aber die Bilder der Vergangenheit waren mächtig.
Die Knarre in meiner Hand. Um mich herum tiefste Nacht, aber keine Stille und es gibt auch keine Dunkelheit. Im fahlen Licht einer Straßenlaterne überprüfen wir unsere Waffen. Wir müssen vorbereitet sein. Nichts darf schiefgehen.
Nesto erklärt den Plan. Wir sollen ein paar feindliche Drogendealer ausschalten. Sie haben ihr Hauptquartier im Erdgeschoss eines leer stehenden Hauses eingerichtet. Das Gebäude steht abseits der Straße, ein Maschendrahtzaun zieht sich um das Anwesen und sie haben Hunde, die frei herumlaufen. Dobermänner, die alles zerfetzen, was sich zu nahe an das Haus wagt.
Aber das kümmert uns nicht. Wir werden mit dem Auto den Zaun durchbrechen, die Scheißköter einfach über den Haufen fahren, den Eingang rammen und auf alles ballern, was sich bewegt.
Diese verdammten Arschlöcher glauben, sie können einfach hierherkommen und uns das Revier streitig machen. Sie verticken ihr kolumbianisches Kokain zum Sonderpreis, um den Markt anzuheizen, aber damit ist jetzt Schluss. Heute noch. In dieser Nacht. Wir werden sie alle umlegen, uns das Koks greifen und den ganzen Laden in die Luft jagen.
Es ist weit mehr als eine Strafe. Es ist eine Warnung an alle anderen, die glauben, wir wären zu schwach, um unser Gebiet zu verteidigen.
Wir sind zu viert. Nesto, Pedro, Loco der Verrückte und ich. Zwei von uns haben Maschinenpistolen, ich und Loco Pistolen. Niemand würde dem Verrückten eine automatische Waffe in die Hand drücken, die Gefahr wäre zu groß, dass er einen von uns oder sich selbst erschießt, wenn das Gefecht losgeht. Loco ist ein Wahnsinniger, der bei Anspannung durchdreht und keine Grenzen mehr kennt. Der nur noch brüllt und ballert, aber es ist ein gutes Gefühl, ihn dabeizuhaben, denn seine Furchtlosigkeit wird uns vorantreiben.
Die anderen sind für mich hermanos, Brüder, die ich niemals hatte. Sie sind meine Familie, haben mich beschützt, nachdem mein Vater durch eine Kugel von der Straße gefegt wurde. Ich liebe sie alle.
Trotzdem wäre ich heute lieber nicht dabei. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Irgendetwas stimmt nicht. Es ist zu einfach.
Keine Wachen? Nur Hunde?
Wahrscheinlich bunkern die da drin Koks im Wert von Millionen und es soll so einfach sein, es ihnen abzunehmen?
Pedro war dort, hat die Lage ausgekundschaftet, mehrere Nächte hintereinander. Er sagt, die Typen fühlen sich sicher, weil das Haus nicht in unserem Gebiet liegt, so recht daran glauben kann ich nicht, aber ich sage nichts, will nicht dastehen wie ein Feigling. Wir werden das Ding durchziehen.
Heute Nacht.
»Was ist mit dir?«, flüsterte Mary neben seinem Ohr. »Denkst du an früher?«
»Ja«, sagte er nur.
»Erzähl mir davon.«
»Mary …«, setzte er an, aber da sprang Jenna auf, hob warnend die Hand und zischte: »Ich höre etwas!«
Sofort schwiegen sie und lauschten. Tatsächlich erklangen von unten, aus dem Treppenhaus, Geräusche. Stimmen. Ein Poltern, als die Tür der ersten Wohnung aufgetreten wurde.
»Der verdammte Hijo muss hier irgendwo sein«, fluchte eine dunkle Stimme. Dann brüllte er: »Komm raus, wir finden dich sowieso, also mach es dir und uns nicht so schwer.«
Dröhnendes Lachen waberte den Worten hinterher. Irgendjemand kicherte, dann sagte die erste Stimme wütend: »Und du bist sicher, dass dieser cabrón hier reingelaufen ist?«
»Si, hombre, war nicht zu übersehen. Das Arschloch ist die Straße runtergerannt und im Haus verschwunden. Er muss hier sein. Die Ratte versteckt sich, aber sobald er aus seinem Loch kommt, ist er dran.«
Die Stimme des zweiten Typen wurde nun lauter, als sie in den Hausgang brüllte. »Hörst du mich, hijito? Wir kriegen dich. Hier gibt es nur einen Weg raus und der führt direkt in unsere Arme.«
»Verdammt, die suchen jemand!«, zischte Jenna leise. »Was machen wir jetzt?«
Niemand wusste eine Antwort.
Das Poltern wurde wieder lauter, als die zwei Männer nacheinander die Wohnungen im Erdgeschoss absuchten.
»Die kommen hier hoch. Früher oder später finden sie uns, auch wenn sie jemand ganz anderes kaltmachen wollen. Wir sind Fremde und die haben Waffen. Wir müssen uns etwas überlegen. León? Schnell!«
León sah sich um. Es gab mehrere Räume in dieser Wohnung und es befanden sich noch weitere auf der Etage, aber das alles half ihnen nicht weiter.
»Wir könnten es übers Dach versuchen«, schlug er vor. »Vielleicht kommen sie da nicht hin.«
»Nein.« Jeb schüttelte heftig den Kopf. »Da oben sehen sie uns sofort und knallen uns wie die Krähen ab.«
»Was dann?«, fragte Jenna.
»Waffen. Wir brauchen Waffen.«
Sie blickten sich um. Doch die Erinnerung an die Wohnung, die sie im Erdgeschoss gesehen hatten, war ein deutliches Zeichen, dass auch hier nichts zu finden war. Sie konnten versuchen, ein Stuhlbein herauszureißen, aber was sollten sie mit einem Stuhlbein gegen automatische Waffen anrichten?
León spürte, wie ihnen die Zeit davonlief. Die Eindringlinge stiegen auf der Treppe bereits in den ersten Stock hoch, um dort ihre Suche fortzusetzen.
»Wir müssen uns verstecken oder hier raus«, sagte León leise.
Plötzlich stieß Jenna hörbar die Luft aus. »Die Feuerleiter«, sagte sie eindringlich.
»Was für eine Feuerleiter?«, wollte León wissen.
»Die Häuser in dieser Gegend haben Feuerleitern. Ich habe sie gesehen, als wir in der Seitenstraße angekommen sind. Vielleicht gibt es hier ja auch eine.«
»Du meinst, wir sollen außen runterklettern, während sie noch mit den Stockwerken unter uns beschäftigt sind?«, fragte Jeb.
»Gefährlich. Sie könnten uns sehen, wenn wir versuchen, an ihnen vorbeizuschleichen.«
»Hast du einen anderen Vorschlag?«
»Okay, versuchen wir es.«
Aber sie fanden keine Feuerleitern, Jenna war leise zum Flur hinausgeschlichen – auch an den Fenstern des Treppenhauses waren keine Stufen befestigt. Mary und León suchten das Innere der Wohnung ab, in der Hoffnung, einen Ausstieg aus einem der Fenster zu entdecken. Aber da war nichts. León fluchte vor sich hin. Bei dem Gedanken, wie Ratten in der Falle zu sitzen, erfüllte ihn ohnmächtige Wut, aber dann blickte er zu Mary, die ihn verzweifelt anschaute, und sein Zorn verflog. Zwei Schritte, dann war er bei ihr, nahm sie in die Arme und küsste ihre Stirn. León spürte, wie sie kurz vor ihm zurückzuckte, doch dann ließ sie sich von ihm beruhigen.
»Es wird alles gut«, flüsterte er in ihr Ohr.
Jeb und Jenna kamen von einer Erkundungstour durch die anderen Räume zurück.
»Vielleicht sind die Feuerleitern auf der anderen Seite des Gebäudes«, meinte Jeb und versuchte so etwas wie Hoffnung zu verbreiten, aber sie alle wussten, dass dem nicht so war. Jede Wohnung musste Zugang zu den Rettungswegen haben, wie sonst sollte man sich im Notfall retten.
León wollte gerade etwas sagen, als die Tür aufschwang und jemand mit schweren Schritten die Wohnung betrat.