Jenna erhob sich, sah die anderen an. Gemeinsam gingen sie hinüber ins Wohnzimmer. Der Raum empfing sie mit stickiger und muffig riechender Luft, so als wäre schon lange nicht mehr gelüftet worden. Durch die zu Schlitzen heruntergelassenen Rollläden fiel Sonnenlicht, das den Staub in der Luft sichtbar machte, wie er langsam zu Boden schwebte.
Ein abgenutztes Sofa stand rechts an der Wand, ihm gegenüber befand sich ein bis zur Decke reichendes Regal, das vor Büchern überquoll. Zwei bequem aussehende Ledersessel gruppierten sich um einen niedrigen Rauchglastisch herum. Nicht weit davon entfernt lehnte eine Kommode an der Wand, ein schnurloses Telefon stand darauf. Jenna hob den Hörer ab und lauschte.
»Es funktioniert. Will jemand von euch?«, fragte sie. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme ein wenig zitterte.
Mary schüttelte den Kopf. León hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt und schien es auch jetzt nicht tun zu wollen. Jebs Antwort galt also ebenso für die anderen: »Nein.«
»Und du?«, fragte Mary. »Kennst du etwa jemand, den du anrufen kannst?«
Jenna schloss die Augen. Sie spürte, wie sich ihre Kiefer zusammenpressten. In ihrem Kopf formten sich Gedanken.
»Meine Mutter«, presste sie schließlich hervor. So konzentriert nachzudenken, bereitete ihr Kopfschmerzen. Innerlich war sie völlig verkrampft. Es war, als müsste sie gegen einen inneren Widerstand denken.
»Du erinnerst dich an sie?«
»Ein wenig. Eigentlich mehr an meine Großmutter.«
»Kennst du ihre Telefonnummer?« Jeb schaute sie aufmunternd an.
»Ich bin nicht sicher. Vielleicht fällt sie mir beim Wählen ein.« Jenna dachte intensiv an Hamburg, dann schaute sie auf das Display und mit einem Mal war die Vorwahl kein Problem mehr. Anschließend wählte sie instinktiv die erste Zahl, die ihr in den Sinn kam. Eine Neun.
Augenblicklich fiel ihr die zweite Nummer ein.
Eins.
Dann kam sie ins Stocken. Wie lautete die nächste Zahl. Ihre Kiefer begannen erneut zu mahlen. Sie spürte, wie ihr Schweiß auf die Stirn trat.
Drei.
Sieben. Bitte, wie geht es weiter? Sag mir dir Zahl.
Sieben.
Acht.
Fünf.
Mehr Zahlen fielen ihr einfach nicht ein. Angestrengt lauschte sie in den Hörer. Es klickte weit entfernt. Sonst nichts. Niemand hob ab. Nicht einmal ein Freizeichen war noch zu vernehmen. Resigniert hielt sie den Telefonhörer in den Raum.
»Es …«
Eine Stimme erklang aus dem Hörer. »Zentrale South West«, meldete sich eine Frauenstimme. Jenna presste schnell das Mobilteil wieder an ihr Ohr.
»Hallo«, sagte Jenna.
»Was kann ich für sie tun?«
»Ich würde gern mit meiner Mutter sprechen.«
»Name und Ort, bitte«, verlangte die Stimme.
Der Nachname! Wie heiße ich mit Familiennamen? Jenna … Jenna … Sommer. Mein Name ist Jenna Sommer. Meine Mutter heißt Claudia.
Fast hätte sie es laut gerufen, aber stattdessen sagte sie: »Claudia Sommer. Hamburg.«
»Hamburg in Michigan?«
Jenna zuckte zusammen. »Nein, nein, Hamburg in Deutschland.«
»Möchten Sie das Gespräch als R-Gespräch anmelden?«
Jenna wusste nicht, was das war, aber die weibliche Stimme klang inzwischen so misstrauisch, dass sie einfach »Ja« sagte. Die Frau durfte nicht auflegen. Es ging um so viel. Um alles. Sie war so dicht davor, mit ihrer Mutter zu sprechen. Alles konnte gut werden. Der Kampf ums Überleben konnte hier und heute ein Ende finden.
Eine Weile blieb es still, dann meldete sich die Stimme wieder. »Ich finde keinen Eintrag für eine Claudia Sommer. In Hamburg ist nur ein Teilnehmer auf diesen Nachnamen angemeldet, eine Frau Hertha Sommer.«
»Das ist meine Oma«, rief Jenna, die sich nun wieder an die elegante grauhaarige Dame erinnerte. Gleichzeitig wunderte sie sich, dass es in Hamburg nur einen Teilnehmer mit diesem Namen geben sollte. »Sommer« war nun wirklich nicht ungewöhnlich. Sie ächzte.
»Miss, geht es Ihnen gut?«
»Ja, ja. Können Sie mich bitte mit ihr verbinden?«
»Da dies ein Überseegespräch ist, dauert es eine Weile und ich muss nachfragen, ob Ihre Großmutter bereit ist, die Kosten für das Gespräch zu übernehmen. Wie war Ihr Name?«
»Jenna. Sommer.«
»Bleiben Sie am Apparat.«
Jenna bedeckte die Sprechmuschel mit einer Hand. Überglücklich sah sie die anderen an.
»Was ist? Jetzt sag schon«, verlangte Mary.
»Da ist eine Frau dran, die in einer Zentrale sitzt, sie will mich mit meiner Oma verbinden.« Jenna seufzte. »Die Telefonnummer meiner Mutter hat sie nicht gefunden. Seltsam, aber Hauptsache, ich kann mit jemandem aus meiner Familie sprechen.«
Mary strahlte. Aber als Jenna Jeb ansah, bemerkte sie, wie er nachdenklich die Stirn runzelte.
»Was ist?«, fragte Jenna.
»Dass es so einfach sein soll, macht mich misstrauisch. Nach allem, was wir durchgemacht haben, einfach den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und jemanden anrufen, der einen abholt. Ich denke …«
Er wurde durch die Stimme aus dem Hörer unterbrochen.
»Miss Sommer?«
»Ja?«
»Ihr Gespräch.«
Dann ertönte ein Klacken. Eine Frauenstimme sagte: »Sommer.«
»Oma?«, rief Jenna in den Hörer.
»Wer ist da?«
Irgendwie klang die Stimme ihrer Großmutter merkwürdig. Das Weiche, Sanfte darin war verschwunden. War das überhaupt ihre Oma?
»Ich bin doch bei Sommer«, sagte Jenna. In der Bindung begann es, zu rauschen und zu knacken.
»Ja, richtig, aber wer spricht denn da?«
»Ich bin’s, Jenna.«
»Wer?«
»J-E-N-N-A, deine Enkelin!«
»Sie müssen mich verwechseln. Ich habe keine Enkelin. Wer zum Teufel sind Sie?!«
Was? Was sagte sie da?
Im Hörer knackte es immer heftiger. Es klang, als würde jemand gegen die Sprechmuschel klopfen.
»Ist Mama da?«, brüllte Jenna nun. Sie hatte Angst, die falsche Frau am Apparat zu haben, aber noch größer war die Angst, dass das Gespräch unterbrochen werden konnte. Auch wenn die Stimme ihrer Großmutter anders klang als sonst, Jenna erkannte sie eindeutig wieder und es war alles, was sie hatte. Alles, was zwischen ihr und der totalen Verzweiflung stand.
»Wer sind Sie und was wollen Sie?!«, tönte es genervt zurück.
»Ich will mit meiner Oma sprechen. Hertha Sommer.«
Eine Weile war es still im Hörer. Jenna dachte schon, dass die Verbindung unterbrochen worden war, denn nicht einmal mehr das Klacken und Rauschen war zu hören.
Dann sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Meine Tochter Claudia ist zwei Jahre alt. Ich habe keine Enkelin und bin niemandes Oma. Sie müssen sich in der Nummer irren.«
Es wurde aufgelegt.
»Nein!«, kreischte Jenna auf. »Nein, nein, nein.«
Sie ließ den Hörer aus der Hand fallen. Mit einem Poltern fiel er auf die Kommode.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte Jenna. »Ich verstehe es nicht.«
León und Mary sahen sie verwirrt an. Der einzige Mensch auf dieser Welt, der ihr helfen konnte, hatte gerade aufgelegt. Die Verbindung zu ihrem wahren Leben war abgerissen und sie verstand gar nichts mehr. Ihre Oma war ihre Oma und doch auch wieder nicht. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr glaubte sie an eine Verwechslung. Sicher, die Stimme ihrer Großmutter hatte vertraut geklungen, aber konnte sie sich wirklich sicher sein? Jenna hob den Hörer auf, aus dem es hektisch tutete. Sie wollte gerade erneut wählen, als sich eine Hand auf ihre legte. Jeb.
»Lass gut sein, Jenna. Es funktioniert nicht, es gibt hier keine Verbindung zu unserem echten Leben.« Er hielt etwas in der Hand. Sein Blick war ernst. Sehr ernst.
»Ich glaube, wir haben außerdem gerade ein viel größeres Problem«, sagte er leise.
In seiner Hand lag eine gefaltete Zeitung. Die Los Angeles Times.
Die Überschrift sprang sie förmlich an:
BÜRGERMEISTER VERKÜNDET DEN NOTSTAND!
Sie überflog den Artikel. Alles, was sie da las, war für sie mehr oder weniger unverständlich. Offensichtlich ging es darum, dass der Bürgermeister nach den ständigen Unruhen den Notstand erklärt hatte und Polizei und Militär das Gebiet abgeriegelt hatten, um zu verhindern, dass sich die Unruhen auf andere Stadtteile ausbreiten konnten. Das alles änderte nur wenig an ihrer Situation, aber etwas weiter unten auf der Seite stand ein weiterer Artikel, dem sie erst Beachtung schenkte, nachdem sie sich die vier dazugehörigen Fotos ansah. Die Bilder waren etwas unscharf, so als habe man sie mit einer älteren Kamera gemacht.
Und dennoch konnte man mit etwas Mühe die Personen darauf erkennen.
León, Jeb, Mary und ihr eigenes Gesicht schauten ihr starr von der Zeitung entgegen. Ihr Herz raste, als sie die Bildunterschriften las.
WEGEN VORSÄTZLICHER BRANDSTIFTUNG UND ANSTIFTUNG ZUR UNRUHE GESUCHT!
Jenna sackten die Beine weg.